Das Kallmann-Syndrom (KS) ist eine seltene genetisch bedingte Erkrankung, die durch die Kombination eines hypogonadotropen Hypogonadismus (HH) mit einer Anosmie (völliger Verlust des Geruchssinns) oder Hyposmie (teilweiser Verlust des Geruchssinns) gekennzeichnet ist. Es handelt sich um eine Entwicklungsstörung, bei der die GnRH-produzierenden Neuronen (Gonadotropin-Releasing Hormon) während der Embryonalentwicklung nicht korrekt von der Riechplatte in den Hypothalamus wandern. Dieser Migrationsfehler führt zu einem Mangel an GnRH, einem Schlüsselhormon, das die Freisetzung von Luteinisierendem Hormon (LH) und Follikel-stimulierendem Hormon (FSH) aus der Hypophyse steuert. Die Folge ist eine unzureichende Produktion von Sexualhormonen (Testosteron bei Männern, Östrogen und Progesteron bei Frauen), was das Ausbleiben oder die unvollständige Entwicklung der Pubertät sowie Unfruchtbarkeit zur Folge hat. Die gleichzeitig betroffenen Riechneuronen erklären den Geruchsverlust.
Die genetische Ursache des Kallmann-Syndroms ist sehr heterogen, was bedeutet, dass Mutationen in verschiedenen Genen die Krankheit auslösen können. Zu den am häufigsten identifizierten Genen gehören KAL1 (X-chromosomal vererbt, oft mit assoziierten neurologischen Symptomen wie Synkinesie), FGFR1 (autosomal-dominant, eine der häufigsten Formen), PROK2 und PROKR2. Weitere Gene wie CHD7, FGF8, SEMA3A und andere wurden ebenfalls als ursächlich identifiziert. Die Vererbungsmuster können X-chromosomal-rezessiv, autosomal-dominant oder autosomal-rezessiv sein, was die klinische Variabilität der Erkrankung erklärt. Die Prävalenz wird auf etwa 1 von 10.000 Männern und 1 von 50.000 Frauen geschätzt, wobei Männer häufiger und schwerer betroffen zu sein scheinen.
Die klinische Manifestation des Kallmann-Syndroms ist vielfältig, aber die Kernsymptome sind immer der hypogonadotrope Hypogonadismus und die Anosmie/Hyposmie. Bei Jungen äußert sich der Hypogonadismus durch das Ausbleiben des Stimmbruchs, fehlenden Bartwuchs, ausbleibendes Wachstum des Penis und der Hoden sowie eine fehlende Entwicklung der Muskulatur und Knochendichte. Bei Mädchen äußert sich dies durch das Ausbleiben der Brustentwicklung und der Menarche (erste Regelblutung). Beide Geschlechter sind ohne Behandlung unfruchtbar. Die Anosmie ist oft kongenital und vollständig, kann aber auch als Hyposmie (verminderter Geruchssinn) vorliegen. Viele Patienten bemerken den Geruchsverlust erst, wenn sie darauf angesprochen werden oder im Rahmen der Pubertätsdiagnostik.
Neben den reproduktiven und olfaktorischen Symptomen können weitere assoziierte Anomalien auftreten, die die Diagnose komplexer machen können. Dazu gehören neurologische Auffälligkeiten wie Synkinesie (Spiegelbewegungen, z.B. wenn eine Hand eine Bewegung ausführt, führt die andere Hand ungewollt die gleiche Bewegung aus), Nierenagenesie (Fehlen einer Niere), Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, Zahnanomalien (z.B. fehlende Zähne), Hörverlust, Skelettanomalien (z.B. Kurzfingrigkeit oder Klumpfuß), Herzfehler und in seltenen Fällen auch eine zerebelläre Ataxie. Das Vorhandensein dieser Begleitsymptome kann je nach zugrunde liegender Genmutation variieren und ist nicht bei allen Patienten zu finden.
Die Diagnose des Kallmann-Syndroms basiert auf der klinischen Präsentation (verzögerte Pubertät und Geruchsverlust), Hormonanalysen (niedrige Spiegel von LH, FSH, Testosteron/Östrogen bei normalen oder niedrigen GnRH-Spiegeln), olfaktorischen Tests zur Bestätigung der Anosmie und bildgebenden Verfahren. Ein MRT des Gehirns kann fehlende oder hypoplastische (unterentwickelte) Riechkolben und Riechrinnen aufzeigen, was ein charakteristisches Merkmal ist. Eine genetische Testung ist zur Bestätigung der Diagnose und zur Identifizierung der spezifischen Genmutation hilfreich, insbesondere für die genetische Beratung der Familie.
Die Behandlung des Kallmann-Syndroms zielt darauf ab, die Pubertät einzuleiten und die sekundären Geschlechtsmerkmale zu entwickeln sowie die Fertilität zu ermöglichen. Dies geschieht in der Regel durch eine Hormonersatztherapie (HRT). Bei Männern wird Testosteron verabreicht, um die Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale, die Knochendichte und die Libido zu fördern. Bei Frauen werden Östrogene und Progesterone eingesetzt, um die Brustentwicklung und den Menstruationszyklus zu induzieren. Zur Behandlung der Unfruchtbarkeit kann bei beiden Geschlechtern eine pulsatile GnRH-Therapie oder eine direkte Gonadotropin-Therapie (Injektionen von LH und FSH) eingesetzt werden, um die Spermatogenese bei Männern bzw. die Ovulation bei Frauen zu stimulieren. Die Prognose ist mit adäquater Hormontherapie gut, und die Betroffenen können ein weitgehend normales Leben führen, obwohl der Geruchsverlust in der Regel bestehen bleibt. Eine lebenslange Nachsorge ist wichtig, um die Knochendichte zu überwachen und mögliche Begleiterkrankungen zu managen.