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Fachbereich Psychologie
Begriffserklärung
Moralische Entwicklung
Moralische Entwicklung ist der Prozess, durch den Menschen lernen, ethische und moralische Prinzipien zu verstehen und anzuwenden, um zu entscheiden, was als „richtig“ oder „falsch“ gilt. Dieser Entwicklungsprozess beginnt in der frühen Kindheit und setzt sich durch das gesamte Leben fort. Moralische Entwicklung beeinflusst, wie Menschen Entscheidungen treffen, soziale Normen und Gesetze respektieren und Empathie sowie Verantwortung gegenüber anderen zeigen. Der Prozess ist durch die Kombination von kognitiven, emotionalen und sozialen Faktoren geprägt und stark von der Erziehung, dem sozialen Umfeld und der Kultur beeinflusst, in der eine Person aufwächst.
Einflussreiche Theorien zur moralischen Entwicklung wurden insbesondere von Jean Piaget und Lawrence Kohlberg formuliert. Piaget untersuchte die moralische Entwicklung bei Kindern und unterschied zwei Hauptphasen: die heteronome und die autonome Moral. Kinder im Stadium der heteronomen Moral sind stark auf die Einhaltung externer Regeln und die Autoritätspersonen fokussiert. Sie sehen Regeln als unveränderlich und absolut an, weshalb Verhaltensweisen, die Regeln verletzen, unabhängig von den zugrunde liegenden Absichten als „schlecht“ betrachtet werden. In der autonomen Moral, die im späten Kindesalter auftritt, erkennen Kinder zunehmend, dass Regeln verhandelbar sind und auf gegenseitigem Einverständnis basieren. Sie entwickeln ein Verständnis für Absichten und Umstände und beginnen, ethische Entscheidungen differenzierter zu treffen.
Kohlberg entwickelte Piagets Theorien weiter und entwarf ein Modell der moralischen Entwicklung, das auf sechs Stufen in drei Hauptniveaus aufbaut: das präkonventionelle, das konventionelle und das postkonventionelle Niveau. Im präkonventionellen Niveau (Stufen 1 und 2) orientieren sich Individuen hauptsächlich an der Vermeidung von Strafen und dem Erhalt von Belohnungen. Sie sehen Moral als etwas Äußeres und Befolgbares an, das in erster Linie dem eigenen Wohl dient. Das konventionelle Niveau (Stufen 3 und 4) ist geprägt von der Anerkennung sozialer Normen und der Bedeutung gesellschaftlicher Erwartungen. Menschen auf diesem Niveau handeln moralisch, um als „gut“ wahrgenommen zu werden und weil sie soziale Ordnungen als notwendig erachten. Auf dem postkonventionellen Niveau (Stufen 5 und 6) entwickelt sich das moralische Denken in Richtung universeller ethischer Prinzipien, die über gesellschaftliche Normen hinausgehen können. Menschen auf dieser Ebene legen Wert auf Prinzipien wie Gerechtigkeit und Menschenrechte und treffen moralische Entscheidungen auf Grundlage abstrakter und autonomer ethischer Überzeugungen.
Carol Gilligan kritisierte Kohlbergs Modell für seine Fokussierung auf männliche Probanden und argumentierte, dass es eine eher männlich geprägte Moral widerspiegelt, die auf Prinzipien und Regeln basiert. Sie führte das Konzept der Fürsorgemoral ein, das eine alternative Perspektive bietet, die eher auf Beziehungen und Fürsorge basiert. Gilligan betonte, dass viele Frauen moralische Entscheidungen stärker von Empathie und Mitgefühl für andere abhängig machen, was eine wichtige Ergänzung zu den vorwiegend rationalen und regelorientierten Ansätzen der Moraltheorie darstellt. Ihre Forschung erweiterte das Verständnis der moralischen Entwicklung um eine geschlechtsspezifische und beziehungsorientierte Dimension.
Moderne Ansätze zur moralischen Entwicklung betonen zunehmend den Einfluss von Kultur und Sozialisation. Die Forschung zeigt, dass moralische Werte und Überzeugungen stark kulturell geprägt sind, was zu Unterschieden in der Auffassung von „richtig“ und „falsch“ zwischen verschiedenen Gesellschaften führt. Richard Shweder und andere entwickelten das Konzept der kulturellen Psychologie, das zeigt, wie kulturelle Normen und gesellschaftliche Erwartungen die moralische Entwicklung prägen. Beispielsweise können bestimmte Verhaltensweisen, die in westlichen Kulturen als moralisch akzeptabel angesehen werden, in anderen Kulturen abgelehnt werden und umgekehrt. Die Erziehung und das familiäre Umfeld spielen hierbei eine entscheidende Rolle, da Kinder durch Vorbilder lernen und sich Verhaltensweisen aneignen, die sie als moralisch wahrnehmen.
Zusammengefasst ist die moralische Entwicklung ein komplexer, lebenslanger Prozess, der es Menschen ermöglicht, ethische Urteile zu fällen und ein Verhalten zu entwickeln, das auf Mitgefühl, Respekt und Gerechtigkeit basiert. Sie verdeutlicht, wie eng kognitive und emotionale Prozesse mit sozialen und kulturellen Einflüssen verwoben sind. Das Studium der moralischen Entwicklung hilft Psychologen, Erziehern und Soziologen zu verstehen, wie moralische Werte entstehen und welche Faktoren Menschen dazu motivieren, ethische Verantwortung gegenüber anderen und der Gesellschaft als Ganzes zu übernehmen.
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