Wenn Wissenschaft Märchen widerlegt – und neue Mythen schafft
- Benjamin Metzig
- 8. Mai
- 10 Min. Lesezeit

Hand aufs Herz, wer von uns liebt sie nicht, die alten Märchen? Geschichten von tapferen Helden, verwunschenen Prinzessinnen, sprechenden Tieren und finsteren Wäldern. Sie haben uns als Kinder verzaubert und begleiten uns oft ein Leben lang, voller Magie, Abenteuer und uralter Weisheiten. Doch was passiert, wenn der kühl-analytische Blick der Wissenschaft auf diese fantastischen Erzählungen trifft? Wenn Physik, Biologie, Medizin und Psychologie beginnen, die Wunder zu hinterfragen, die Flüche zu erklären und die Monster zu diagnostizieren? Man könnte meinen, die Wissenschaft entzaubert die Märchenwelt, nimmt ihr den Glanz und reduziert sie auf nüchterne Fakten. Aber – und das finde ich unglaublich spannend – vielleicht ist es gar nicht so einfach. Könnte es sein, dass die Wissenschaft, während sie versucht, alte Mythen zu widerlegen, unbeabsichtigt ganz neue, eigene Narrative erschafft? Begleite mich auf einer Reise durch dieses verblüffende Spannungsfeld zwischen Forschung und Folklore, zwischen Entzauberung und vielleicht einer ganz neuen Art von Verzauberung.
Klar, auf den ersten Blick scheint die Sache eindeutig: Wissenschaft konfrontiert das Wunderbare oft frontal. Wie soll eine Prinzessin eine winzige Erbse durch zwanzig Matratzen und zwanzig Eiderdaunendecken spüren können? Reine Physik, nicht wahr? Oder kann ein Wolf wirklich durch Pusten ein stabiles Holzhaus zum Einsturz bringen? Aerodynamik und Materialwissenschaft sagen wohl eher nein. Und die Verwandlung eines Kürbisses in eine prächtige Kutsche? Biologie und Chemie schütteln da energisch den Kopf. Diese Art der "Widerlegung" ist oft in populärwissenschaftlichen Formaten zu finden, besonders wenn es darum geht, Kindern grundlegende Naturgesetze nahezubringen. Märchen funktionieren ja gerade durch ihre "Eindimensionalität" – das Magische wird einfach akzeptiert, nicht hinterfragt. Die Wissenschaft hingegen basiert auf Kausalität, auf materieller Erklärbarkeit. Diese Konfrontation führt unweigerlich zu dem Schluss: Vieles im Märchen ist nach unserem heutigen Verständnis schlicht "unmöglich". Aber ist das schon die ganze Geschichte? Reduziert dieser Fokus auf physikalische Unmöglichkeiten nicht die tiefere Bedeutung der Märchen und vielleicht auch das, was Wissenschaft leisten kann?

Jetzt wird's richtig spannend, denn die Wissenschaft versucht nicht nur, das physikalisch Unmögliche aufzuzeigen, sondern auch, die oft unheimlichen oder magischen Elemente medizinisch oder physiologisch zu deuten. Nehmen wir den Werwolf. Sofort kommen einem Bilder von dramatischen Verwandlungen bei Vollmond in den Sinn. Forscher haben da natürlich nach handfesteren Erklärungen gesucht. Eine seltene Krankheit namens Hypertrichose, die zu extremem Haarwuchs führt, wurde ins Spiel gebracht – das sogenannte "Werwolf-Syndrom". Optisch passt das vielleicht entfernt, aber es erklärt weder die Aggressivität noch die zyklischen Verwandlungen. Plausibler erscheint da schon die Tollwut, eine Viruserkrankung, die zu Aggression, Verwirrung und übermäßigem Speichelfluss führen kann. Könnten historische Berichte über "Werwölfe" also eigentlich Berichte über tollwütige Menschen oder Tiere gewesen sein? Möglich, aber wahrscheinlich nicht die einzige Wurzel des komplexen Mythos. Ähnlich spekulativ sind die Erklärungen für Vampire: Die Stoffwechselkrankheit Porphyrie kann zu Lichtempfindlichkeit, Blässe und Hautveränderungen führen, was vage an Vampirbeschreibungen erinnert. Aber auch hier gilt: Eine seltene Krankheit als alleinige Erklärung für einen so reichen Mythos? Das greift wohl zu kurz.
