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WTF-Fragen
Warum war Gammelfisch-Sauce das absolute Lieblingsgewürz der alten Römer?
Kategorie:
Kulturgeschichte
Der kurze TEASER:
Für uns unvorstellbar ekelerregend, für die alten Römer ein kulinarischer Traum: Garum, eine fermentierte Fischsauce aus Innereien und Fischresten, die in der Sonne reifte – und fast alles veredelte!
Die ausführliche Antwort:
Die Vorstellung, eine Sauce aus tagelang in der Sonne verrottenden Fischinnereien über sein Essen zu geben, mag dir heute den Magen umdrehen. Doch genau diese Flüssigkeit, genannt Garum, war das Gold der römischen Küche. Es war so allgegenwärtig wie Salz und Pfeffer auf unseren Tischen – nur ungleich intensiver und prestigeträchtiger.
Garum war weit mehr als nur ein Gewürz; es war ein Statussymbol, ein Konservierungsmittel und ein unverzichtbarer Geschmacksverstärker. Man stellte es her, indem man Fischreste – oft ganze kleine Fische wie Sardellen, Makrelen oder Thunfischinnereien – mit einer großen Menge Salz vermischte und das Ganze in großen Becken oder Tongefäßen unter der sengenden Mittelmeersonne fermentieren ließ. Die Enzyme in den Fischen, kombiniert mit salzliebenden Mikroorganismen, zersetzten die Fischproteine langsam. Heraus kam eine bernsteinfarbene, flüssige Essenz, deren Geruch, so beschreiben es antike Quellen, überwältigend war. Denk an eine Mischung aus sehr reifem Käse, Fisch und Meer, konzentriert bis zum Äußersten.
Der Prozess dauerte Wochen, manchmal Monate. Die besten Qualitäten, das "Garum sociorum" beispielsweise, stammten oft aus dem heutigen Spanien, besonders aus Cartago Nova oder Gades. Ganze Städte lebten von der Garum-Produktion. Riesige Fabrikanlagen mit hunderten von Fermentationsbecken zeugen noch heute von der industriellen Dimension dieses Geschäfts. Die Sauce wurde in Amphoren abgefüllt und über das gesamte Römische Reich verschifft, von Britannien bis nach Syrien. Sie war so wertvoll, dass sie in manchen Zeiten fast so viel kostete wie Parfüm.
Aber warum dieser Faible für etwas so Riechendes? Der Schlüssel liegt im Geschmack: Umami. Lange bevor das Konzept des Umami im 20. Jahrhundert in Japan entdeckt und benannt wurde, nutzten die Römer es instinktiv. Durch die Fermentation werden Proteine in Aminosäuren aufgespalten, darunter Glutamat, die für den herzhaften, fleischigen Umami-Geschmack verantwortlich sind. Garum war der ultimative Umami-Booster der Antike. Es verstärkte den Eigengeschmack der Speisen, rundete Aromen ab und verlieh jedem Gericht eine tiefere, komplexere Note. Es wurde zum Würzen von Fleisch und Fisch, aber auch in Gemüsegerichten, Saucen und sogar in Süßspeisen verwendet. Apicius, der berühmte römische Kochbuchautor, listet Garum in den meisten seiner Rezepte auf.
Betrachte es mal so: Wir essen heute auch fermentierte Lebensmittel, die vor Jahrhunderten ähnlich aus den Notwendigkeiten der Konservierung entstanden sind. Sojasauce, ein Grundnahrungsmittel in der asiatischen Küche, ist ebenfalls ein fermentiertes Produkt, das einen starken Umami-Geschmack liefert. Auch britische Marmite oder australische Vegemite, die auf Hefeextrakten basieren, sind hochkonzentrierte, umami-reiche Pasten mit einem intensiven Eigengeschmack, der für Nicht-Kenner gewöhnungsbedürftig sein kann. Oder nimm Käse: Ein stark gereifter Parmigiano Reggiano oder ein Roquefort hat ebenfalls diese salzig-herzhafte, fast fleischige Note, die von denselben Aminosäuren stammt. Der Unterschied liegt oft nur in der Konsistenz und dem Ausgangsprodukt.
Die Römer hatten keine Kühlmöglichkeiten wie wir. Salz war eine der wichtigsten Methoden, Lebensmittel haltbar zu machen. Die Fermentation war ein genialer Nebenprozess, der nicht nur konservierte, sondern auch einen unglaublich intensiven Geschmack erzeugte. Sie schätzten nicht nur den Geschmack, sondern auch die praktischen Aspekte: Garum war reich an Proteinen und möglicherweise an B-Vitaminen, die in der damaligen Ernährung oft Mangelware waren. Es war eine nährstoffreiche Ergänzung, die auch medizinisch eingesetzt wurde, etwa zur Linderung von Magenbeschwerden oder zur Wundheilung.
Die Geschichte von Garum lehrt uns viel über Geschmack und Kultur. Was für die eine Generation oder Kultur als Delikatesse gilt, kann für die nächste völlig ungenießbar sein. Unsere heutige Abneigung gegen "Gammelfisch" ist stark von modernen Hygienevorstellungen und der Verfügbarkeit frischer Lebensmittel geprägt. Für die Römer war Garum ein Zeichen von Zivilisation und Raffinesse, ein Produkt fortschrittlicher Lebensmittelverarbeitung, das es ermöglichte, den Gaumen auf eine Weise zu verwöhnen, die wir heute mit unserem Verständnis von Umami erst wiederentdecken. Es war nicht einfach nur eine Sauce; es war ein integraler Bestandteil ihrer kulinarischen Identität und ein Spiegel ihrer Welt.
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