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Fachbereich Psychologie
Begriffserklärung
Dezentrierung
Dezentrierung ist ein zentraler Begriff in der Entwicklungspsychologie und bezeichnet die Fähigkeit, den eigenen Fokus von der eigenen Perspektive oder einem einzelnen Aspekt eines Problems zu lösen und verschiedene Standpunkte oder Perspektiven in die Analyse einzubeziehen. Dieser kognitive Prozess wird vor allem in der Theorie der kognitiven Entwicklung von Jean Piaget hervorgehoben, die das Konzept der Dezentrierung als wichtigen Schritt im Übergang vom egozentrischen Denken des Kindes zur Fähigkeit, komplexe, vielschichtige Zusammenhänge zu verstehen, beschreibt. Piaget sieht Dezentrierung als eine notwendige Voraussetzung für das Erreichen eines höheren Denkvermögens, insbesondere im konkret-operationalen Stadium, das typischerweise im Alter von etwa sieben bis elf Jahren erreicht wird.
Im frühen Kindesalter neigen Kinder dazu, die Welt aus einer stark ich-bezogenen Perspektive zu betrachten; dies wird als Egozentrismus bezeichnet. Kinder in dieser Phase haben Schwierigkeiten, sich in die Perspektive anderer Menschen zu versetzen oder verschiedene Aspekte eines Problems gleichzeitig zu berücksichtigen. Piaget illustrierte dies durch das „Drei-Berge-Experiment“, bei dem Kinder eine Szene mit mehreren Bergen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten sollten. In diesem Experiment zeigte sich, dass jüngere Kinder nicht in der Lage waren, zu verstehen, was eine andere Person aus einer anderen Perspektive sehen würde, während ältere Kinder, die sich im konkret-operationalen Stadium befanden, zunehmend in der Lage waren, diese Perspektivübernahme zu leisten. Diese Fähigkeit, sich in andere Sichtweisen hineinzuversetzen, stellt einen wesentlichen Fortschritt in der kognitiven Entwicklung dar und zeigt den Prozess der Dezentrierung in der Denkweise des Kindes.
Dezentrierung umfasst jedoch mehr als nur die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme; sie ist auch entscheidend für die Problemlösungsfähigkeit und das analytische Denken. Beispielsweise können Kinder, die dezentrieren können, ein Problem in seinen verschiedenen Facetten betrachten und vermeiden, sich ausschließlich auf einen Aspekt zu fixieren. Dies ermöglicht es ihnen, logische Schlussfolgerungen zu ziehen und komplexere Aufgaben zu bewältigen, wie etwa das Verständnis der Erhaltung von Mengen (Konservierung), bei der Kinder erkennen, dass die Menge einer Substanz gleich bleibt, auch wenn sich ihre äußere Form verändert. Die Fähigkeit zur Dezentrierung trägt daher wesentlich dazu bei, die analytischen Fähigkeiten und das Verständnis von abstrakten Konzepten zu entwickeln, die für die weitere intellektuelle und soziale Entwicklung notwendig sind.
In der klinischen Psychologie und Pädagogik wird das Konzept der Dezentrierung ebenfalls angewendet, um die soziale Kognition und Empathie zu fördern. Menschen, die Schwierigkeiten mit der Dezentrierung haben, tendieren oft dazu, Situationen ausschließlich aus ihrer eigenen Sichtweise zu betrachten, was zu zwischenmenschlichen Missverständnissen führen kann. Eine gezielte Förderung der Dezentrierung, etwa durch Rollenspiele oder Reflexionstechniken, kann helfen, die Fähigkeit zur Perspektivübernahme zu stärken und so die soziale Kompetenz zu verbessern. Zudem spielt Dezentrierung eine Rolle in der Therapie, beispielsweise in der kognitiven Verhaltenstherapie, wo es Patienten hilft, sich von negativen Denkmustern zu distanzieren und alternative Sichtweisen zu entwickeln. Der Prozess der kognitiven Dezentrierung hilft dabei, destruktive Gedanken zu relativieren und eine differenziertere Sicht auf eigene Probleme zu entwickeln.
Zusammenfassend ist Dezentrierung ein essenzieller kognitiver Prozess, der nicht nur für die kindliche Entwicklung von Bedeutung ist, sondern auch für die Fähigkeit des Menschen, sich in soziale und emotionale Kontexte einzufühlen und sich von fixierten Denkmustern zu lösen. Sie fördert die kognitive Flexibilität, die soziale Empathie und die Problemlösungsfähigkeit und bildet so eine wesentliche Grundlage für das menschliche Miteinander und die persönliche Weiterentwicklung.
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