Mögliche Erklärungen für folkloristische Figuren
Folkloristische Figur/Phänomen | Mögliche Medizinische/Biologische Erklärung(en) | Einschränkungen der Erklärung |
Werwolf | Hypertrichose ("Werwolf-Syndrom"): Übermäßiger Haarwuchs. Tollwut: Aggression, Verwirrung, Speichelfluss, Übertragung durch Biss. Porphyrie (selten): Lichtempfindlichkeit, Blässe, Hautveränderungen (manchmal spekulativ mit Vampiren assoziiert). | Hypertrichose erklärt keine Verhaltensänderungen. Tollwut erklärt nicht die zyklische Verwandlung oder spezifische Mythologie. Porphyrie ist extrem selten. |
Vampir | Porphyrie: Symptome wie Lichtempfindlichkeit, Blässe, rötliche Zähne, Zahnfleischrückgang (längere Zähne). Tollwut: Kann ebenfalls einige Symptome erklären (Aggression, Lichtscheu). Anämie/Tuberkulose (historisch): Blässe, Schwäche, Bluthusten. | Porphyrie ist sehr selten, Verbindung spekulativ. Tollwut erklärt nicht Blutsaugen oder Unsterblichkeit. Anämie/TB erklären nicht die übernatürlichen Aspekte. |
Hexerei/Verfluchung | Ergotismus (Mutterkornvergiftung): Halluzinationen, Krämpfe, Wahnvorstellungen, Gangrän. Halluzinogene Pflanzen: Einnahme kann zu als magisch interpretierten Erfahrungen führen. Psychische Erkrankungen: Unverstandene Symptome wurden als Besessenheit gedeutet. | Erklärt einzelne Symptome oder Ausbrüche, aber nicht die komplexe soziale/kulturelle Praxis der Hexenverfolgung. Pflanzenwirkung oft kontextabhängig. |
Besessenheit | Psychische Erkrankungen (z.B. Epilepsie, Schizophrenie, Dissoziative Identitätsstörung): Symptome wie Krämpfe, Stimmenhören, Persönlichkeitsveränderungen. Ergotismus (siehe oben). | Reduziert komplexe Glaubenssysteme auf Pathologie; ignoriert kulturelle Deutungsrahmen. |
Und was ist mit Hexen, Flüchen und Verzauberungen? Auch hier gibt es faszinierende wissenschaftliche Spuren. Eine ganz heiße Fährte ist der Ergotismus, auch bekannt als Antoniusfeuer. Diese Vergiftung entsteht durch den Verzehr von Getreide, das vom Mutterkornpilz befallen ist. Die darin enthaltenen Alkaloide können üble Symptome auslösen: Muskelkrämpfe, Halluzinationen, Wahnvorstellungen, sogar Gewebsnekrosen. Stell dir vor, in Zeiten von Hungersnöten, wenn die Menschen gezwungen waren, auch verdorbenes Getreide zu essen, kam es zu solchen Massenvergiftungen. Im damaligen Weltbild lag die Deutung als Hexenwerk oder göttliche Strafe nahe! Aber auch psychologische Effekte spielen eine Rolle: Der Nocebo-Effekt beschreibt, wie der feste Glaube daran, verflucht zu sein, tatsächlich negative körperliche Reaktionen hervorrufen kann – quasi ein Placebo-Effekt mit umgekehrtem Vorzeichen. Angst und negative Erwartung können Stresshormone freisetzen und Symptome auslösen oder verschlimmern. Das ist keine Einbildung, sondern hat messbare neurobiologische Grundlagen! Diese Suche nach medizinischen Erklärungen ist unglaublich aufschlussreich, birgt aber auch die Gefahr, die komplexen kulturellen und symbolischen Bedeutungen dieser Figuren auf eine reine "Fehldiagnose" zu reduzieren.

