Die Wissenschaft des Höhepunkts: Die Neurobiologie des Orgasmus
- Benjamin Metzig
- vor 4 Stunden
- 11 Min. Lesezeit

Der menschliche Orgasmus ist einer dieser Momente, in denen der Körper kurz die Kontrolle zu übernehmen scheint – Herzrasen, Muskelzucken, Bewusstseinsblitz. Aber was genau passiert da eigentlich? Und warum ist der Weg dorthin für manche Menschen ein Spaziergang und für andere eine gefühlt unüberwindbare Bergtour?
In diesem Beitrag nehmen wir die Neurobiologie des Orgasmus unter die Lupe – und alles, was drumherum dazugehört: von alten und neuen Modellen des sexuellen Reaktionszyklus über Hirnscans beim Orgasmus, die Anatomie von Klitoris, CUV-Komplex und Prostata, bis hin zum Orgasmus-Gap, evolutionären Rätseln und modernen Therapien.
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Vom Aufzug zur Kreisverkehr: Wie sich unser Bild vom sexuellen Reaktionszyklus verändert hat
Lange wurde Sex in der Medizin wie ein Aufzug beschrieben: Knopf drücken (Verlangen), hochfahren (Erregung), kurz vor der gewünschten Etage bremsen (Plateau) und schließlich die Türen auf zum Höhepunkt (Orgasmus). Dieses lineare Modell geht maßgeblich auf Masters und Johnson zurück, die in den 1960ern Tausende sexueller Reaktionen im Labor gemessen haben.
Ihr Modell unterteilte den sexuellen Reaktionszyklus in vier klar definierte Phasen: Erregung, Plateau, Orgasmus, Rückbildung. Dabei stand das, was sich im Genitalbereich tut, im Mittelpunkt: Erektion, Lubrikation, "orgastische Manschette" in der Vagina, Hodenhebung, rhythmische Kontraktionen des Beckenbodens ungefähr alle 0,8 Sekunden – bei allen Geschlechtern erstaunlich ähnlich. Der Orgasmus erschien als logischer Gipfel einer rein körperlichen Aufwärtskurve.
Das lineare Paradigma war revolutionär, weil es Sexualität erstmals systematisch messbar machte. Gleichzeitig erzeugte es ein Problem: Wer nicht diesem "Treppe-hoch-zum-Gipfel"-Skript folgte, galt schnell als gestört. Besonders Frauen, die kein spontanes, drängendes Verlangen verspüren, sondern eher aus Nähebedürfnis und Beziehungsintimität heraus Sexualität leben, passten in dieses Schema schlecht hinein.
Genau hier setzt das Basson-Modell an. Rosemary Basson denkt den sexuellen Reaktionszyklus eher wie einen Kreisverkehr als wie eine Leiter. Viele Menschen – vor allem Frauen in langfristigen Beziehungen – starten demnach aus einem Zustand sexueller Neutralität: Sie haben keinen spontanen "Sexhunger", entscheiden sich aber bewusst für Nähe. Erst die angenehme körperliche Stimulation wird im Gehirn als Erregung interpretiert; daraus entsteht reaktives Verlangen. Der Orgasmus ist in diesem Modell nicht mehr das einzig relevante Ziel, sondern eines von mehreren möglichen Ergebnissen einer befriedigenden Begegnung.
Diese Verschiebung hat weitreichende Konsequenzen: Ein "fehlendes spontanes Verlangen" muss nicht automatisch eine Störung sein, wenn reaktives Verlangen vorhanden ist und Sex als positiv erlebt wird. Und therapeutisch rückt der Kontext – Beziehung, Emotionen, Stress – genauso in den Fokus wie der Blutfluss in die Genitalien.
Aktuelle Ansätze integrieren außerdem die sogenannte Mind-Body-Diskrepanz: Genitale Durchblutung und subjektives Gefühl von Erregung laufen nicht immer im Gleichschritt. Gerade bei Frauen zeigt sich oft nur eine schwache Korrelation. Das bedeutet: Ein normal funktionierendes Genitalsystem garantiert noch lange nicht, dass sich jemand wirklich sexuell "anwesend" fühlt – Kognition, Emotion und Situation sind mitentscheidend.
