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WTF-Fragen
Wie kann ein „edles“ Gas plötzlich un-edel sein und chemische Reaktionen eingehen?
Kategorie:
Chemie
Der kurze TEASER:
Weil der Chemiker Neil Bartlett 1962 durch einen genialen Geistesblitz bewies, dass die angeblich reaktionsträgen Edelgase sehr wohl chemische Verbindungen bilden können. Er mischte Xenon mit einer extrem aggressiven Substanz und erzeugte eine „unmögliche“ Reaktion, die ein 60 Jahre altes chemisches Dogma stürzte.
Die ausführliche Antwort:
Jeder, der im Chemieunterricht aufgepasst hat, kennt die Regel: Die 18. Gruppe im Periodensystem, die Edelgase, sind die unantastbaren Aristokraten der Elemente. Helium, Neon, Argon, Krypton, Xenon und Radon besitzen eine perfekt gefüllte äußere Elektronenschale. Sie sind wunschlos glücklich, stabil und haben keinerlei Interesse daran, sich mit dem Pöbel der anderen Elemente abzugeben – so die Lehrmeinung für über 60 Jahre. Diese absolute Reaktionsträgheit war ein Fundament der Chemie, so sicher wie die Tatsache, dass Wasser nass ist. Doch Dogmen sind in der Wissenschaft dazu da, gebrochen zu werden.
Die Geschichte dieses Umsturzes beginnt nicht mit den Edelgasen, sondern mit einer der reaktivsten und bösartigsten chemischen Verbindungen, die je hergestellt wurden: Platinhexafluorid (PtF6). Diese tiefrote, gasförmige Substanz ist so extrem reaktiv, dass sie sogar dem Sauerstoffmolekül (O2), das selbst schon gerne Elektronen klaut, ein Elektron entreißen kann. Der britisch-kanadische Chemiker Neil Bartlett arbeitete in den frühen 1960er Jahren an der University of British Columbia mit genau diesem Stoff. Es gelang ihm, eine neue Verbindung herzustellen, bei der das Sauerstoffmolekül ein Elektron an das Platinhexafluorid abgab und ein orange-gelbes Salz (O2 +[PtF6]−) bildete.
Hier kam Bartlett der geniale Gedanke, der die Chemie verändern sollte. Er fragte sich, wie viel Energie nötig ist, um einem Sauerstoffmolekül sein äußerstes Elektron zu entreißen (die Ionisierungsenergie). Er schlug den Wert in einem Lehrbuch nach und fand direkt daneben, in derselben Tabelle, die Ionisierungsenergie für das Edelgas Xenon. Die beiden Werte waren fast identisch.
Bartletts revolutionäre Schlussfolgerung war so einfach wie brillant: Wenn Platinhexafluorid stark genug ist, um dem reaktiven Sauerstoff ein Elektron zu stehlen, und Xenon sein Elektron fast genauso „fest“ hält wie Sauerstoff, dann müsste PtF6
doch auch in der Lage sein, dem „edlen“ Xenon ein Elektron zu rauben. Er wettete gegen ein ehernes Gesetz der Chemie.
Das Experiment selbst war von bestechender Einfachheit. Im August 1962 mischte Bartlett in einem Glaskolben das farblose Gas Xenon mit dem tiefroten Dampf von Platinhexafluorid. Nach der herrschenden Lehrmeinung hätte absolut nichts passieren dürfen. Doch stattdessen geschah die Sensation augenblicklich: An der Wand des Kolbens bildete sich ein gelb-oranger, fester Niederschlag.
Es war der erste, sichtbare Beweis für eine stabile Edelgasverbindung: Xenonhexafluoroplatinat (Xe+[PtF6]−). Das Dogma war gefallen. Xenon war nicht vollkommen inert. Seine „Adeligkeit“ war keine Unfähigkeit zu reagieren, sondern lediglich ein sehr hoher Anspruch an den Reaktionspartner.
Die Entdeckung schlug in der Fachwelt ein wie eine Bombe und löste eine Welle der Forschung aus. Innerhalb weniger Monate synthetisierten andere Labore auf der ganzen Welt weitere, einfachere Xenon-Verbindungen (wie Xenon-Tetrafluorid, XeF4) und später sogar Verbindungen von Krypton und Radon. Die Lehrbücher mussten umgeschrieben werden. Bartletts Experiment ist ein Paradebeispiel für den wissenschaftlichen Prozess: die Verknüpfung von zwei scheinbar unzusammenhängenden Fakten, eine kühne Hypothese und ein einfaches Experiment, das ein ganzes Weltbild ins Wanken bringt.
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