Neben der Medizin hat vor allem die Psychologie seit dem frühen 20. Jahrhundert die Deutung von Märchen revolutioniert. Psychoanalytiker wie Sigmund Freud und später Bruno Bettelheim sahen in Märchen einen Spiegel unbewusster Wünsche, Ängste und Konflikte, besonders aus der Kindheit. Der dunkle Wald wird zum Symbol für das Unbewusste, der böse Wolf zur Metapher für unterdrückte Triebe oder Gefahren. Bettelheim argumentierte eindrücklich, dass Märchen Kindern helfen, mit existenziellen Ängsten wie Trennung oder dem Bösen umzugehen, indem sie innere Konflikte nach außen projizieren und symbolische Lösungen anbieten. Denk an "Hänsel und Gretel" – die Angst vor dem Verlassenwerden und die Überwindung der bösen Hexe als Schritte zur Autonomie. Die Entwicklungspsychologie knüpft hier an und sieht Märchen als Begleiter wichtiger Entwicklungsschritte: Ablösung von den Eltern (Dornröschen), Identitätsfindung (Schneewittchen), Umgang mit Geschwisterrivalität (Aschenputtel).
Psychologische Deutungsansätze für Märchen
Psychoanalyse (z.B. Freud, Bettelheim):
Fokus auf unbewusste Wünsche, Ängste, Konflikte.
Symbolische Deutung von Elementen (Wald = Unbewusstes, Wolf = Triebhaftigkeit).
Bezug zu kindlichen Entwicklungsphasen (Ödipuskomplex, Trennungsangst).
Märchen als Hilfe zur Bewältigung innerer Konflikte.
Jung'sche Psychologie:
Deutung durch Archetypen (Held, Schatten, Anima/Animus, Weiser Alter).
Bezug zum kollektiven Unbewussten.
Entwicklungspsychologie:
Märchen als Spiegel kognitiver/emotionaler Entwicklungsstufen.
Thematisierung zentraler Entwicklungsaufgaben (Autonomie, Identität, Ablösung).
Förderung von Resilienz und Problemlösungskompetenz.
Sozialpsychologie:
Analyse sozialer Interaktionen und Dynamiken (Konformität, Gehorsam, Hilfeverhalten).
Thematisierung von Gerechtigkeitsvorstellungen, sozialen Vergleichen.
Kritik an Stereotypen und Rollenbildern (Geschlechterrollen).
Kognitive Psychologie:
Konzepte wie erlernte Hilflosigkeit, Resilienz, Copingstrategien.
Aber auch die Sozialpsychologie findet reichlich Material in Märchen: Konformität (der Vater in "Hänsel und Gretel"), Gruppendenken ("Des Kaisers neue Kleider"), Zivilcourage (der Jäger in "Schneewittchen"), Neid und soziale Vergleiche ("Frau Holle"). Selbst moderne Konzepte wie erlernte Hilflosigkeit oder Resilienz lassen sich anhand von Märchenfiguren diskutieren. Diese psychologischen Deutungen sind oft unglaublich erhellend und zeigen, wie tief Märchen menschliche Grunderfahrungen widerspiegeln. Doch Vorsicht: Die Gefahr besteht darin, moderne westliche Theorien auf alte Erzählungen aus ganz anderen Kulturen zu projizieren (Anachronismus!). Nehmen Märchen wirklich nur universelle psychologische Wahrheiten vorweg, oder übersehen wir damit ihre spezifischen historischen und sozialen Kontexte? Wenn die psychologische Deutung zur alleinigen Wahrheit erhoben wird, könnte sie selbst zu einem neuen, vereinfachten "Mythos" über den Zweck von Märchen werden. Wenn dich solche tiefen Einblicke in die Verbindung von Kultur, Geschichte und Wissenschaft faszinieren, dann ist mein monatlicher Newsletter genau das Richtige für dich! Du findest das Anmeldeformular oben auf der Seite – ich freue mich darauf, weitere Entdeckungen mit dir zu teilen.
