Intuitive Physik bei Tieren: Wenn Krähen, Affen & Oktopusse die Welt begreifen
- Benjamin Metzig
- vor 3 Tagen
- 6 Min. Lesezeit

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Intuitive Physik bei Tieren: Was steckt dahinter?
Unter intuitiver Physik verstehen Forschende kein Formelskript in F = m·a, sondern ein funktionales, implizites Verständnis davon, wie sich Dinge in der Welt verhalten: Was fällt, was schwimmt, was passt durch welche Öffnung, wie lässt sich etwas bewegen oder kombinieren, damit ein Ziel erreichbar wird. Diese Alltagsphysik hilft, Futter zu finden, Gefahren zu vermeiden und Umgebung zu gestalten – bei uns Menschen ebenso wie bei nicht-menschlichen Tieren.
Kognitionsforschung hat in den letzten Jahrzehnten einen Paradigmenwechsel erlebt: Weg vom Bild des auf Reize fixierten Automatons, hin zum Blick auf flexible Informationsverarbeitung. Dabei konkurrieren zwei Leitideen. Die eine sieht ein einheitliches kognitives System, entstanden vor allem wegen sozialer Komplexität. Die andere betrachtet Kognition als modularen Werkzeugkasten: Arten entwickeln spezialisierte „Module“ – für Nahrungssuche, Navigation, soziale Infos oder eben physikalische Problemlösung. Diese Sicht erklärt, warum eine Art in einem Bereich brillieren kann, in anderen aber erstaunliche Lücken zeigt.
Wie prüft man so etwas ohne Sprache? Ein Klassiker ist das „Violation of Expectation“-Paradigma: Man zeigt plausibel vs. unplausibel und misst Überraschung. Ergänzend setzen Forschende auf clever designte Handlungsaufgaben – und darauf, Morgans Kanon ernst zu nehmen: Erkläre Verhalten so einfach wie möglich (z. B. durch Lernen/Assoziation), bevor du höhere Prozesse wie Kausalverständnis annimmst. Genau dieser Spagat zwischen Kausalität und Assoziation durchzieht die Debatte – und macht die Ergebnisse umso spannender.
Gefiederte Ingenieur:innen: Werkzeuge, Wassertricks und die Grenzen der Einsicht
Rabenvögel – Krähen, Raben, Eichelhäher – sind berüchtigt für Hirnakrobatik. Einige Arten stellen Werkzeuge her, statt nur vorhandene zu nutzen. Die Geradschnabelkrähe biegt Haken aus Zweigen oder schneidet Pandanus-Blätter zu präzisen Greifwerkzeugen. Das impliziert Planung: Material wählen, Form antizipieren, Schritte in der richtigen Reihenfolge ausführen. Und sie gehen noch weiter: Metawerkzeuge. Ein kurzer Stock dient, um einen längeren zu angeln – der dann die Beute holt. Das ist Hierarchieplanung in Reinform.
Legendär ist das Äsop-Fabel-Paradigma. Problem: Eine Belohnung schwimmt in einem Wasserzylinder außer Reichweite. Lösung: Objekte einwerfen, Wasserstand heben, Belohnung greifen. Krähen & Co. zeigen dabei ein feines physikalisches Gespür: sinkende statt schwimmender Objekte, massiv statt hohl, Wasser statt Sand, große Steine zuerst, Zylinder mit höherem Füllstand – alles Entscheidungen, die Verdrängung und Aufwand minimieren. In manchen Varianten performen Geradschnabelkrähen ähnlich wie 7–10-jährige Kinder.
Doch die Physik dieser Vögel ist praktisch und sichtbar. Sobald die Kausalität verdeckt wird – etwa beim U-Rohr, in dem der Wasserstand im verbundenen, aber scheinbar unbeteiligten Zylinder steigt – scheitern sie zuverlässig. Das ist keine Blamage, sondern eine kognitive Signatur: robust für direkte, beobachtbare Ursache-Wirkung, schwach für „unsichtbare Kräfte“ und abstrakte Verbindungen.
Und die alte Frage: Einsicht oder erlernte Heuristik? Beides spielt eine Rolle. Zwar lässt sich ein Teil durch perzeptuell-motorisches Feedback erklären („Wenn Stein fällt, kommt Futter näher“), doch die schnelle Generalisierung auf neue Aufgaben spricht dafür, dass Rabenvögel kausale Regeln extrahieren – mehr als bloß Trial-and-Error.
