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WTF-Fragen
Werden wir bald alle mit Organen von gentechnisch veränderten Schweinen herumlaufen?
Kategorie:
Medizin
Der kurze TEASER:
Ja, das ist keine Science-Fiction mehr. Die ersten Transplantationen von Schweineherzen in lebende Menschen haben bereits stattgefunden und die Wissenschaft überwindet gerade die letzten großen Hürden, um eine unendliche Quelle für Ersatzorgane zu erschließen.
Die ausführliche Antwort:
Die Idee klingt wie aus einem dystopischen Roman oder einem B-Movie-Horrorfilm: Ein menschliches Herz gibt auf, und die Ärzte ersetzen es einfach durch das Herz eines Schweins. Was über Jahrzehnte als biologisch unmöglich galt, rückt gerade in greifbare Nähe und könnte die Medizin für immer verändern. Dies ist keine ferne Zukunftsmusik mehr; wir stehen an der Schwelle zu einer Ära, in der Ersatzorgane nicht mehr rar und kostbar sind, sondern bei Bedarf im Labor gezüchtet werden – in speziell designten Schweinen. Doch der Weg dorthin war ein wissenschaftlicher Krimi voller Rückschläge, ethischer Debatten und genialer Durchbrüche.
Das größte Problem, das Wissenschaftler jahrzehntelang nicht lösen konnten, ist die brutale Abstoßungsreaktion unseres Immunsystems. Unser Körper ist ein Meister der Selbstverteidigung. Er erkennt jede fremde Zelle und bekämpft sie gnadenlos. Ein Organ aus einer anderen Spezies ist für unser Immunsystem der absolute Endgegner. Sobald ein Schweineorgan an den menschlichen Blutkreislauf angeschlossen wird, passiert eine sogenannte hyperakute Abstoßung. Man kann es sich vorstellen wie einen biologischen Blitzkrieg: Unsere Antikörper stürzen sich auf die fremden Zellen, verklumpen das Blut und das Organ stirbt innerhalb von Minuten ab. Es ist ein so fundamentales „Du gehörst nicht hierher!“, dass frühe Versuche in den 1960er Jahren kläglich scheiterten.
Der Schlüssel zur Lösung dieses Problems liegt in der modernen Gentechnologie, genauer gesagt in der Genschere CRISPR/Cas9. Forscher haben erkannt, dass sie das Schwein selbst verändern müssen, um es für den menschlichen Körper „unsichtbar“ oder zumindest tolerierbar zu machen. Sie begannen, das Erbgut von Schweinen systematisch umzuschreiben. In einem ersten Schritt wurden Gene, die für die aggressivsten Abstoßungsreaktionen verantwortlich sind, einfach „ausgeschaltet“. Eines dieser Übeltäter-Gene produziert ein Zuckermolekül namens Alpha-Gal, das auf der Oberfläche von Schweinezellen sitzt und von unserem Immunsystem sofort als Feind markiert wird. Ohne dieses Zuckermolekül ist das Schweineorgan schon mal deutlich unauffälliger.
Aber das war nur der Anfang. In einem zweiten, noch genialeren Schritt, fügten die Forscher dem Schweine-Erbgut menschliche Gene hinzu. Das Schwein wurde quasi „humanisiert“. Diese menschlichen Gene produzieren Proteine, die unserem Immunsystem signalisieren: „Halt, stopp, ich bin einer von euch!“. Sie wirken wie ein Tarnmantel, der das Organ vor den Angriffen unserer körpereigenen Abwehr schützt. Moderne Spenderschweine, wie sie zum Beispiel von Firmen wie eGenesis oder Revivicor gezüchtet werden, haben bis zu 69 genetische Veränderungen. Es ist ein unfassbar komplexes Feintuning des Erbguts, das hier stattfindet.
Ein weiteres Schreckgespenst war die Gefahr von Viren. Im Erbgut von Schweinen schlummern sogenannte porcine endogene Retroviren (PERVs). Die Sorge war, dass diese Viren nach der Transplantation auf den Menschen überspringen und neue Pandemien auslösen könnten. Auch hier kam CRISPR zum Einsatz: Die Forscher konnten die Gene dieser Viren im Schweine-Genom aufspüren und deaktivieren, wodurch das Risiko einer Übertragung drastisch minimiert wurde.
Der Moment der Wahrheit kam im Januar 2022. In einer weltweit beachteten Operation verpflanzten Ärzte am University of Maryland Medical Center dem 57-jährigen David Bennett, für den es keine andere Behandlungsoption mehr gab, ein gentechnisch verändertes Schweineherz. Die Welt hielt den Atem an. Und das Unmögliche geschah: Das Herz wurde nicht sofort abgestoßen. Es schlug. Es pumpte Blut. Es funktionierte wochenlang. David Bennett lebte zwei Monate mit dem Schweineherz, konnte Zeit mit seiner Familie verbringen, bevor sein Zustand sich verschlechterte und er verstarb. Auch wenn der Patient letztendlich nicht überlebte – die genaue Todesursache ist noch Gegenstand der Forschung –, war dieser Fall ein medizinischer Dammbruch. Er hat bewiesen, dass die Xenotransplantation – die Übertragung von Organen zwischen verschiedenen Spezies – grundsätzlich möglich ist. Ein zweiter Patient erhielt 2023 ebenfalls ein Schweineherz und überlebte rund sechs Wochen.
Wir stehen nun vor einer Revolution, die die Organknappheit beenden könnte. Allein in Deutschland warten tausende Menschen verzweifelt auf ein Spenderorgan. Viele von ihnen sterben, weil nicht rechtzeitig ein passendes Organ gefunden wird. Schweine könnten diese Lücke füllen. Sie haben eine ähnliche Anatomie und Organgröße wie wir, sie sind relativ einfach zu züchten und durch die Gentechnik können ihre Organe maßgeschneidert werden. Vielleicht werden wir in 10 oder 20 Jahren nicht nur Herzen, sondern auch Nieren, Lebern oder Lungen von Schweinen transplantieren. Die ethischen Fragen bleiben natürlich: Dürfen wir Tiere als reine Ersatzteillager für den Menschen züchten? Diese Debatte müssen wir als Gesellschaft führen. Aber aus wissenschaftlicher Sicht ist eine der verrücktesten Ideen der Medizingeschichte gerade dabei, Realität zu werden.
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