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Fachbereich Psychologie
Begriffserklärung
Nativismus
Nativismus ist eine psychologische und philosophische Theorie, die besagt, dass bestimmte Fähigkeiten, Fertigkeiten oder Wissensformen angeboren sind und nicht ausschließlich durch Erfahrung oder Lernen erworben werden. Diese Theorie steht im Gegensatz zum Empirismus, der davon ausgeht, dass Wissen und Fähigkeiten primär durch Erfahrungen und die Umwelt geformt werden. Im Kontext der Psychologie und Kognitionswissenschaft stellt der Nativismus die Annahme auf, dass der menschliche Geist bei der Geburt bereits mit bestimmten kognitiven Strukturen oder „mentalen Anlagen“ ausgestattet ist, die die Grundlage für späteres Wissen und Verhalten bilden.
Die Ursprünge des Nativismus reichen bis in die Philosophie zurück, insbesondere zu Denkern wie Platon und Immanuel Kant. Platon argumentierte in seiner Theorie der „Erinnerung“, dass bestimmte Ideen und Wahrheiten bereits im Geist vorhanden sind und durch den Bildungsprozess lediglich ans Licht gebracht werden. Kant wiederum vertrat die Auffassung, dass bestimmte Erkenntnisformen und Kategorien (wie Raum und Zeit) für die menschliche Erfahrung grundlegend sind und unabhängig von den Sinnen bestehen.
In der modernen Psychologie ist der Nativismus besonders in der Entwicklungspsychologie und Kognitionswissenschaft relevant. Der Linguist Noam Chomsky hat den Nativismus in der Sprachwissenschaft durch seine Theorie der Universalgrammatik entscheidend geprägt. Chomsky argumentierte, dass die Fähigkeit zum Spracherwerb angeboren sei und Menschen mit einem „sprachlichen Organ“ oder einer Universalgrammatik geboren werden, das grundlegende Prinzipien aller Sprachen enthält. Diese angeborene Struktur ermöglicht es Kindern, Sprache zu erwerben, unabhängig davon, welche spezifische Sprache sie in ihrer Umgebung hören. Nach dieser Sichtweise erfordert der Spracherwerb kein detailliertes Lernen der Regeln, sondern das bloße „Ausfüllen“ einer bereits vorhandenen, sprachspezifischen Struktur.
Ein weiteres Beispiel für nativistische Ansätze in der Psychologie findet sich in der Erforschung der Wahrnehmung. Forscher wie Eleanor Gibson und Richard Walk führten in den 1960er Jahren das „Visual Cliff Experiment“ durch, um zu zeigen, dass die Tiefenwahrnehmung möglicherweise angeboren ist. In diesem Experiment wurden Kleinkinder auf eine Glasfläche gesetzt, die einen visuellen Abgrund suggerierte. Bereits sehr junge Kinder zögerten oder weigerten sich, über den vermeintlichen „Abgrund“ zu krabbeln, was nahelegte, dass eine grundsätzliche Form der Tiefenwahrnehmung angeboren sein könnte, da die Kinder keine vorherige Erfahrung mit solchen Situationen hatten.
Ein weiteres Feld, in dem der Nativismus relevant ist, ist das Verständnis für moralische und soziale Fähigkeiten. Die Forscher Paul Bloom und Karen Wynn haben argumentiert, dass grundlegende moralische Prinzipien – wie die Unterscheidung zwischen „gut“ und „schlecht“ – bereits bei sehr jungen Kindern vorhanden sind. Studien zeigen, dass Kleinkinder bereits eine Präferenz für „hilfreiche“ Figuren in Puppenspielen entwickeln und „schädliche“ oder „böswillige“ Figuren ablehnen, was darauf hindeutet, dass ein grundlegendes moralisches Verständnis angeboren sein könnte.
Der Nativismus hat weitreichende Implikationen für das Verständnis von Erziehung, Lernen und Persönlichkeitsentwicklung. Wenn bestimmte kognitive Fähigkeiten und moralische Grundsätze tatsächlich angeboren sind, bedeutet das, dass Erziehung und Lernen diese Strukturen nicht schaffen, sondern eher erweitern und formen. Der Einfluss der Umwelt und kultureller Faktoren ist jedoch weiterhin wichtig, da diese angeborenen Strukturen durch Erfahrungen verfeinert und angepasst werden können.
Kritiker des Nativismus weisen darauf hin, dass viele angeblich angeborene Fähigkeiten auch durch sehr frühe, aber intensive Lernerfahrungen erklärt werden könnten, sodass es schwierig ist, die genaue Grenze zwischen angeborenem Wissen und erworbenen Fähigkeiten zu bestimmen. Dennoch bietet der Nativismus wertvolle Einblicke in die Art und Weise, wie menschliches Wissen strukturiert ist und wie tief verwurzelte, universelle menschliche Eigenschaften möglicherweise das Verhalten beeinflussen. Die Debatte zwischen Nativismus und Empirismus bleibt in der Psychologie und Philosophie ein zentrales Thema und beleuchtet die komplexe Interaktion zwischen biologischen Anlagen und Umwelteinflüssen bei der Entwicklung menschlicher Fähigkeiten und Persönlichkeit.
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