Unsere Primatenverwandten: Schwerkraft, Gewicht und die Kunst der Kette
Menschenaffen glänzen dort, wo unsichtbare Kräfte ins Spiel kommen. In Balkenwaagen-Experimenten wählen Schimpansen den korrekten, abgesenkten Behälter nur dann, wenn die Neigung wirklich durch Gewicht verursacht ist – nicht, wenn Menschen die Waage manuell bewegen. In Gewichtsdiskriminationsaufgaben finden sie die saftgefüllte, schwerere Flasche fast sofort. Und selbst wenn Forschende das Gewicht neutralisieren und eine perfekt zuverlässige Farbmarkierung anbieten, fällt das Umlernen schwer. Das spricht für einen Bias zugunsten kausaler, physikalischer Hinweise (Gewicht) gegenüber willkürlichen, symbolischen (Farbe).
Bekannt ist auch der sequenzielle Werkzeuggebrauch. Schimpansen, Orang-Utans und Bonobos setzen zwei, drei, teils fünf Werkzeuge nacheinander ein – ein Paradebeispiel für Voraussicht: Zwischenziele verfolgen, Aufwände gegen Nutzen abwägen, Handlungspläne flexibel nachjustieren. Und außerhalb des Labors? Beim Nüsseknacken strukturieren Schimpansen ihr Verhalten in modulare Bausteine statt starrer Routinen – ein schönes Echo auf den Gedanken des modularen Kognitions-Werkzeugkastens.
Spannend und entwaffnend ist zugleich der „Gravity Bias“: Krallenaffen (und auch kleine Kinder) suchen Beute stur direkt unter der Einwurfsöffnung eines S-förmigen Rohrs – obwohl das Objekt woanders austritt. Klingt nach Fehler, ist aber wahrscheinlich Core Knowledge: eine tief verankerte Annahme, dass ungestützte Dinge gerade nach unten fallen. Ein Bias, der viel über die architektonische Grundausstattung des primatischen Geistes verrät.
Fremde Geister unter Wasser: Oktopusse und Delfine
Wenn wir über Gehirne reden, denken wir oft an zentrale Leitzentralen. Der Oktopus stellt dieses Bild auf den Kopf – oder besser: in die Arme. Ein Großteil der Neuronen sitzt dezentral in acht Tentakeln, die semi-autonom handeln. Und trotzdem (oder gerade deshalb) meistern Oktopusse komplexe Puzzleboxen, schrauben Gläser auf und entscheiden, wann sich Beharrlichkeit lohnt und wann ein Problem unlösbar ist. Spektakulär ist ihre Tarnung: In Sekunden werden Farbe und Textur angepasst – angewandte Physik der Licht- und Oberflächenmanipulation. Und ja: Oktopusse fallen sogar auf die Gummihand-Illusion herein. Ein künstlicher Arm, synchron stimuliert, wird als „eigener“ erlebt. Das deutet auf ein integriertes Körper-Selbst hin, das aus einer dezentralen Architektur emergiert. Evolution kennt viele Wege zur Intelligenz.
Delfine wiederum „sehen“ akustisch. Ihr Gehirn investiert massiv in Echolokation. Damit entschlüsseln sie nicht nur Oberflächen, sondern „blicken“ in Objekte hinein – eine Physik der Schallwellen. Ihre Welt ist Hydrodynamik: Beim Schlammnetz-Fischen formen sie ringförmige Sedimentvorhänge, die Fische wie in eine Falle springen lassen. In der Shark Bay verwenden sie Meeresschwämme als Schutzaufsatz – Werkzeuggebrauch mit kultureller Weitergabe. Und trotzdem stolpern Delfine in manchen Labortests über unsichtbare Verlagerungen (Objektpermanenz): Was für Primaten banal wirkt, klappt hier schlechter. Das passt zur modularen Sicht: Top-Skills in Akustik & Strömung, Lücken in visuell-räumlichen Aufgaben, die im Ozean keine Priorität haben. Intelligenz ist kein linearer IQ, sondern ökologisch geformte Spezialisierung.
Der Elefanten-Würfel: Ein Aha, das Designfehler entlarvt
Lange galt: Elefanten – großes Hirn, großes Herz, aber keine Einsicht? Der Haken lag im Aufgabendesign. Viele Tests verlangten, Stöcke mit dem Rüssel zu halten – ausgerechnet dem primären Tast- und Geruchsorgan. Wer die Nase blockiert, nimmt dem Tier sein wichtigstes Sensorikmodul.
