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WTF-Fragen
 

Warum ist es für uns Menschen quasi unmöglich, mit verbundenen Augen geradeaus zu gehen?

 

Kategorie:

Biologie

Der kurze TEASER:

Weil dein Gehirn dich systematisch austrickst und dein Körper eine leicht asymmetrische „Hardware“ ist. Ohne visuelle Korrektur driften wir unweigerlich in einer Spirale ab – oft, ohne es zu merken.

Die ausführliche Antwort:

Ein lauer Sommertag, ein riesiges, leeres Feld. Du verbindest dir die Augen, drehst dich ein paar Mal im Kreis und nimmst dir felsenfest vor, schnurstracks geradeaus zu gehen. Du konzentrierst dich, spürst den Boden unter deinen Füßen, versuchst, jeden Schritt exakt wie den vorherigen zu setzen. Nach gefühlten 100 Metern nimmst du die Augenbinde ab, triumphierend sicher, dein Ziel am anderen Ende des Feldes erreicht zu haben. Doch der "WTF"-Moment folgt sofort: Du stehst nur wenige Meter von deinem Ausgangspunkt entfernt, nachdem du einen fast perfekten Kreis gelaufen bist. Was ist hier passiert? Das ist keine Einbildung und auch kein Versagen deines Orientierungssinns – es ist fundamentale menschliche Biomechanik und Neurobiologie in Aktion. Das Phänomen wurde lange als eine Art urbaner Mythos abgetan, bis Wissenschaftler wie Jan Souman und Marc Ernst vom Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen dem Ganzen auf den Grund gingen. Sie führten geniale Experimente durch: In der tunesischen Wüste und in einem großen deutschen Wald ließen sie Probanden stundenlang mit verbundenen Augen (und GPS-Trackern) laufen. Das Ergebnis war verblüffend eindeutig. Sobald die Sonne hinter Wolken verschwand oder die Nacht hereinbrach und damit der letzte externe Anhaltspunkt fehlte, begannen die Teilnehmer, in Schleifen und oft sogar in engen Kreisen von nur 20 Metern Durchmesser zu laufen. Interessanterweise hatten sie dabei stets das Gefühl, absolut geradeaus zu gehen. Aber warum? Die Antwort liegt in einer Kombination aus zwei Hauptfaktoren: der Asymmetrie unseres Körpers und dem "Rauschen" in unserem Gehirn. Beginnen wir mit der Hardware, unserem Körper. Kein Mensch ist perfekt symmetrisch. Fast jeder hat ein Bein, das um Millimeter länger ist als das andere. Ein Beinmuskel ist oft minimal stärker, ein Fuß setzt sich anders ab. Diese winzigen, im Alltag völlig unbedeutenden Unterschiede summieren sich bei jedem Schritt. Stell dir ein Auto vor, bei dem die Räder auf einer Seite einen minimal geringeren Luftdruck haben oder die Spur ganz leicht verstellt ist. Lässt du das Lenkrad los, wird es nicht ewig geradeaus fahren, sondern langsam aber sicher in eine Kurve ziehen. Genau das passiert mit unserem Körper. Jeder Schritt ist eine winzige Kurskorrektur in eine bestimmte Richtung. Ohne visuelle Referenzpunkte – wie einen Baum am Horizont, einen Turm oder die Sonne – bemerken wir diese schleichende Abweichung nicht. Unser Gehirn, das für die motorische Steuerung zuständig ist, hat keine externe Information, um den Kurs zu korrigieren. Jetzt kommt der zweite, noch faszinierendere Teil ins Spiel: die Software, also unser Gehirn und das Nervensystem. Unser innerer Gleichgewichtssinn, das vestibuläre System im Innenohr, ist zwar fantastisch darin, schnelle Beschleunigungen und Drehungen zu erkennen, aber für langsame, stetige Abweichungen ist es erstaunlich unempfindlich. Es meldet dem Gehirn quasi: "Alles paletti, wir bewegen uns geradeaus." Gleichzeitig gibt es in unserem Nervensystem ein permanentes Grundrauschen, eine Art "neuronale Ungenauigkeit". Die Signale, die vom Gehirn an die Beine gesendet werden, und die Rückmeldungen von den Muskeln und Gelenken (Propriozeption) sind nicht 100% perfekt. Es sind biologische Signale, keine digitalen Einsen und Nullen. Diese kleinen Fehler und Verzögerungen in der Signalverarbeitung summieren sich ebenfalls und führen dazu, dass unser innerer Kompass langsam, aber sicher driftet. Die Forscher konnten sogar zeigen, dass die Drehrichtung nicht konstant ist. Eine Person, die heute einen Linkskreis läuft, kann morgen unter gleichen Bedingungen plötzlich nach rechts abdriften. Das spricht gegen die alleinige Theorie der körperlichen Asymmetrie (denn die Beinlänge ändert sich ja nicht über Nacht) und untermauert die Idee des zufälligen "neuronalen Rauschens" als entscheidenden Faktor. Es ist die Kombination aus einer leichten, aber konstanten biomechanischen Tendenz und den zufälligen, variablen Fehlern in der Signalverarbeitung unseres Gehirns, die uns zu Kreisläufern macht. Dieses Phänomen hat reale Konsequenzen. Verirrte Wanderer berichten oft davon, stundenlang gelaufen zu sein, nur um ihre eigenen Fußspuren wiederzufinden. Es ist ein zutiefst menschliches Merkmal: Wir sind visuelle Wesen. Unser Gehirn ist darauf optimiert, die Welt zu sehen und unsere Bewegungen permanent an dem abzugleichen, was unsere Augen wahrnehmen. Nehmen wir ihm diese Fähigkeit, greift es auf seine internen, fehleranfälligen Systeme zurück – und die führen uns im Kreis. Der Versuch, mit geschlossenen Augen geradeaus zu gehen, ist also nicht nur ein lustiges Experiment, sondern eine beeindruckende Demonstration unserer eigenen biologischen Grenzen und der stillen, aber brillanten Arbeit, die unser Gehirn jede Sekunde leistet, um uns auf Kurs zu halten.
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