Die Neurobiologie des Orgasmus: Feuerwerk im Gehirn
Auch wenn sich beim Sex viel im Beckenbereich abspielt: Der eigentliche Orgasmus ist ein Ereignis im Gehirn. Genau hier setzt die Neurobiologie des Orgasmus an – und die zeigt, dass der Höhepunkt eher einem orchestrierten Hirnfeuerwerk gleicht als einem einfachen Reflex.
Bildgebende Verfahren wie fMRI und PET erlauben inzwischen, Menschen während sexueller Stimulation und beim Orgasmus zu scannen. Das Ergebnis: Eine ganze Reihe von Hirnregionen feuert oder schaltet runter – teilweise mit spannenden Unterschieden zwischen den Geschlechtern, aber mit einer grundsätzlich sehr ähnlichen Gesamtchoreografie.
Zunächst werden die klassischen sensorischen Areale aktiv: Im somatosensorischen Kortex liegt für jedes Körperteil eine Art "Landkarte" – Penfields Homunculus. Bei Frauen zeigen Klitoris, Vagina und Zervix leicht unterschiedliche, aber überlappende Aktivierungsmuster. Das passt zur Anatomie: Klitoris und Perineum leiten Signale hauptsächlich über den Nervus pudendus weiter, Vagina und Zervix zusätzlich über den Nervus pelvicus und den Nervus vagus. Je mehr dieser Bahnen gleichzeitig feuern, desto intensiver wird das subjektive Erleben – weshalb kombinierte Stimulation häufig als besonders kraftvoll beschrieben wird.
Parallel dazu passiert im Vorderhirn etwas Bemerkenswertes: Der präfrontale Kortex – zuständig für Selbstkontrolle, Planen, Grübeln – fährt beim Orgasmus seine Aktivität deutlich herunter. Viele Menschen beschreiben genau das als "Loslassen", "Trance" oder "kurzes Nicht-mehr-denken-können". Die Daten legen nahe: Damit das gefühlte Gehirn übernehmen kann, muss das denkende Gehirn kurz leiser werden.
Gleichzeitig schalten die Belohnungs- und Emotionszentren in den Overdrive. Der Nucleus accumbens und das ventrale tegmentale Areal, zentrale Knoten im dopaminergen Belohnungssystem, sind stark aktiv – dieselben Strukturen, die auch bei Drogenkonsum stimuliert werden. Dazu kommen limbische Regionen wie Amygdala und Insula, die Emotion und Körperempfindung verknüpfen, sowie motorische Zentren und das Kleinhirn, die die rhythmischen Muskelkontraktionen koordinieren.
Neurochemisch lässt sich der Orgasmus grob als zeitliche Choreografie mehrerer Botenstoffe beschreiben:
Dopamin steigt während Erregung und Plateau: Es ist der "Antreiber", der das Wollen und die Motivation pusht.
Noradrenalin erhöht Herzfrequenz, Blutdruck und Muskelspannung – der Körper geht in Hochleistung.
Oxytocin flutet während des Höhepunkts und kurz danach das Gehirn, fördert Bindung und Vertrauen und verstärkt die positive Bewertung der Situation.
Endorphine wirken wie körpereigene Opiate: Sie sorgen für Euphorie und Schmerzreduktion.
Prolaktin schließlich ist die Bremse danach: Es senkt Dopamin, erzeugt Sättigung und steuert besonders beim Mann die Refraktärzeit.
Spannend ist die Hypothese, dass das spezifische "Gefühl" sexueller Lust aus der Überlagerung von Netzwerken entsteht, die normalerweise für Craving (Sehnsucht, Wollen) und Sättigung/Euphorie zuständig sind. Beim Orgasmus scheinen beides gleichzeitig aktiv zu sein – ein kurzer Moment, in dem das Gehirn zugleich "haben" und "noch wollen" signalisiert. Vielleicht erklärt genau diese paradoxe Gleichzeitigkeit, warum sich der Höhepunkt so einzigartig anfühlt.
Anatomie in 3D: Klitoris, CUV-Komplex, Prostata & Co.
Wer den Orgasmus verstehen will, kommt an Anatomie nicht vorbei – aber bitte in high resolution, nicht im Biobuch-2D-Modus.
