Die Kinetische Gastheorie ist ein grundlegendes Modell der Physik, das die makroskopischen Eigenschaften von Gasen, wie Druck, Temperatur und Volumen, aus der Bewegung und den Wechselwirkungen ihrer mikroskopischen Bestandteile, den Atomen oder Molekülen, ableitet. Sie stellt eine Brücke zwischen der klassischen Mechanik und der Thermodynamik dar und war historisch entscheidend für die Etablierung der Atomhypothese. Entwickelt wurde sie hauptsächlich im 19. Jahrhundert von Wissenschaftlern wie Rudolf Clausius, James Clerk Maxwell und Ludwig Boltzmann, die damit die Phänomene von Gasen auf eine mechanistische Grundlage stellten, anstatt nur empirische Gesetze zu verwenden.
Das Modell basiert auf einer Reihe von idealisierten Annahmen über das Verhalten der Gaspartikel. Erstens wird davon ausgegangen, dass ein Gas aus einer sehr großen Anzahl identischer Teilchen besteht, die sich in kontinuierlicher, zufälliger und schneller Bewegung befinden. Zweitens werden diese Teilchen als punktförmig oder zumindest mit vernachlässigbarem Eigenvolumen im Vergleich zum Gesamtvolumen des Gases betrachtet. Drittens wird angenommen, dass es zwischen den Teilchen keine anziehenden oder abstoßenden Kräfte gibt, außer während der kurzen Momente eines Zusammenstoßes. Viertens sind alle Kollisionen – sowohl zwischen den Teilchen untereinander als auch mit den Wänden des Behälters – vollkommen elastisch, was bedeutet, dass sowohl die Gesamtenergie als auch der Gesamtimpuls vor und nach dem Stoß erhalten bleiben. Die Zeit, die für einen Stoß benötigt wird, ist im Vergleich zur Zeit zwischen den Stößen vernachlässigbar.
Aus diesen Annahmen lassen sich wichtige makroskopische Größen ableiten. Der Druck eines Gases beispielsweise entsteht durch die unzähligen Stöße der Gaspartikel mit den Wänden des Behälters. Jeder Stoß überträgt einen Impuls auf die Wand, und die Summe dieser Impulsübertragungen pro Zeiteinheit und Fläche ergibt den Druck. Eine der fundamentalsten Erkenntnisse der Kinetischen Gastheorie ist die Definition der Temperatur. Sie besagt, dass die absolute Temperatur eines Gases direkt proportional zur mittleren kinetischen Energie der Translationsbewegung seiner Teilchen ist. Das bedeutet, je schneller sich die Teilchen im Durchschnitt bewegen, desto höher ist die Temperatur des Gases.
Die Kinetische Gastheorie liefert eine mikroskopische Begründung für das ideale Gasgesetz (pV = nRT), das die Beziehung zwischen Druck (p), Volumen (V), Stoffmenge (n), Gaskonstante (R) und Temperatur (T) beschreibt. Obwohl die Theorie eine mittlere kinetische Energie der Teilchen annimmt, ist es wichtig zu verstehen, dass nicht alle Teilchen die gleiche Geschwindigkeit besitzen. Die Geschwindigkeiten der Teilchen folgen einer statistischen Verteilung, der sogenannten Maxwell-Boltzmann-Verteilung, die angibt, welcher Anteil der Teilchen welche Geschwindigkeit bei einer bestimmten Temperatur hat. Dies erklärt Phänomene wie die Verdampfung bei Temperaturen unter dem Siedepunkt, da immer einige Teilchen genügend Energie haben, um die Flüssigkeitsoberfläche zu verlassen.
Obwohl die Kinetische Gastheorie ein äußerst erfolgreiches Modell ist, hat sie ihre Grenzen. Die Annahmen eines idealen Gases sind bei hohen Drücken und niedrigen Temperaturen, wo das Eigenvolumen der Teilchen und die intermolekularen Kräfte nicht mehr vernachlässigbar sind, nicht mehr gültig. Für solche "realen Gase" müssen komplexere Modelle wie die Van-der-Waals-Gleichung oder andere Zustandsgleichungen herangezogen werden. Dennoch bleibt die Kinetische Gastheorie ein Eckpfeiler der modernen Physik. Sie bildet die Grundlage für die Statistische Mechanik, ermöglicht das Verständnis von Transportphänomenen wie Diffusion und Wärmeleitung in Gasen und war ein entscheidender Beweis für die Existenz von Atomen und Molekülen, was zu ihrer Zeit noch heftig debattiert wurde. Ihre Prinzipien finden Anwendung in vielen Bereichen, von der Astrophysik bis zur Ingenieurwissenschaft.