Um das Verhältnis von Wissenschaft und Folklore richtig zu verstehen, müssen wir kurz einen Blick zurückwerfen. Diese Beziehung war nämlich alles andere als statisch. In der Antike und im Mittelalter waren das, was wir heute als Wissenschaft, Magie, Religion und Folklore trennen, oft eng verwoben. Erzählungen dienten der Erklärung, magische Rituale der Heilung, Flüche galten als real wirksam. Erst die Aufklärung im 17./18. Jahrhundert zog eine scharfe Trennlinie: Vernunft und Empirie auf der einen Seite, Aberglaube und Irrationalität auf der anderen. Folklore wurde abgewertet. Die Romantik im späten 18./frühen 19. Jahrhundert brachte dann die Wende: Ein neues Interesse an Gefühl, nationaler Identität und der "authentischen" Stimme des Volkes führte zur Wiederentdeckung und Sammlung von Folklore, allen voran durch die Brüder Grimm. Ihre Arbeit, obwohl nicht immer rein dokumentarisch, legte den Grundstein für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Märchen. Später etablierte sich die Folkloristik als eigene Disziplin, die versuchte, Ursprünge und Verbreitungswege von Erzählungen objektiv zu rekonstruieren (denk an den Aarne-Thompson-Uther-Index, der Märchentypen klassifiziert). Parallel dazu lieferten Psychologie und Anthropologie neue, oft universelle Deutungsrahmen.
Phasen der Beziehung zwischen Wissenschaft und Folklore
Antike/Mittelalter: Enge Verflechtung von frühem wissenschaftlichem Denken, Magie, Religion und narrativen Traditionen.
Aufklärung (ca. 17./18. Jh.): Abwertung der Folklore als Aberglaube/Irrationalität zugunsten von Vernunft und Empirie.
Romantik (spätes 18./frühes 19. Jh.): Wiederentdeckung und Idealisierung der Folklore als Ausdruck des "Volksgeistes" (z.B. Brüder Grimm); Beginn der systematischen Sammlung.
Spätes 19./frühes 20. Jh.: Etablierung der wissenschaftlichen Folkloristik (z.B. Finnische Schule, historisch-geographische Methode); neue Interpretationsansätze durch Psychologie (Freud, Jung) und Anthropologie.
Mitte 20. Jh. bis heute: Diversifizierung der Ansätze (Strukturalismus, Performance-Theorie, Gender Studies etc.); kritische Reflexion über Sammlungsprozesse und wissenschaftliche Konstruktion von Folklore; anhaltende Spannung zwischen historischen und universalisierenden Deutungen.
Dieser kurze historische Abriss zeigt: Wissenschaft analysiert Folklore nicht nur, sie formt auch unser Verständnis davon, was Folklore ist und wie wir sie deuten sollen. Jede wissenschaftliche Epoche bringt ihre eigenen Brillen und Werkzeuge mit. Und genau hier kommen wir zurück zur Kernfrage: Führt dieser Prozess der wissenschaftlichen Erklärung, insbesondere wenn er populärwissenschaftlich aufbereitet wird, zur Entstehung neuer, vereinfachter Narrative – quasi „moderner Mythen“? Nehmen wir nochmal die medizinischen Erklärungen für Werwölfe und Vampire. In Dokus oder Artikeln werden Krankheiten wie Porphyrie oder Tollwut oft als die Erklärung präsentiert. Die komplexe Figur, die kulturelle Ängste vor dem Animalischen, vor Krankheit oder dem Fremden bündelt, wird reduziert auf: „Ach, das waren nur arme Kranke.“ Das ist eine massive Vereinfachung, die der Figur ihre symbolische Tiefe raubt. Ähnlich bei den psychologischen Deutungen: Wenn jedes Märchenelement zwanghaft einem universellen psychologischen Schema zugeordnet wird, entsteht der Eindruck: „Märchen sind nur verklausulierte Psychologie-Lehrstunden.“ Das ignoriert andere Bedeutungsebenen.