Bei Frauen hat sich in den letzten Jahren vor allem ein Bild etabliert: der Clitorourethrovaginal-Komplex (CUV). Die Klitoris ist eben nicht nur das kleine sichtbare Knöpfchen, sondern eine verzweigte Struktur mit Schenkeln und vestibulären Schwellkörpern, die die Vagina teilweise umrahmen. Bei Erregung füllen sich diese Schwellkörper mit Blut und "umarmen" den Vaginalkanal. Penetration stimuliert damit indirekt die inneren Teile der Klitoris – die alte Trennung "klitoral vs. vaginaler Orgasmus" verliert anatomisch gesehen viel von ihrer Schärfe.
Ähnlich kontrovers diskutiert ist der berühmte G-Punkt. Umfragen zufolge geben viele Frauen an, eine besonders empfindliche Zone an der vorderen Vaginalwand zu haben. Einige Studien deuten darauf hin, dass es sich um eine Kombination aus Klitoristeilen, paraurethralen Drüsen (Skene-Drüsen, oft als "weibliche Prostata" bezeichnet) und umliegendem Gewebe handelt. Bei manchen Frauen ist dieses Areal ausgeprägter, seine Stimulation kann zu einem andersartigen Orgasmus und manchmal zu weiblicher Ejakulation führen.
Ein weiterer spannender Pfad ist der zervikale Orgasmus. Die Zervix wird unter anderem vom Vagusnerv innerviert – einem Nerv, der das Rückenmark umgehen und direkt in den Hirnstamm ziehen kann. Studien an Frauen mit vollständigen Rückenmarksverletzungen zeigen: Über zervikale Stimulation können sie teilweise weiterhin Orgasmen erleben, im Gehirn mit ähnlichen Aktivierungsmustern wie bei nicht verletzten Personen. Das macht deutlich, wie vielfältig die Wege sind, auf denen sexuelle Information das Gehirn erreichen kann.
Beim Mann ist der Fokus oft auf Penis und Ejakulation gerichtet. Doch auch hier lohnt der zweite Blick. Orgasmus und Ejakulation sind physiologisch nicht identisch: Die Ejakulation ist ein peripher gesteuerter Ablauf von Emission und Ausstoß der Samenflüssigkeit, vor allem sympathisch vermittelt. Der Orgasmus ist die zentrale, subjektive Lustempfindung. Trockene Orgasmen ohne Ejakulation sind möglich, ebenso (selten) Ejakulation ohne Lust.
Eine Schlüsselrolle spielt zudem die Prostata, manchmal als "P-Punkt" bezeichnet. Sie ist reich an Nervenenden, fungiert als Schaltstelle zwischen Urin- und Samenfluss und produziert einen Teil des Ejakulats. Prostatastimulation – über Rektum oder Perineum – kann Orgasmen auslösen, die von vielen Männern als tiefer, diffuser und länger beschrieben werden. Studien deuten darauf hin, dass prostatabedingte Orgasmen mehr und länger andauernde Beckenkontraktionen aufweisen können als rein penil fokussierte Orgasmen.
Warum so viele Frauen seltener kommen: Der Orgasmus-Gap
Trotz all dieser biologischen Finesse ist ein Befund in der Sexualforschung erstaunlich konstant: der Orgasmus-Gap. Heterosexuelle Männer berichten in Studien in über 90 % ihrer sexuellen Begegnungen von einem Orgasmus, heterosexuelle Frauen nur in etwa zwei Dritteln der Fälle. Frauen in lesbischen Beziehungen kommen hingegen deutlich häufiger zum Höhepunkt.
Liegt das an "komplizierter weiblicher Biologie"? Die Daten sprechen eher für etwas anderes: sexuelle Skripte. Das dominante heterosexuelle Skript folgt dem "koitalen Imperativ": Sex heißt Penetration, der Höhepunkt des Mannes markiert das Ende der Begegnung. Das Problem: Die große Mehrheit der Frauen benötigt direkte oder sehr gezielte klitorale Stimulation, um zuverlässig zu kommen. Reiner Penis-Vagina-Verkehr stimuliert die äußere Klitoris nur begrenzt.
