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Fachbereich Psychologie
Begriffserklärung

Psychologie

Vergessen

Vergessen ist ein grundlegendes Phänomen der menschlichen Kognition und beschreibt den Prozess, durch den Informationen oder Erinnerungen im Gedächtnis verloren gehen oder nicht mehr zugänglich sind. In der Psychologie wird das Vergessen als ein normaler Bestandteil des Gedächtnissystems betrachtet, der aus verschiedenen Gründen auftreten kann. Es ist ein dynamischer und oft unvermeidlicher Prozess, der sowohl biologische als auch psychologische Mechanismen umfasst und nicht nur eine passiv entstehende Lücke im Gedächtnis ist, sondern häufig auch aktiv gesteuert oder durch bestimmte Bedingungen begünstigt wird.

Es gibt unterschiedliche Theorien und Erklärungsansätze dafür, warum und wie wir vergessen. Eine der bekanntesten Theorien stammt von Hermann Ebbinghaus, der im 19. Jahrhundert das Konzept der Vergessenskurve entwickelte. Diese Kurve beschreibt, wie Informationen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt gelernt wurden, mit der Zeit verloren gehen. Ebbinghaus zeigte, dass der größte Teil des Vergessens innerhalb der ersten Stunden und Tage nach dem Lernen auftritt, wobei sich der Verlust über die Zeit hinaus langsamer fortsetzt. Diese Theorie geht davon aus, dass vergessene Informationen einfach aus dem Gedächtnis verblassen oder nicht mehr abrufbar sind, weil sie nicht ausreichend im Langzeitgedächtnis verankert wurden.

Ein weiteres wichtiges Konzept im Zusammenhang mit dem Vergessen ist der Begriff der Interferenz. Proaktive Interferenz tritt auf, wenn frühere Erinnerungen das Abrufen neuer Informationen stören. Zum Beispiel könnte das Lernen einer neuen Telefonnummer durch das Gedächtnis der alten Telefonnummer beeinträchtigt werden. Retroaktive Interferenz beschreibt den umgekehrten Effekt, bei dem neue Informationen das Abrufen älterer Erinnerungen beeinträchtigen. Diese Art der Interferenz kann erklären, warum wir manchmal Schwierigkeiten haben, uns an frühere Ereignisse zu erinnern, wenn wir gerade neue Erfahrungen oder Informationen gemacht haben.

Ein weiterer Mechanismus des Vergessens ist der der Löschung von Erinnerungen. Diese Theorie geht davon aus, dass Informationen im Gedächtnis mit der Zeit verschwinden, weil die neuronalen Verbindungen, die diese Erinnerungen stützen, nicht mehr aktiv genutzt werden. Gedächtnisinhalte, die nicht regelmäßig abgerufen oder aktiviert werden, verfallen und werden zunehmend schwerer zugänglich. Dies kann erklären, warum wir uns an Informationen, die wir nur einmal oder vor langer Zeit gelernt haben, nur schwer erinnern können.

In der Kognitionspsychologie wird auch das Konzept der motivierten Vergessens diskutiert, das die Vorstellung umfasst, dass Menschen absichtlich oder unbewusst bestimmte Erinnerungen unterdrücken, weil diese unangenehme oder belastende Emotionen hervorrufen. Dies kann zum Beispiel bei traumatischen Erinnerungen der Fall sein, wie sie in der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) auftreten, wo der betroffene Mensch unbewusst versucht, sich an das traumatische Ereignis nicht zu erinnern, um die damit verbundenen negativen Emotionen zu vermeiden. Diese Form des Vergessens wird als eine Art psychologische Abwehr verstanden, die das Wohlbefinden schützt.

Ein weiteres Beispiel für motiviertes Vergessen ist das selbstgeschützte Vergessen, bei dem eine Person unangenehme oder peinliche Erlebnisse aus ihrer Vergangenheit zu verdrängen versucht, um ihr Selbstbild und ihr Selbstwertgefühl zu wahren. Dabei spielt auch die kognitive Dissonanz eine Rolle: Wenn Menschen mit widersprüchlichen Informationen oder Handlungen konfrontiert werden, neigen sie dazu, Erinnerungen oder Details zu vergessen, die mit ihrer bestehenden Überzeugung oder ihrem Selbstbild im Konflikt stehen.

In Bezug auf das langfristige Gedächtnis ist das Vergessen auch oft eine Funktion des abrufbasierten Zugriffs. Manchmal sind Informationen im Gedächtnis gespeichert, aber der Abrufmechanismus funktioniert nicht richtig, sei es durch zu schwache oder falsche Hinweise, die zur Erinnerung führen. In solchen Fällen ist die Information nicht wirklich vergessen, sondern lediglich nicht zugänglich. Dies wird als das Phänomen des Blockierens oder Abrufhemmung bezeichnet. Ein Beispiel hierfür ist der sogenannte „Name-auf-der-Zippe“-Effekt, bei dem einem der Name einer Person einfällt, aber er einfach nicht abrufbar ist, obwohl man weiß, dass man ihn weiß.

Es gibt auch den Aspekt des adaptiven Vergessens, der davon ausgeht, dass das Vergessen von Informationen eine Funktion des Gedächtnissystems ist, das dazu beiträgt, die relevanten und aktuellen Informationen zu priorisieren und irrelevante oder überflüssige Daten auszublenden. Diese Art des selektiven Vergessens kann dazu beitragen, dass wir uns besser auf wichtige Aufgaben und Entscheidungen konzentrieren können, ohne uns von irrelevanten Details ablenken zu lassen.

In der Neuropsychologie ist das Vergessen eng mit der Funktionsweise des Gehirns und den Prozessen der synaptischen Plastizität verbunden. Gedächtnisprozesse hängen von der Bildung und dem Erhalt von synaptischen Verbindungen zwischen Nervenzellen ab. Wenn diese Verbindungen geschwächt oder nicht mehr genutzt werden, können Informationen "verblasst" oder "vergessen" werden. Ein solches Phänomen lässt sich häufig in verschiedenen neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer beobachten, bei denen das Gehirn zunehmend Schwierigkeiten hat, Informationen zu speichern und abzurufen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Vergessen ein komplexer Prozess ist, der durch verschiedene kognitive, emotionale und biologische Mechanismen beeinflusst wird. Es kann als ein normaler Teil des Gedächtnissystems verstanden werden, der dazu dient, das Gedächtnis zu optimieren und nur relevante oder häufig genutzte Informationen beizubehalten. Gleichzeitig ist Vergessen auch ein adaptiver Prozess, der nicht nur durch das Nachlassen von Erinnerungen, sondern auch durch absichtliche oder unbewusste Mechanismen wie das Verdrängen von Traumata oder unangenehmen Erlebnissen gesteuert wird.

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