Ein spannendes Beispiel ist auch die Forschung zur Arbeit der Brüder Grimm selbst. Lange galt der Mythos, sie hätten die Märchen direkt von einfachen Bäuerinnen und Handwerkern aufgeschrieben. Die Forschung zeigte aber, dass ihre Informantinnen oft gebildete Frauen aus dem Bürgertum waren, die Geschichten aus verschiedenen, auch literarischen Quellen kannten und weitererzählten. Die Grimms haben zudem stark bearbeitet und stilisiert. Die Wissenschaft hat also den alten „Mythos“ der reinen Volksüberlieferung korrigiert. Ironischerweise könnte aber auch diese Korrektur zu einem neuen Narrativ führen, das die tatsächlichen volkstümlichen Wurzeln, die ja trotzdem vorhanden waren, vielleicht unterbewertet. Ein modernes Beispiel für solche wissenschaftlich anmutenden Mythen sind vielleicht die starren Einteilungen in „Generationen“ (Boomer, Millennials, Gen Z). Obwohl soziologisch vage begründet, werden diese Kategorien oft benutzt, als wären es feste, homogene Gruppen mit klar definierten Eigenschaften – ein populärer Mythos mit wissenschaftlichem Anstrich.
Vergleich: Traditionelle vs. "Neue" (wissenschaftsbasierte) Narrative
Merkmal | Traditionelle Mythen/Märchentropen | Potenzielle "Neue Mythen" aus wissenschaftlicher Erklärung |
Kausalität | Übernatürlich, magisch, symbolisch | Naturalistisch, mechanistisch, oft reduktionistisch |
Erklärungsanspruch | Welterklärung, Sinnstiftung, soziale Normen, existenzielle Fragen | Rationalisierung, Entmystifizierung, spezifische Mechanismen |
Komplexität | Vielschichtig, mehrdeutig, symbolisch reich | Vereinfacht, auf Kernursache reduziert, oft eindeutig scheinend |
Autorität | Kulturelle Tradition, Glaube, kollektive Akzeptanz | Wissenschaftliche Methode, empirische Evidenz (oder deren Anschein) |
Bezug zu Ängsten/Wünschen | Tiefe, oft kollektive Ängste und Sehnsüchte | Fokus auf Diagnose, Erklärung, Kontrolle; manchmal Entkopplung von Tiefe |
Beispiel (Werwolf) | Ausdruck von Angst vor dem Tier im Menschen, Sexualität, Wildheit | Reduziert auf Symptome von Tollwut oder Hypertrichose |
Die Medien und die Populärwissenschaft spielen bei dieser möglichen Entstehung "neuer Mythen" eine riesige Rolle. Um komplexe Forschung verständlich zu machen, müssen sie vereinfachen. Das ist an sich nicht schlecht, aber oft gehen dabei Nuancen, Unsicherheiten und alternative Sichtweisen verloren. Eine spannende, aber spekulative Hypothese wird zur griffigen Schlagzeile oder zur eindeutigen Erklärung in einer Doku. Das Bedürfnis nach einer klaren Story und einfachen Antworten kann dazu führen, dass reduktionistische Erklärungen bevorzugt und mit einer Autorität präsentiert werden, die die tatsächliche wissenschaftliche Debatte verschleiert. So kann aus einer vorsichtigen wissenschaftlichen Vermutung („Manche Werwolf-Sichtungen könnten mit Tollwut zusammenhängen“) durch mediale Verbreitung die feste Überzeugung werden („Werwölfe waren Tollwütige“). Dieser Prozess überschreibt die ursprüngliche Vielschichtigkeit und schafft ein neues Narrativ, das zwar wissenschaftlich klingt, aber selbst mythische Züge der Vereinfachung und Totalisierung trägt.
