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Chronotopos

Literaturwissenschaft & Philosophie

Ein quadratisches Triptychon zeigt drei literarisch-symbolische Räume: einen verwunschenen Märchenwald mit analogen Uhren an den Bäumen, eine moderne Großstadt mit Kalenderblatt und Uhr im Dämmerlicht sowie das Innere eines futuristischen Raumschiffs, durchzogen von Leuchtelementen und einer digitalen Uhr. In jeder Szene ist Zeit visuell verankert – als zentrales Element des Erzählraums und Sinnbild für den Chronotopos.

Chronotopos – klingt nach einem verlorenen Planeten in einem Sci-Fi-Roman, ist aber tatsächlich ein literaturwissenschaftlicher Begriff mit ordentlich Tiefgang. Geprägt wurde er vom russischen Philosophen und Literaturtheoretiker Michail Bachtin, der damit eine zentrale Idee auf den Punkt bringt: In jeder Erzählung hängen Raum und Zeit untrennbar zusammen – und prägen, wie Figuren handeln, wie Geschichten verlaufen und was sie überhaupt bedeuten.


Wörtlich heißt Chronotopos einfach „Zeit-Raum“ (chronos = Zeit, topos = Ort). Doch statt einer nüchternen Koordinate ist damit ein Erzählrahmen gemeint, in dem Zeit und Raum miteinander verwoben sind – ein bisschen wie das Bühnenbild und der Takt eines Theaterstücks, das vorgibt, wie und wann etwas geschehen kann.


Beispiele? Bitte: – Im Märchenwald vergeht Zeit anders – die Figuren irren stundenlang umher, und trotzdem ist „es war einmal“ irgendwie zeitlos. Der Raum ist symbolisch, nicht geografisch – der Chronotopos: mythisch-abgehoben.
– Der Kriminalroman dagegen lebt vom präzisen Raum-Zeit-Gefüge: Tatort, Uhrzeit, Alibi – alles muss stimmen. Hier herrscht ein realistischer Chronotopos, mit klarer Logik.


– In der Science-Fiction wird der Chronotopos selbst zum Spielplatz: Zeitreisen, Paralleluniversen, Raumdehnungen – die Erzählwelt ist experimentell, das Zeit-Raum-Verhältnis oft komplett aufgelöst oder neu gedacht.


Bachtin zufolge ist jeder literarische Text durch einen bestimmten Chronotopos geprägt – und dieser beeinflusst nicht nur die Atmosphäre, sondern auch die Möglichkeiten des Erzählens. Der Wildwest-Roman braucht endlose Prärien und eine klare Zeitlinie für den Showdown. Der Campusroman lebt von der begrenzten Welt der Uni und den Übergangszeiten des Erwachsenwerdens.


Auch in der Philosophie hat der Begriff Resonanz gefunden – besonders in der Phänomenologie. Denn wie wir Zeit und Raum erleben, ist subjektiv: Für eine Liebende vergeht ein Tag wie ein Augenblick, für jemanden im Wartezimmer zieht sich jede Minute wie Kaugummi. Der Chronotopos beschreibt also auch das gefühlte Verhältnis von Raum und Zeit – nicht nur das logisch messbare.


Der Chronotopos ist wie der unsichtbare Rahmen jeder Erzählung. Er bestimmt, wie viel Zeit Figuren haben, wohin sie gehen können – und wie wir als Leserinnen oder Zuschauerinnen diese Welt erleben. Wer ihn erkennt, sieht Geschichten plötzlich mit ganz anderen Augen.

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