Der Xenofeminismus ist eine radikale, materialistische und technofeministische Strömung, die 2015 durch das Kollektiv Laboria Cuboniks mit dem Manifest „Xenofeminism: A Politics for Alienation“ ins Leben gerufen wurde. Im Kern fordert der Xenofeminismus eine fundamentale Neugestaltung der Gesellschaft und der Geschlechterrollen unter bewusster Nutzung und Umgestaltung technologischer Mittel. Er lehnt die Vorstellung einer „Natur“ als feststehende, normative oder gar repressive Kategorie ab und betrachtet sie stattdessen als ein politisches Konstrukt, das oft zur Rechtfertigung von Ungleichheit und Unterdrückung dient. Das „Xeno“ im Namen verweist auf das Fremde, das Künstliche, das Nicht-Natürliche und signalisiert den Wunsch, über biologische oder soziale Determinismen hinauszugehen.
Ein zentraler Pfeiler des Xenofeminismus ist sein anti-naturalistischer Ansatz. Er kritisiert die naturalisierende Tendenz in vielen gesellschaftlichen Diskursen, die Geschlechtsidentitäten, sexuelle Orientierungen oder soziale Rollen als „natürlich“ und damit unveränderlich darstellt. Für Xenofeministinnen ist die „Natur“ kein Ort der Authentizität oder Befreiung, sondern ein Terrain, das historisch und kulturell geformt und oft zur Aufrechterhaltung patriarchaler und kapitalistischer Strukturen missbraucht wurde. Statt sich in einer vermeintlich natürlichen Ordnung zu verorten, plädiert der Xenofeminismus dafür, die Grenzen des Natürlichen aktiv zu überschreiten und zu manipulieren, um neue Formen des Seins und der Gemeinschaft zu ermöglichen. Er sieht Geschlecht nicht als biologische Gegebenheit, sondern als eine Form von Technologie, die dekonstruiert und neu konfiguriert werden kann.
Die Rolle der Technologie ist im Xenofeminismus von entscheidender Bedeutung. Anders als viele kritische Ansätze, die Technologie als inhärent repressiv oder als Werkzeug des Kapitalismus betrachten, sieht der Xenofeminismus in ihr ein mächtiges Instrument zur Befreiung. Er plädiert für die Aneignung und Umgestaltung von Technologien – von Reproduktionstechnologien über Automatisierung bis hin zu KI – um patriarchalische, rassistische und kapitalistische Strukturen zu demontieren. Dabei wird Rationalität nicht als ein männlich konnotiertes oder patriarchalisch vereinnahmtes Konzept abgelehnt, sondern als ein universelles Werkzeug zurückerobert, das für emanzipatorische Zwecke eingesetzt werden kann. Die „Alienation“, die Entfremdung von vermeintlich natürlichen oder vorgegebenen Identitäten und Rollen, wird dabei als produktive Kraft verstanden, die das Potenzial zur Schaffung neuer, befreiter Subjektivitäten birgt.
Der Xenofeminismus übt auch Kritik an bestimmten Strömungen innerhalb des Feminismus, insbesondere an jenen, die sich zu stark auf Identitätspolitik konzentrieren und dabei Gefahr laufen, essentialistische Kategorien zu reproduzieren oder die universellen Aspekte der Unterdrückung zu vernachlässigen. Das Ziel ist nicht nur die Gleichheit innerhalb bestehender Systeme, sondern eine radikale Transformation der gesamten gesellschaftlichen Matrix, die Geschlecht, Reproduktion, Arbeit und Ökonomie umfasst. Er träumt von einer Zukunft, in der die Grenzen zwischen Mensch und Maschine, Natur und Technik, Männlich und Weiblich fließend und verhandelbar sind, um eine wirklich post-geschlechtliche Gesellschaft zu ermöglichen. Diese Transformation soll kollektiv und transversal erfolgen, um die komplexen Verflechtungen von Unterdrückung zu adressieren.
In der Praxis könnten xenofeministische Ansätze die Entwicklung und den Einsatz von Reproduktionstechnologien wie künstliche Gebärmütter umfassen, um die biologische Last der Schwangerschaft von Frauen zu lösen, oder die Automatisierung von Hausarbeit, um traditionelle Geschlechterrollen zu untergraben. Kritiker werfen dem Xenofeminismus manchmal technologischen Determinismus, mangelnde Berücksichtigung der sozialen Realitäten von Marginalisierung oder die Gefahr vor, neue Formen der Kontrolle und Überwachung durch Technologie zu schaffen. Dennoch betont der Xenofeminismus stets, dass Technologie kein Selbstzweck ist, sondern ein Werkzeug, dessen Einsatz politisch und ethisch reflektiert und kollektiv gesteuert werden muss, um emanzipatorische Ziele zu erreichen und nicht nur bestehende Hierarchien neu zu verpacken.
Der Xenofeminismus hat seit seiner Veröffentlichung eine lebhafte Debatte in der feministischen Theorie, der Philosophie und den Gender Studies ausgelöst. Er hat maßgeblich dazu beigetragen, die Diskussion über die Rolle der Technologie in der Geschlechterpolitik neu zu beleben und eine Brücke zwischen radikalem Feminismus, Posthumanismus und kritischer Theorie zu schlagen. Sein Aufruf zur aktiven Gestaltung einer post-naturalistischen Zukunft und zur Nutzung von Technologie als Mittel der Befreiung bleibt eine provokante und einflussreiche Perspektive, die das Potenzial hat, unser Verständnis von Geschlecht, Körper und Gesellschaft grundlegend zu verändern und neue Wege der kollektiven Emanzipation zu denken.