Aber schafft die Wissenschaft damit wirklich neue Mythen? Der Begriff "Mythos" ist hier vielleicht etwas stark, denn traditionelle Mythen haben eine tiefere kulturelle und existenzielle Verankerung. Dennoch: Vereinfachte wissenschaftliche Erklärungen funktionieren ähnlich. Sie bieten Ordnung, geben (scheinbar) umfassende Antworten und stärken den Glauben an die Erklärungskraft der Wissenschaft. Man könnte auch argumentieren, dass es sich um notwendige Vereinfachungen für die Kommunikation handelt oder um Fehlinterpretationen durch die Medien, nicht durch die Wissenschaft selbst. Außerdem ist Folklore ja lebendig, sie passt sich an. In unserer wissenschaftsgeprägten Zeit ist es normal, dass wissenschaftliche Ideen in die Deutung alter Geschichten einfließen. Trotzdem bleibt die Kritik am Reduktionismus wichtig: Wenn wir ein Märchen nur noch als Fallbeispiel für eine Krankheit oder einen psychologischen Komplex sehen, verlieren wir seine kulturelle, historische und symbolische Dimension aus den Augen. Wir brauchen einen Ansatz, der wissenschaftliche Erkenntnisse nutzt, aber auch den Kontext, die Vieldeutigkeit und die menschliche Bedeutung der Geschichten würdigt.
Was bleibt also am Ende dieser Reise? Die Begegnung von Wissenschaft und Märchen ist kein Kampf, bei dem eine Seite gewinnen muss. Es ist ein fortwährendes, unglaublich faszinierendes Zusammenspiel. Die Wissenschaft gibt uns neue Werkzeuge an die Hand, um alte Geschichten zu beleuchten, ihre möglichen Ursprünge zu ergründen und ihre psychologische Tiefe zu verstehen. Aber Vorsicht ist geboten: Im Eifer der Erklärung und der Vereinfachung für ein breites Publikum können neue Narrative entstehen, die zwar wissenschaftlich daherkommen, aber die Magie und Vielschichtigkeit der Originale vielleicht auf eine neue Art "verzaubern" – oder eher verflachen. Letztlich zeigt uns diese ganze Debatte vor allem eines: Unsere tiefe menschliche Sehnsucht nach Geschichten. Egal ob alte Mythen, Volksmärchen oder die großen Narrative der Wissenschaft selbst – wir brauchen Erzählungen, um die Welt zu verstehen, Sinn zu finden und unsere Ängste und Hoffnungen zu verhandeln. Die Wissenschaft mag die Regeln der Welt erklären, aber die Geschichten sind es, die ihr Bedeutung verleihen. Und vielleicht, ganz vielleicht, entstehen gerade im Dialog zwischen beiden die spannendsten neuen Kapitel unserer menschlichen Sinnsuche.
Was denkst du darüber? Erschafft die Wissenschaft wirklich neue Mythen, oder ist das übertrieben? Lass mir gerne einen Like da, wenn dir der Beitrag gefallen hat, und teile deine Gedanken in den Kommentaren – ich bin gespannt auf deine Perspektive!
