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WTF-Fragen
 

Können wir menschliche Herzen auf Spinat züchten?

 

Kategorie:

Medizin

Der kurze TEASER:

Ja, aber vergiss Frankenstein. Wissenschaftler verwandeln einfaches Blattgemüse in schlagendes Herzgewebe – und diese bizarre Methode könnte die Zukunft der Organtransplantation für immer verändern.

Die ausführliche Antwort:

Die Warteliste für ein Spenderorgan ist einer der brutalsten Orte der modernen Medizin. Es ist ein stiller, zermürbender Wettlauf gegen die Zeit, bei dem die Nachfrage das Angebot auf tragische Weise übersteigt. Seit Jahrzehnten suchen Forscher daher nach dem heiligen Gral: der Fähigkeit, komplexe menschliche Organe im Labor zu züchten. Das sogenannte Bio-Engineering verspricht eine Zukunft ohne Abstoßungsreaktionen und ohne Warten. Doch ein fundamentales Problem bremste den Fortschritt immer wieder aus: die Blutversorgung. Man kann zwar menschliche Zellen in einer Petrischale züchten, aber wie baut man das feine, unendlich verästelte Netzwerk aus Arterien, Venen und Kapillaren, das jede einzelne Zelle mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgen muss? Ohne dieses vaskuläre System stirbt jedes größere Gewebestück einfach ab. Man kann ein Haus nicht ohne Rohrleitungen bauen. 3D-Drucker stoßen hier an ihre Grenzen. Die Lösung kam, wie so oft in der Wissenschaft, aus einer Richtung, in die niemand geblickt hatte: der Gemüseabteilung im Supermarkt. Die zündende Idee, die ein Team am Worcester Polytechnic Institute (WPI) in den USA hatte, war so einfach wie genial. Was, wenn man die perfekte Gefäßstruktur nicht mühsam neu erschaffen muss, sondern sich eine bereits existierende von der Natur leiht? Die Forscher blickten auf ein Spinatblatt und erkannten die verblüffende Analogie. Die Aderstruktur eines Blattes – mit seinem dicken Hauptstrang, der sich in ein immer feiner werdendes Netz verästelt – ist in ihrem Aufbau dem Kapillarsystem des menschlichen Herzmuskels verblüffend ähnlich. Die Natur hatte das Ingenieursproblem bereits vor Millionen von Jahren perfekt gelöst. Die Frage war nur: Kann man die pflanzliche Hülle für menschliches Leben nutzbar machen? Der Prozess, den die Wissenschaftler entwickelten, ist an sich schon spektakulär und klingt wie aus einem Science-Fiction-Roman. Er nennt sich Dezellularisierung. Zuerst nahmen sie ein handelsübliches Spinatblatt. Dann wurde dieses Blatt für mehrere Tage in einer speziellen Detergens-Lösung "gewaschen". Diese Seifenlösung macht etwas Erstaunliches: Sie spült sanft alle pflanzlichen Zellen weg – das grüne Chlorophyll, die Zellwände, die gesamte pflanzliche DNA. Übrig bleibt nur das Grundgerüst des Blattes, eine hauchdünne, durchscheinende und flexible Struktur aus Zellulose. Es ist ein Geisterblatt, das nur noch aus seinem perfekt intakten, leeren Adernsystem besteht. Man hat quasi die gesamten Möbel und Wände aus dem Haus entfernt und nur die perfekten Rohrleitungen stehen lassen. Jetzt folgte der zweite, noch unglaublichere Schritt: die Rezellularisierung. Das Team besiedelte dieses durchsichtige Zellulose-Gerüst mit lebenden, menschlichen Herzzellen (Kardiomyozyten). Anschließend leiteten sie eine nährstoffreiche, blutähnliche Flüssigkeit durch den Hauptstiel des Blattes. Und die Natur tat, was sie am besten kann: Die Flüssigkeit floss durch das gesamte, filigrane Adernetz und versorgte die menschlichen Zellen, die auf dem Gerüst zu wachsen und sich zu vermehren begannen. Sie kolonisierten die vorgegebene Architektur. Nach mehreren Tagen geschah das Wunder: Die menschlichen Herzzellen, die sich auf dem Spinatblatt angesiedelt hatten, begannen sich zu synchronisieren und zu kontrahieren. Sie fingen an zu schlagen. Ein lebloses, durchsichtiges Blatt begann, im Rhythmus eines menschlichen Herzschlags zu pulsieren. Natürlich wird man in naher Zukunft keinen Patienten mit einem ganzen Spinat-Herz versorgen. Aber der Durchbruch ist monumental. Die wahrscheinlichste erste Anwendung sind "biologische Pflaster". Man könnte solche vitalisierten Spinatblatt-Stücke nutzen, um geschädigtes Gewebe nach einem Herzinfarkt zu reparieren. Ein lebendiges, schlagendes Pflaster, das mit dem Herzen verwächst und dessen Funktion wiederherstellt. Darüber hinaus eröffnet diese Technik eine völlig neue Welt für die Forschung. Man kann an diesen günstigen und einfach herzustellenden Gewebestücken die Wirkung von Medikamenten testen oder Krankheitsverläufe studieren, ohne auf Tierversuche oder komplizierte Simulationen angewiesen zu sein. Die Vision geht aber noch weiter. Wenn es mit Spinat für Herzgewebe klappt, was ist mit anderen Pflanzen? Könnte man die poröse Struktur von bestimmten Hölzern als Gerüst für Knochen nutzen? Die feinen Verästelungen von Petersilie für Lungengewebe? Das Ganze hat sogar einen Namen bekommen: florale Dezellularisierung. Es ist ein Paradigmenwechsel: Statt die komplexe Architektur des Lebens krampfhaft nachzubauen, nehmen wir die fertigen Baupläne, die uns die Evolution in den banalsten Formen schenkt – wie einem Blatt Spinat. Die Lösung für eines der größten Probleme der Medizin wächst vielleicht wirklich in unseren Gärten.
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