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Akzelerationismus

Politische Philosophie

Akzelerationismus ist eine heterogene philosophische und soziopolitische Strömung, die sich mit der Idee befasst, dass der Kapitalismus, seine Technologien und seine inhärenten Widersprüche beschleunigt werden sollten, um eine radikale gesellschaftliche Transformation zu ermöglichen. Der Kerngedanke ist, dass die bestehenden Systeme – insbesondere der Kapitalismus – durch ihre eigene Entfaltung und Intensivierung zu einem Punkt getrieben werden müssen, an dem sie entweder kollabieren oder sich in etwas grundlegend Neues verwandeln. Dabei geht es nicht primär um eine bloße Befürwortung technologischen Fortschritts, sondern um die strategische Nutzung oder Beschleunigung von Entwicklungstendenzen, um politische und soziale Ziele zu erreichen, die über den Status quo hinausgehen. Diese Beschleunigung kann sich auf technologische, wirtschaftliche oder soziale Prozesse beziehen und zielt darauf ab, die Grenzen des Bestehenden zu sprengen. 


Die historischen Wurzeln des Akzelerationismus lassen sich bis zu Karl Marx zurückverfolgen, der die produktiven Kräfte des Kapitalismus als Wegbereiter für eine kommunistische Gesellschaft sah, indem sie die Bedingungen für ihren eigenen Untergang schufen. Spätere Einflüsse kommen aus der französischen Poststrukturalismus-Philosophie, insbesondere von Gilles Deleuze und Félix Guattari, die in ihrem Werk „Anti-Ödipus“ die „Beschleunigung des Prozesses“ forderten, um die de-territorialisierenden Ströme des Kapitalismus radikal zu entfesseln. Auch Jean-François Lyotard spielte mit ähnlichen Gedanken in seiner „Ökonomie der Libido“, wo er die zerstörerischen und kreativen Kräfte des Kapitalismus in einer Weise umarmte, die als prä-akzelerationistisch gedeutet werden kann. Diese Denker erkannten das disruptive Potenzial des Kapitalismus, das nicht nur als zerstörerisch, sondern auch als potenziell befreiend für neue Formen der Existenz angesehen werden konnte. 


Die moderne Form des Akzelerationismus entstand in den 1990er Jahren um die Cybernetic Culture Research Unit (CCRU) an der University of Warwick, mit Schlüsselfiguren wie Nick Land. Land entwickelte eine radikale, anti-humanistische Vision, die Technologie, Kapitalismus und eine zukünftige künstliche Intelligenz als Agenten einer beschleunigten Evolution sah, die die Menschheit transzendieren würde. Seine Ideen, oft als „Dunkle Aufklärung“ oder „Neoreaktion“ bezeichnet, bildeten die Grundlage für den rechten Akzelerationismus. Dieser rechte Akzelerationismus (R/Acc) tendiert dazu, dystopische, hierarchische und oft autoritäre Zukunftsvisionen zu umarmen, die sich gegen demokratische oder egalitäre Ideale richten und eine Art techno-feudale Gesellschaft oder die Herrschaft einer technologischen Singularität befürworten, die die Menschheit in ihrer jetzigen Form überwindet. 


Im Gegensatz dazu entstand der linke Akzelerationismus (LAB) als Reaktion auf die als nihilistisch und reaktionär empfundenen Tendenzen des rechten Akzelerationismus. Eine zentrale Schrift des linken Akzelerationismus ist das „Manifest für eine Akzelerationistische Politik“ von Nick Srnicek und Alex Williams aus dem Jahr 2013. LAB erkennt das disruptive Potenzial des Kapitalismus und der Technologie an, versucht aber, diese Kräfte für emanzipatorische und post-kapitalistische Ziele zu nutzen. Ziel ist es, die technologischen Fortschritte, insbesondere in den Bereichen Automatisierung und künstliche Intelligenz, zu nutzen, um eine Gesellschaft jenseits von Arbeit, Knappheit und Entfremdung zu schaffen. Der linke Akzelerationismus kritisiert oft die „Folk Politics“ des traditionellen linken Aktivismus, die er als zu lokal, partikularistisch und unfähig zur Erzielung systemischer Veränderungen ansieht. Stattdessen fordert er eine Neuausrichtung auf makropolitische Strategien, universelle Planung und die Rückgewinnung der Technologie als Mittel zur Befreiung. Beispiele hierfür sind Forderungen nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, vollständiger Automatisierung der Produktion und der Schaffung einer „Post-Arbeits-Gesellschaft“. 


Eine weitere bemerkenswerte Strömung innerhalb des linken Akzelerationismus ist der Xenofeminismus, der in der Schrift „Xenofeminism: A Politics for Alienation“ von Laboria Cuboniks (2015) formuliert wurde. Xenofeminismus wendet akzelerationistische Ideen auf die feministische Theorie an, indem er Technologie als ein Werkzeug zur Dekonstruktion „natürlicher“ Geschlechterrollen und zur Schaffung einer gerechteren, post-patriarchalen Gesellschaft betrachtet. Er plädiert für eine bewusste Entfremdung von bestehenden Normen und eine aktive Gestaltung der Zukunft durch technologische und soziale Experimente. Auch hier ist die Idee, dass Technologie nicht nur ein Produkt des Kapitalismus ist, sondern auch ein Mittel sein kann, um seine Zwänge zu überwinden und neue Formen des Zusammenlebens zu ermöglichen. 


Akzelerationismus ist jedoch nicht ohne Kritik. Eine zentrale Kritik ist der Vorwurf des technologischen Determinismus, also der Annahme, dass technologische Entwicklungen unweigerlich bestimmte soziale oder politische Ergebnisse hervorbringen. Skeptiker warnen davor, dass eine unkritische Beschleunigung die bestehenden Ungleichheiten verschärfen und zu unkontrollierbaren, möglicherweise dystopischen Ergebnissen führen könnte. Dem rechten Akzelerationismus wird häufig die Nähe zu faschistischen und reaktionären Ideologien vorgeworfen, während der linke Akzelerationismus mitunter als elitär, zu abstrakt und von der praktischen Politik abgekoppelt kritisiert wird. Die Gefahr, dass eine „Beschleunigung ins Nichts“ stattfindet oder dass die Kontrolle über die beschleunigten Prozesse verloren geht, ist eine weitere Sorge. 


Trotz seiner Kontroversen hat der Akzelerationismus wichtige Debatten über die Beziehung zwischen Technologie, Kapitalismus und politischem Wandel angestoßen. Er zwingt dazu, über die Grenzen traditioneller linker und rechter Ansätze nachzudenken und die Rolle der Technologie in der Gestaltung zukünftiger Gesellschaften neu zu bewerten. Angesichts der rasanten Entwicklungen in den Bereichen künstliche Intelligenz, Automatisierung und Biotechnologie bleibt der Akzelerationismus eine relevante und diskussionswürdige Denkrichtung, die herausfordert, die Zukunft nicht nur passiv zu erleben, sondern aktiv und radikal zu gestalten.

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