In lesbischen Beziehungen sehen wir meist andere Skripte: mehr Fokus auf Vorspiel, Oralverkehr, manuelle Stimulation, weniger Fixierung auf Penetration. Genau diese Praktiken korrelieren stark mit weiblicher Orgasmuswahrscheinlichkeit. Das legt nahe: Der Orgasmus-Gap ist weniger ein Naturgesetz als eine Folge von Gewohnheiten, Erwartungen und mangelnder Kommunikation.
Ein zweiter Faktor ist das Spectatoring – das innere Zuschauen beim eigenen Sex. Anstatt im Körper zu sein, kommentieren wir aus dem Off: "Sehe ich gut aus?", "Brauche ich zu lange?", "Hat mein Partner noch Lust?". Dieses mentale Multitasking hält den präfrontalen Kortex aktiv – genau jene Region, die für den Orgasmus eigentlich runterfahren müsste. Je mehr jemand "versucht", zum Orgasmus zu kommen, desto stärker blockiert er ihn neurologisch. Besonders Frauen sind durch Schönheitsnormen und den Druck, "nicht zu anstrengend" zu sein, davon betroffen.
Hinzu kommt, dass viele Frauen Orgasmen vortäuschen, um die Gefühle des Partners zu schonen oder die Begegnung zu beenden. Kurzfristig mag das Konflikte vermeiden, langfristig zementiert es aber ineffektive Muster: Der Partner hält seine Technik für erfolgreich; die Frau erhält weiterhin wenig für sie wirksame Stimulation. Aus wissenschaftlicher Sicht ist das wie ein fehlgeleiteter Feedback-Loop.
Wenn du dich in diesen Beschreibungen wiederfindest: Du bist nicht "kaputt". Du bewegst dich in einem kulturellen und psychologischen System, das Lust nicht immer optimal unterstützt. Genau deshalb ist es so wichtig, offen über den Orgasmus-Gap, über Bedürfnisse, über Klitoris und CUV-Komplex zu sprechen – und auch darüber, was sich in Beziehungen konkret verändern lässt.
Wenn dir diese Perspektive hilft oder neue Gedanken anstößt, lass dem Beitrag gern ein Like da und schreib in die Kommentare, welche Mythen oder Fragen rund um den Orgasmus dich besonders beschäftigen. Deine Rückmeldungen helfen auch anderen Leser:innen, nicht alleine mit ihren Fragen zu sein.
Evolution, Gesundheit und Sinn: Wozu der Orgasmus sonst noch gut ist
Beim männlichen Orgasmus scheint die evolutionäre Funktion offensichtlich: Ohne Ejakulation kein Spermientransfer. Beim weiblichen Orgasmus ist die Sache weniger klar – und deshalb umso spannender.
Eine Gruppe von Forscher:innen sieht den weiblichen Orgasmus als Nebenprodukt der gemeinsamen embryonalen Entwicklung: Die Klitoris ist homolog zum Penis, die neuronalen Schaltkreise sind ähnlich. So wie Männer Brustwarzen haben, ohne damit zu stillen, haben Frauen Orgasmen, ohne dass diese zwingend eine eigene adaptive Funktion hätten. Hinweise sind die große individuelle Variabilität und der fehlende direkte Zusammenhang mit Befruchtung.
Andere betonen aber mögliche Anpassungsvorteile. Die sogenannte Upsuck-Hypothese etwa schlägt vor, dass die Kontraktionen von Uterus und Vagina während des Orgasmus Spermien näher an die Zervix transportieren und so die Chance einer Empfängnis leicht erhöhen. Wieder andere sehen den Orgasmus als Mechanismus der Partnerwahl und Paarbindung: Weil er schwerer zu erreichen ist, könnte er Aufschluss über Geduld, Einfühlungsvermögen oder genetische Qualität eines Partners geben. Die massive Oxytocin-Ausschüttung beim Höhepunkt spricht zudem dafür, dass der Orgasmus an der emotionalen Bindung zwischen Partnern mitwirkt.
Neben evolutionären Fragen gibt es ganz handfeste gesundheitliche Effekte:
Moderate sexuelle Aktivität korreliert mit erhöhten Spiegeln von Immunglobulin A (IgA), einem wichtigen Abwehrstoff an Schleimhäuten.