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Verwendete Quellen
Märchen-Erzählung im Kindergarten: Überlegungen unter dem Fokus des magischen Denkens von Kindern - Das Repository der Pädagogischen Hochschule St.Gallen - PHIQ - https://phsg.contentdm.oclc.org/digital/api/collection/p15782coll2/id/314/download
Märchen als pädagogische Phänomene. Masterarbeit - unipub - https://unipub.uni-graz.at/obvugrhs/download/pdf/227207?originalFilename=true
Psychologie im Märchen: Weshalb Kinder Märchen lesen sollten - https://www.maerchenbrause.de/maerchen/maerchen-psychologie
Märchen Merkmale: Alles, was du wissen musst - UNICUM Abi - https://abi.unicum.de/deutsch-im-abi/maerchen-merkmale
Was ist ein modernes Märchen? - FAU Erlangen-Nürnberg - https://www.fau.de/2020/07/news/wissenschaft/was-ist-ein-modernes-maerchen/
Märchen - Literatur - Kultur - Planet Wissen - https://www.planet-wissen.de/kultur/literatur/maerchen/index.html
Die Märchen Brüder Grimm. Eine psychologische Analyse. - Theses - https://theses.cz/id/jq5yk8/Die_Mrchen_der_Brder_Grimm__Eine_psychologische_Analyse_.pdf
Folklore und gesunkenes Kulturgut - https://d-nb.info/1162278757/34
Erzählforschung - Wikipedia - https://de.wikipedia.org/wiki/Erz%C3%A4hlforschung
Mythos - Wikipedia - https://de.wikipedia.org/wiki/Mythos
Grimms Märchen: Forscher entdeckt unbekannte Urfassungen +++ Mit Podcast - Uni Kassel - https://www.uni-kassel.de/uni/aktuelles/sitemap-detail-news/2023/12/12/grimms-maerchen-forscher-entdeckt-unbekannte-urschriften?cHash=7ecad994f2cd56770a09e3258bb30179
Die Mythen der Märchen - Deutschlandfunk Kultur - https://www.deutschlandfunkkultur.de/die-mythen-der-maerchen-100.html
Aus: - Marcus S. Kleiner, Thomas Wilke (Hg.) - Populäre Wissenschaftskulissen Über Wissenschaftsformate in Populären Medienkulturen - Zeithistorische Forschungen - https://zeithistorische-forschungen.de/sites/default/files/medien/material/2009-3/Mueller_2017.pdf
Märchen: Zwischen Tradition, Kritik und moderner Erzählung - Deutschlandfunk Kultur - https://www.deutschlandfunkkultur.de/maerchen-symbolik-tradition-kritik-moderner-umgang-gebrueder-grimm-100.html
"Dämonendiagnose": Behinderung, Sexismus und Antisemitismus in der mittelalterlichen Monster-Mythologie Nordeuropas - https://repository.brynmawr.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1004&context=theses
Vorsicht giftig!? - Zobodat - https://www.zobodat.at/pdf/OEKO_2020_01_0003-0019.pdf
Der Ergotismus – ein Ackerunkraut aus Mesopotamien wurde in Europa zum noch immer aktuellen Epidemie-Erreger - PMC - https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC10632199/
Placebo-und Nocebo-Effekt | AOK Sachsen-Anhalt - https://www.deine-gesundheitswelt.de/vorsorge-impfschutz/placebo-und-nocebo-effekt
Interpretationszugänge zu Grimms Märchen - Lehrerfortbildung-bw.de - https://lehrerfortbildung-bw.de/u_sprachlit/deutsch/gym/bp2016/fb7/06_maerchen/05_interpretation/
Psychologie der Märchen | springerprofessional.de - https://www.springerprofessional.de/psychologie-der-maerchen/12116110
Mythen, Märchen, Sagen – Was sie uns heute noch zu sagen haben - https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/fc/article/view/58996/50678
Millenials, 68er, Boomer: Das Generationenmärchen widerlegt - FehrAdvice & Partners AG - https://fehradvice.com/blog/2022/11/07/millenials-68er-boomer-das-generationenmaerchen-widerlegt/
Zum Verhältnis von Glauben, Philosophie und Naturwissenschaft - SciLogs - https://scilogs.spektrum.de/menschen-bilder/zum-verhaeltnis-von-glauben-philosophie-und-naturwissenschaft/
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