Der Karyotyp bezeichnet die Gesamtheit der Chromosomen eines Organismus oder einer Zelle, die nach einer standardisierten Anordnung präsentiert werden. Diese Anordnung erfolgt typischerweise in einer Metaphaseplatte, bei der die Chromosomen nach Größe, Zentromerposition und charakteristischen Bandenmustern sortiert und nummeriert werden. Jede Spezies besitzt einen charakteristischen Karyotyp, der die Anzahl und die morphologischen Merkmale ihrer Chromosomen widerspiegelt. Beim Menschen besteht ein normaler diploider Karyotyp aus 46 Chromosomen, aufgeteilt in 22 Paare autosomaler Chromosomen (nummeriert von 1 bis 22) und ein Paar Geschlechtschromosomen (XX für weiblich, XY für männlich). Die visuelle Darstellung eines Karyotyps, oft als Karyogramm bezeichnet, ist ein wichtiges Werkzeug in der Zytogenetik.
Die Erstellung eines Karyotyps beginnt typischerweise mit der Gewinnung von Zellen, die sich aktiv teilen, wie beispielsweise Lymphozyten aus einer Blutprobe, Fibroblasten aus einer Hautbiopsie oder Zellen aus Amnionflüssigkeit oder Chorionzotten bei pränatalen Diagnosen. Diese Zellen werden in vitro kultiviert und durch die Zugabe von Substanzen wie Colchicin, das die Bildung des Spindelapparats hemmt, in der Metaphase des Zellzyklus arretiert. In dieser Phase sind die Chromosomen maximal kondensiert und unter dem Mikroskop sichtbar. Nach der Arretierung werden die Zellen einem hypotonen Schock unterzogen, um die Zellmembran zu sprengen und die Chromosomen freizusetzen, gefolgt von einer Fixierung. Anschließend werden die Chromosomen auf einem Objektträger ausgebreitet und gefärbt.
Die am häufigsten verwendete Färbemethode ist die Giemsa-Bänderung (G-Bänderung), die charakteristische helle und dunkle Bandenmuster entlang der Chromosomen erzeugt. Diese Bandenmuster sind für jedes Chromosom einzigartig und ermöglichen eine präzise Identifizierung und Zuordnung. Alternativ gibt es auch andere Färbemethoden wie die Q-Bänderung (Quinacrin-Fluoreszenz), die R-Bänderung (Reverse-Giemsa) oder die C-Bänderung (Zentromer-spezifisch). Nach der Färbung werden die Chromosomen unter einem Mikroskop fotografiert oder digital erfasst. Anschließend werden die einzelnen Chromosomen aus den Metaphasebildern ausgeschnitten, digital sortiert und paarweise nach der standardisierten Nomenklatur (z.B. nach der Denver-Konvention oder der ISCN – International System for Human Cytogenomic Nomenclature) angeordnet, um das finale Karyogramm zu erstellen.
Die Analyse des Karyotyps ist ein fundamentales diagnostisches Verfahren in der Humangenetik. Sie ermöglicht die Detektion von numerischen Chromosomenaberrationen, bei denen die Anzahl der Chromosomen verändert ist, wie z.B. bei Aneuploidien (Trisomien wie Down-Syndrom, Trisomie 21; Edwards-Syndrom, Trisomie 18; Patau-Syndrom, Trisomie 13) oder Monosomien (z.B. Turner-Syndrom, Monosomie X). Darüber hinaus können strukturelle Chromosomenaberrationen identifiziert werden, darunter Deletionen (Verlust von Chromosomenmaterial), Duplikationen (Verdopplung von Material), Translokationen (Austausch von Material zwischen nicht-homologen Chromosomen, z.B. Philadelphia-Chromosom bei chronischer myeloischer Leukämie), Inversionen (Umdrehung eines Chromosomenabschnitts) und Ringchromosomen. Diese Veränderungen können zu einer Vielzahl von angeborenen Fehlbildungen, Entwicklungsverzögerungen, intellektuellen Beeinträchtigungen, Unfruchtbarkeit oder einem erhöhten Krebsrisiko führen.
Jenseits der klinischen Diagnostik spielt die Karyotypanalyse eine wichtige Rolle in der Grundlagenforschung und der Evolutionsbiologie. Vergleichende Karyotypanalysen zwischen verschiedenen Arten ermöglichen Einblicke in evolutionäre Beziehungen und die Mechanismen der Artbildung. Durch den Vergleich von Chromosomenanzahl, -größe und Bandenmustern können Wissenschaftler gemeinsame Vorfahren identifizieren und Chromosomenrearrangements nachvollziehen, die im Laufe der Evolution stattgefunden haben. Zum Beispiel weisen Menschen und Schimpansen sehr ähnliche Karyotypen auf, mit dem bemerkenswerten Unterschied, dass das menschliche Chromosom 2 aus der Fusion zweier kleinerer Chromosomen hervorgegangen ist, die bei Schimpansen noch getrennt vorliegen. Auch in der Pflanzen- und Tierzucht wird der Karyotyp zur Identifizierung von Hybriden und zur Selektion von Merkmalen genutzt.
Trotz seiner Bedeutung hat die Karyotypanalyse auch ihre Grenzen. Die Auflösung der Methode ist auf Veränderungen beschränkt, die groß genug sind, um unter dem Lichtmikroskop sichtbar zu sein. Kleinere Deletionen, Duplikationen oder Punktmutationen, die nur wenige Basenpaare betreffen, können mit dieser Technik nicht erkannt werden. Für solche feineren genetischen Veränderungen sind molekularzytogenetische Methoden wie die Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) oder array-basierte Techniken wie die komparative genomische Hybridisierung (array-CGH) erforderlich, die eine höhere Auflösung bieten. Auch Mosaike, bei denen nur ein Teil der Zellen eine Chromosomenaberration aufweist, können je nach Ausmaß des Mosaiks schwer zu detektieren sein. Nichtsdestotrotz bleibt die Karyotypanalyse ein unverzichtbares Werkzeug zur umfassenden Bewertung der gesamten Chromosomenausstattung einer Zelle.