Der Endorphinschub beim Orgasmus kann Schmerzen wie Menstruationskrämpfe oder Migräne attackenartig lindern.
Nach dem Höhepunkt verschiebt sich das autonome Nervensystem in einen parasympathischen Ruhezustand: Puls und Blutdruck sinken, Stresshormonspiegel gehen zurück. Langfristig kann eine erfüllende Sexualität so zur Herz-Kreislauf-Gesundheit beitragen.
Der Orgasmus ist also nicht nur "nice to have", sondern tief in körperliche Regelsysteme eingebettet – von Immunsystem über Schmerz bis Stressbewältigung.
Wenn der Höhepunkt ausbleibt – und was moderne Therapie tun kann
Natürlich funktioniert dieses komplexe System nicht immer reibungslos. Anorgasmie, vorzeitige Ejakulation oder seltene Syndrome wie das Post-Orgasmic Illness Syndrome können das sexuelle Erleben erheblich einschränken.
Anorgasmie beschreibt die anhaltende Unfähigkeit, trotz ausreichender Stimulation zum Orgasmus zu kommen. Sie kann lebenslang bestehen oder erst später auftreten, situativ (z.B. nur beim Partnersex, nicht bei Selbstbefriedigung) oder generalisiert sein. Die Ursachen reichen von Medikamenten (vor allem bestimmte Antidepressiva) über Traumata, strenge Sexualmoral, Beckenbodenprobleme bis hin zu Partnerschaftsdynamiken. Wichtig: Es ist eine echte medizinische Diagnose – keine Charakterschwäche.
Auf der anderen Seite steht die vorzeitige Ejakulation bei Männern – meist definiert als Ejakulation innerhalb von weniger als einer Minute nach Penetration, verbunden mit Leidensdruck. Neurophysiologisch spielt hier unter anderem das Serotoninsystem eine Rolle; psychologisch häufig Leistungsdruck und Angst.
Ein extrem seltenes, aber eindrückliches Beispiel ist das Post-Orgasmic Illness Syndrome (POIS): Minuten bis Stunden nach dem Orgasmus entwickeln Betroffene grippeähnliche Symptome, extreme Erschöpfung, kognitiven Nebel. Vermutet werden Autoimmunprozesse oder eine Fehlregulation von Entzündungsmediatoren und Hormonen. Die Existenz solcher Störungen zeigt, wie tief der Orgasmus in Immun- und Neuroendokrinsystem eingreift.
Therapeutisch hat sich der Fokus in den letzten Jahrzehnten deutlich verschoben. Drei Ansätze stechen heraus:
Sensate Focus – ein berührungsbasierter Ansatz, der von Masters und Johnson entwickelt wurde. Paare üben in mehreren Stufen, sich zu berühren, zunächst ohne Genitalien, ohne Ziel "Orgasmus" oder Penetration. Das nimmt den Druck, reduziert Spectatoring und verknüpft Berührung wieder mit Neugier statt mit Bewertung.
Achtsamkeitsbasierte Sexualtherapie – Achtsamkeitstraining für den sexuellen Kontext. Der Fokus liegt darauf, Gedanken (z.B. "Ich darf nicht versagen") zu bemerken, ohne ihnen zu folgen, und die Aufmerksamkeit immer wieder in den Körper zurückzubringen. Studien zeigen, dass das insbesondere bei Frauen mit Erregungsstörungen und geringem Verlangen hilft und die Kongruenz zwischen körperlicher Erregung und subjektiver Lust verbessert.
Beckenbodenrehabilitation – weil der Orgasmus letztlich ein koordinierter Muskelreflex ist, können zu verspannte oder zu schwache Beckenbodenmuskeln ihn stören. Physiotherapie, Biofeedback, gezielte Entspannungsübungen ("Reverse Kegels") oder Kräftigung können hier viel bewirken.
Gemeinsam ist all diesen Ansätzen: Sie betrachten den Orgasmus nicht mehr als reines "Output-Problem" ("Wie tricksen wir den Körper, dass er endlich kommt?"), sondern als Ergebnis eines Zusammenspiels von Nervensystem, Muskeltonus, Aufmerksamkeit, Beziehung und Kultur.
