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WTF-Fragen
 

Warum bleibt ein Song tagelang in meinem Kopf hängen?

 

Kategorie:

Musik

Der kurze TEASER:

Weil dein Gehirn eine Jukebox mit Eigenleben ist, die auf Wiederholungen und ungelöste musikalische Rätsel steht. Einmal gestartet, spielt es die Endlosschleife ab, bis eine neue Melodie sie verdrängt.

Die ausführliche Antwort:

Es ist 3 Uhr nachts. Du willst schlafen, aber dein Gehirn hat andere Pläne. Stattdessen veranstaltet es ein Privatkonzert mit nur einem einzigen Song auf der Setlist – einem kitschigen Popsong aus den 90ern, den du seit Jahren nicht mehr bewusst gehört hast. Willkommen in der Welt des Ohrwurms, oder wie die Wissenschaft es nennt: unwillkürliche musikalische Vorstellung (INMI). Dieses Phänomen ist keine Störung, sondern ein faszinierender Einblick in die Art und Weise, wie unser Gehirn Musik, Erinnerung und Aufmerksamkeit verarbeitet. Es ist das Ergebnis eines perfekten Sturms aus musikalischen Eigenschaften, psychologischen Triggern und der grundlegenden Funktionsweise unseres Gedächtnisses. Die Forschung, angeführt von Kognitionswissenschaftlern wie Dr. Victoria Williamson und Dr. Daniel Levitin, zeigt, dass Ohrwürmer meist dann zuschlagen, wenn unser Gehirn im Leerlauf ist – beim Zähneputzen, beim Warten auf den Bus, beim Einschlafen. In diesen Momenten der geringen kognitiven Last sucht sich das Gehirn eine Beschäftigung und greift oft auf bekannte, einfache und repetitive Melodien zurück. Der auditorische Kortex, der Teil des Gehirns, der für die Verarbeitung von Geräuschen zuständig ist, wird aktiv, als würde er die Musik tatsächlich hören. Er spielt eine Schleife ab, die im Gedächtnis gespeichert ist. Aber nicht jeder Song hat das Zeug zum Ohrwurm. Studien haben gezeigt, dass die "klebrigsten" Songs oft eine bestimmte Formel erfüllen: Sie haben ein relativ schnelles Tempo, eine einfache, konventionelle Melodiestruktur, aber gleichzeitig eine oder zwei unerwartete Wendungen oder Intervalle, die die Aufmerksamkeit des Gehirns fesseln. Diese kleinen Überraschungen machen den Song interessant genug, damit das Gehirn ihn immer wieder "analysieren" will. Repetitive Refrains sind dabei der Klebstoff, der alles zusammenhält. Ein weiterer entscheidender Faktor ist der Zeigarnik-Effekt. Dieses psychologische Prinzip besagt, dass wir uns an unvollendete oder unterbrochene Aufgaben besser erinnern als an abgeschlossene. Ein Song, den wir nur ausschnittsweise hören – zum Beispiel im Supermarkt oder als Klingelton – bleibt in unserem Kopf als "unerledigte Aufgabe" hängen. Das Gehirn versucht, die Lücke zu füllen und den Song zu vervollständigen, was dazu führt, dass es den bekannten Teil immer wieder abspielt. Es ist, als würde man versuchen, ein musikalisches Rätsel zu lösen, bei dem das letzte Teil fehlt. Ohrwürmer sind also kein Zeichen von Wahnsinn, sondern ein Nebenprodukt eines gesunden, aktiven Gehirns, das Muster liebt und versucht, die Welt zu ordnen – selbst wenn das bedeutet, "Baby Shark" in einer Endlosschleife zu spielen. Sie sind ein Beweis dafür, dass Musik tief in unserer kognitiven Architektur verankert ist und die Grenzen zwischen Hören, Erinnern und Vorstellen mühelos überschreitet. Der beste Weg, einen Ohrwurm loszuwerden? Ironischerweise, indem man den Song einmal ganz bewusst und vollständig anhört, um die "Aufgabe" für das Gehirn abzuschließen. Oder indem man ihm einen neuen, noch klebrigeren Song zum Kauen gibt.
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