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WTF-Fragen
Was würde passieren, wenn du deinen Kopf in einen laufenden Teilchenbeschleuniger steckst?
Kategorie:
Physik
Der kurze TEASER:
Du würdest einen Lichtblitz „heller als tausend Sonnen“ sehen, aber keinerlei Schmerz spüren. Und mit einer bizarren Wahrscheinlichkeit könntest du es sogar überleben – so wie es einem Wissenschaftler tatsächlich passiert ist.
Die ausführliche Antwort:
Es klingt wie der Beginn eines schlechten Superhelden-Comics oder eine groteske urbane Legende, doch diese Frage ist keine reine Hypothese. Sie wurde beantwortet. Am 13. Juli 1978 beantwortete sie der russische Wissenschaftler Anatoli Bugorski auf die wohl unfreiwilligste und brutalste Weise, die man sich vorstellen kann. An diesem Tag steckte er seinen Kopf versehentlich in den Protonenstrahl des Synchrotrons U-70, des damals größten Teilchenbeschleunigers der Sowjetunion. Was dann passierte, sprengt die Grenzen unseres normalen Verständnisses von Materie, Energie und Überleben.
Um zu verstehen, was in Bugorskis Kopf geschah, müssen wir uns von der Vorstellung einer Kugel oder eines Geschosses verabschieden. Der Strahl, der ihn traf, war kein festes Objekt. Es war ein Bündel aus Protonen – den positiv geladenen Bausteinen von Atomkernen –, die auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigt wurden. Dieser Strahl war dünner als ein Bleistift, aber er trug eine unfassbare Energiemenge in sich. Als der Strahl in Bugorskis Schädel eindrang, an der Rückseite seines Kopfes, und an seiner Nase wieder austrat, deponierte er eine Strahlendosis von etwa 2.000 Gray (Gy). Zum Vergleich: Eine Dosis von 5 Gray gilt bereits als für einen Menschen tödlich. Bugorski absorbierte also das 400-fache einer absolut letalen Dosis.
Der erste Effekt, den er wahrnahm, war rein visuell. Er beschrieb einen Lichtblitz, „heller als tausend Sonnen“, empfand dabei aber keinerlei Schmerz. Das ist nicht überraschend. Der Protonenstrahl bewegte sich so schnell und übertrug seine Energie so präzise auf die Atome in seinem Gehirn und Gewebe, dass die Nerven keine Zeit hatten, ein Schmerzsignal zu senden. Sie wurden schlicht und ergreifend sofort zerstört oder irreparabel geschädigt. Der Strahl brannte einen mikroskopisch feinen Kanal durch sein Gehirn.
Nach dem Unfall schwoll die linke Hälfte seines Gesichts bis zur Unkenntlichkeit an. Die Haut löste sich in den folgenden Tagen entlang des Strahlengangs ab, genau dort, wo die Protonen ein- und ausgetreten waren. Ärzte und Kollegen erwarteten seinen sicheren Tod innerhalb weniger Tage. Doch Bugorski starb nicht. Er überlebte. Und hier beginnt der wirklich verblüffende Teil der Geschichte, der tief in die Physik der Teilchenstrahlung führt.
Der Schlüssel zu seinem Überleben liegt in einem Phänomen namens „Bragg-Peak“. Im Gegensatz zu Röntgenstrahlen oder Gammastrahlen, die ihre Energie relativ gleichmäßig entlang ihres Weges durch Materie abgeben, haben Protonenstrahlen eine besondere Eigenschaft: Sie geben den Großteil ihrer zerstörerischen Energie erst ganz am Ende ihrer Reichweite in einem scharfen Peak ab. Da der Strahl in Bugorskis Fall aber so extrem energiereich war (etwa 76 Gigaelektronenvolt), lag sein Bragg-Peak weit hinter seinem Kopf. Der Strahl war darauf ausgelegt, mit dichten Materietargets zu kollidieren, nicht mit einem vergleichsweise „weichen“ menschlichen Schädel. Das bedeutet: Während die durchquerte Materie immer noch einer gigantischen Strahlung ausgesetzt war, war der Schaden nicht so explosiv konzentriert, wie er es bei einem schwächeren Strahl gewesen wäre, dessen Energie komplett im Gehirn "explodiert" wäre. Der Strahl raste einfach hindurch und richtete einen schmalen, aber tiefen Schaden an, anstatt das gesamte Gehirn zu "kochen".
Die Langzeitfolgen für Bugorski waren dennoch gravierend. Die linke Seite seines Gesichts blieb für den Rest seines Lebens gelähmt. Er verlor das Gehör auf seinem linken Ohr und litt fortan unter häufigen epileptischen Anfällen. Doch das Erstaunlichste war, dass seine intellektuellen Fähigkeiten weitgehend intakt blieben. Er promovierte nach dem Unfall, setzte seine Karriere als Wissenschaftler fort und sprach offen über seine Erfahrung.
Bugorskis unfreiwilliges Experiment ist eine schaurige Mahnung an die unsichtbaren Kräfte, mit denen die moderne Physik spielt. Würde man heute seinen Kopf in den Strahl des Large Hadron Collider (LHC) am CERN stecken, wäre das Ergebnis ungleich fataler. Der LHC operiert mit Energien, die fast 100-mal höher sind als die des U-70 im Jahr 1978. Die schiere Energiedichte des Strahls würde einen Kopf nicht nur durchdringen, sondern das Wasser im Gewebe schlagartig zum Kochen bringen und eine sogenannte „hydrodynamische Explosion“ auslösen. Das Ergebnis wäre weniger ein feiner Kanal als eine katastrophale Zerstörung. Anatoli Bugorskis Überleben war ein makabrer Glücksfall, ein Tanz auf der Rasierklinge der Physik, der uns zeigt, wie seltsam und widerstandsfähig das Leben sein kann – selbst im Angesicht von Kräften, die Sterne zum Leuchten bringen.
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