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Orgasmus als Zusammenspiel von Körper, Gehirn und Gesellschaft
Am Ende fügt sich das Bild zusammen: Der menschliche Orgasmus ist kein einfacher Reflex, den man "anwerfen" kann, sondern eine emergente Eigenschaft eines bestimmten Zustands – hoher Erregung, niedriger Hemmung, emotionaler Sicherheit und guter Kommunikation. Die Neurobiologie des Orgasmus zeigt, wie fein abgestimmt Hirnregionen und Botenstoffe zusammenspielen; die Anatomie von CUV-Komplex, Prostata und Beckenboden erklärt, warum es so viele unterschiedliche Wege zum Höhepunkt gibt; soziale Skripte und psychologische Faktoren machen klar, warum Lust in manchen Konstellationen leichter fließt als in anderen.
Wenn wir das ernst nehmen, verschiebt sich auch der Blick auf sexuelle "Leistung": Weg von der fixen Idee, dass jeder Sex mit einem Orgasmus enden müsse, hin zu einer neugierigen, realistischeren Haltung. Therapie, Aufklärung und offene Kommunikation können nicht nur Störungen lindern, sondern auch den Orgasmus-Gap verkleinern – und damit die gesundheitlichen und bindungsfördernden Effekte dieser intensiven menschlichen Erfahrung allen zugänglicher machen.
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Quellen:
Human sexual response cycle – https://en.wikipedia.org/wiki/Human_sexual_response_cycle
Phases of the Sexual Response Cycle – https://scholar.valpo.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1061&context=psych_fac_pub
Sexual Desire and Arousal: The Nonlinear Model – https://www.obgproject.com/2017/01/30/sexual-desire-arousal-nonlinear-model/
The Female Sexual Response: A Different Model – https://www.tandfonline.com/doi/pdf/10.1080/009262300278641
What Happens in Your Brain During Orgasm? – https://www.verywellmind.com/what-happens-in-your-brain-during-orgasm-5272518
How Does Our Brain Generate Sexual Pleasure? – https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC10903593/
Orgasm – https://en.wikipedia.org/wiki/Orgasm
Biology of Female Sexual Function – https://www.bumc.bu.edu/sexualmedicine/physicianinformation/biology-of-female-sexual-function/
The whole versus the sum of some of the parts: clitoral versus vaginal orgasms – https://www.tandfonline.com/doi/full/10.3402/snp.v6.32578
Men versus women on sexual brain function – https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC6871190/
Multiple Orgasms in Men – https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/27872023/
Orgasm gap – https://en.wikipedia.org/wiki/Orgasm_gap
Climax as Work: Heteronormativity, Gender Labor, and the Gender Gap in Orgasms – https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC8847982/
Spectatoring – https://en.wikipedia.org/wiki/Spectatoring
The Evolution of Female Orgasm: Adaptation or Byproduct? – https://www.researchgate.net/publication/6994487_The_Evolution_of_Female_Orgasm_Adaptation_or_Byproduct
Orgasm: What is an Orgasm, Types of Orgasms & Health Benefits – https://my.clevelandclinic.org/health/articles/22969-orgasm
The Health Benefits of Sexual Expression – https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC10903655/
Anorgasmia: Causes, Symptoms, Diagnosis & Treatment – https://my.clevelandclinic.org/health/diseases/24640-anorgasmia
Premature Ejaculation – https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK546701/
Post orgasmic illness syndrome (POIS) – https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC5001999/
Sensate Focus – https://health.cornell.edu/sites/health/files/pdf-library/sensate-focus.pdf
Mindfulness-Based Therapies for Sexual Dysfunction – https://stressandimmunity.osu.edu/images/sipc/PublishedMeasures/SSS_Female_Article_4.pdf
Assessment of the effect of mindfulness monotherapy on sexual dysfunction – https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC10243933/
Pelvic Floor Muscles: Anatomy, Function & Conditions – https://my.clevelandclinic.org/health/body/22729-pelvic-floor-muscles
Pelvic Floor Muscle Parameters and Sexual Function – https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC6963109/








































































































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