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Eisegese

Theologie

Eisegese (altgriechisch: εἰς [eis] „hinein“ und ἡγεῖσθαι [hegeisthai] „führen, leiten“) bezeichnet eine Methode der Textinterpretation, bei der eigene Gedanken, Vorurteile, Wünsche oder moderne Konzepte in den Text hineingelesen werden, anstatt die ursprüngliche Bedeutung des Autors oder des Textes selbst zu ermitteln. Sie ist das genaue Gegenteil der Exegese (altgriechisch: ἐξ [ex] „aus, heraus“), deren Ziel es ist, die Bedeutung aus dem Text herauszulesen und zu erschließen und dabei den historischen, kulturellen und sprachlichen Kontext umfassend zu berücksichtigen. Während die Exegese versucht, objektiv und kontextbezogen zu arbeiten, führt die Eisegese zu einer subjektiven und oft verzerrten Interpretation, die den Text für eigene Zwecke instrumentalisiert und damit seine Authentizität und ursprüngliche Aussagekraft untergräbt.


Das Hauptproblem der Eisegese liegt in der fundamentalen Verzerrung der ursprünglichen Botschaft, was gravierende Konsequenzen für das Verständnis und die Anwendung des Textes haben kann. Anstatt sich dem Text und seinem historischen, kulturellen und sprachlichen Kontext demütig zu öffnen, projiziert der Interpret seine eigene Weltsicht, seine persönlichen Überzeugungen oder seine vorgefassten Meinungen auf den Text. Dies kann unbewusst geschehen, etwa durch unreflektierte Vorannahmen, die jeder Mensch aufgrund seiner Sozialisation und seines Wissensstandes mitbringt, oder aber bewusst, um eine bestimmte Agenda, eine theologische Position oder eine politische Ideologie zu untermauern. Besonders in religiösen Kontexten, wie der Bibelauslegung, kann Eisegese dazu führen, dass biblische Aussagen missverstanden oder gar missbraucht werden, um persönliche Ansichten, doktrinäre Überzeugungen oder sogar diskriminierende Praktiken zu rechtfertigen, die der ursprünglichen Absicht des Textes oder dem ethischen Kern der Botschaft fundamental widersprechen.


Eisegese manifestiert sich in verschiedenen, oft subtilen Formen. Ein klassisches Beispiel ist der Anachronismus, bei dem moderne Konzepte, wissenschaftliche Erkenntnisse oder zeitgenössische moralische Vorstellungen in alte Texte hineingedeutet werden, die diese Konzepte noch gar nicht kannten oder in einem völlig anderen Bedeutungsrahmen verwendeten. So könnten beispielsweise naturwissenschaftliche Beschreibungen oder detaillierte historische Fakten aus biblischen Schöpfungsberichten herausgelesen werden, obwohl der Text primär theologische Aussagen über Gottes Rolle als Schöpfer und das Verhältnis von Mensch und Schöpfung treffen wollte, ohne naturwissenschaftliche Erklärungsmodelle anzubieten. Ein weiteres, weit verbreitetes Beispiel ist das sogenannte "Proof-Texting" oder "Beweisstellen-Methode", bei dem einzelne Verse oder Satzfragmente aus ihrem größeren Kontext gerissen werden, um eine bestimmte Lehre oder Argumentation zu belegen, ohne den gesamten Argumentationsgang des Autors, das literarische Genre oder die unmittelbaren umgebenden Verse zu berücksichtigen. Auch die Überinterpretation von Symbolik, die Vernachlässigung des literarischen Genres (z.B. Poesie als Prosa lesen) oder die Ignoranz der historischen Entwicklung von Begriffen und Ideen können zu eisegetischen Fehlinterpretationen führen, die den Text seiner eigentlichen Kraft und Botschaft berauben.


Um Eisegese zu vermeiden und eine möglichst objektive und authentische Textinterpretation zu gewährleisten, ist eine disziplinierte und methodische Herangehensweise an den Text unerlässlich. Dies beinhaltet eine sorgfältige philologische Analyse des sprachlichen und grammatikalischen Aufbaus, die umfassende Berücksichtigung des historischen, sozialen und kulturellen Kontextes zur Zeit der Entstehung des Textes, das Verständnis des literarischen Genres und seiner Konventionen sowie die kohärente Einordnung des zu interpretierenden Abschnitts in das Gesamtwerk und die theologische oder philosophische Denkweise des Autors. Ziel ist es stets, die vom Autor intendierte Bedeutung so präzise wie möglich zu rekonstruieren und die Botschaft des Textes in ihrer ursprünglichen Form zu erfassen. Dies erfordert oft das bewusste Überwinden eigener Vorurteile, die kritische Reflexion über die eigenen Vorannahmen und die Bereitschaft, die eigene Sichtweise durch den Text in Frage stellen zu lassen, anstatt den Text der eigenen Sichtweise anzupassen. Die eisegetische Lesart ist somit das Gegenteil einer demütigen, forschenden und textzentrierten Haltung gegenüber dem literarischen oder religiösen Erbe.


Obwohl der Begriff "Eisegese" primär in der Theologie, insbesondere der biblischen Hermeneutik, geprägt wurde und dort seine schärfste Definition findet, ist das zugrunde liegende Phänomen der voreingenommenen oder projizierenden Interpretation in vielen anderen wissenschaftlichen und alltäglichen Bereichen von großer Relevanz. In der Literaturwissenschaft kann sie zur Verfälschung der Autorenintention und einer ahistorischen Rezeption führen; in der Rechtswissenschaft zur Fehlinterpretation von Gesetzen und Präzedenzfällen, was weitreichende Konsequenzen für die Rechtsprechung haben kann; und in der Geschichtswissenschaft zur selektiven Wahrnehmung und Verzerrung von historischen Ereignissen, um bestimmte Narrative zu stützen oder zu widerlegen. Überall dort, wo Texte, historische Quellen, Kunstwerke oder menschliche Handlungen interpretiert werden müssen, besteht die latente Gefahr, dass eigene Annahmen, Erwartungen oder Wünsche die objektive Erschließung der Bedeutung überlagern und zu einer verzerrten Wahrnehmung führen. Eine kritische Selbstreflexion über die eigenen Interpretationsmuster und die bewusste Anwendung hermeneutischer Prinzipien ist daher ein wesentlicher Bestandteil jeder seriösen Analyse und jeder fundierten Meinungsbildung.

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