Dann die Wende: Der junge Asiate Kandula bekommt eine hoch hängende Frucht, eine bewegliche Kiste und ansonsten freie Bahn. Nach anfänglichen, wenig erfolgreichen Versuchen folgt der Aha-Moment: Kiste heranrollen, daraufsteigen, Frucht greifen. Ohne schrittweises Herantasten, ohne langes Probieren – klassisch einsichtiges Problemlösen. Noch besser: Kandula generalisiert. Andere Ziele? Geht. Kiste weg? Ersatzpodest (Reifen) suchen. Nur kleine Objekte? Stapelversuch – physikalisch korrekt gedacht, praktisch gescheitert. Das zeigt, wie Einsicht funktioniert: bekannte Verhaltensbausteine neu kombinieren (Schieben + Stehen = Podestnutzung). Und es erinnert uns daran, dass negative Befunde oft Designartefakte sind, nicht kognitive Grenzen.
Konvergente Evolution: Ein Werkzeugkasten aus vielen Teilen
Was lernen wir aus Krähen, Affen, Oktopussen, Delfinen und Elefanten? Intuitive Physik bei Tieren ist vielfach entstanden – konvergente Evolution auf getrennten Ästen des Stammbaums. Ähnliche Umweltprobleme (schwer zugängliche Nahrung, komplexe Terrains, lange Lebensspanne, soziales Lernen) begünstigen ähnliche kognitive Lösungen: Werkzeugbau, sequenzielle Pläne, Schwerkraft-Intuition, Hydrodynamik-Tricks.
Statt „die Intelligenz“ gibt es einen kognitiven Werkzeugkasten:
Core Knowledge-Bausteine (z. B. Schwerkraftannahmen).
Schnelles kausales Lernen mit Generalisierung (Rabenvögel).
Mentale Simulation & Planung (Menschenaffen, Elefanten).
Domänenspezifische Meisterschaft durch Sinnesökologie (Echolokation bei Delfinen).
Verkörperte Kognition in neuromorphen Architekturen (Oktopus-Arme).
Diese Perspektive entmystifiziert zugleich unser Selbstbild: Vieles, was wir „typisch menschlich“ nennen, teilen wir als Prinzip – nicht als Kopie – mit anderen Linien. Und Unterschiede? Sie sind ökologische Signaturen.
Methoden, KI und der Blick nach vorn
Wie kommen wir tiefer? Erstens, durch ökologisch valide Designs. Kein Elefantentest sollte den Rüssel lahmlegen, kein Delfinexperiment rein visuell denken. Zweitens, durch KI-gestützte Modelle. Maschinen, die in Videos Physik implizit lernen, helfen, Hypothesen über mentale Simulation zu testen – und liefern Benchmarks für das, was ohne Sprache machbar ist. Drittens, durch nicht-invasive Messungen: Blickbewegungen, EEG/MEG-Äquivalente, automatisierte Mimik-Analysen. Je feiner unsere Methoden, desto besser trennen wir Assoziation von Kausalverständnis.
Und schließlich die große Frage: Wie fühlt sich das an? Das „schwierige Problem des Bewusstseins“ bleibt offen. Aber Hinweise auf Körperbesitz-Empfinden beim Oktopus oder Selbstwahrnehmung bei Delfinen verschieben die Linie dessen, was wir für möglich halten. Für Wissenschaft heißt das: präzise Skepsis (Morgans Kanon) und mutige Empirie schließen einander nicht aus – sie brauchen einander.
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Quellen:
Animals: from mechanical objects to sentient subjects – https://news.cnrs.fr/articles/animals-from-mechanical-objects-to-sentient-subjects
What Is Animal Cognition – https://www.thinkinganimalsunited.org/what-is-animal-cognition/
Animal Cognition (Stanford Encyclopedia of Philosophy) – https://plato.stanford.edu/entries/cognition-animal/
Old and New Approaches to Animal Cognition: There Is Not “One Cognition” – https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC7555673/
A Survey on Machine Learning Approaches for Modelling Intuitive Physics – https://arxiv.org/abs/2202.06481
Intuitive physics learning in a deep-learning model – https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/35817932/
The role of mental simulation in primate physical inference abilities – https://www.biorxiv.org/content/10.1101/2021.01.14.426741.full
Investigating animal cognition with the Aesop’s Fable paradigm – https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC4594378/
Crows understand water displacement at the level of a small child – https://www.sciencedaily.com/releases/2014/03/140326182039.htm
Sequential Tool Use in Great Apes (PLOS One) – https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0052074
Primate causal understanding in the physical and psychological domains – https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/24897462/
Gravity biases in a non-human primate? – https://www.researchgate.net/publication/229558008_Gravity_biases_in_a_non-human_primate
Pull or Push? Octopuses Solve a Puzzle Problem (PMC) – https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC4803207/
Octopuses Fall for the Rubber Hand Illusion – https://www.smithsonianmag.com/smart-news/octopuses-fall-for-the-rubber-hand-illusion-just-like-humans-pointing-to-a-sense-of-body-ownership-180987024/
Cetacean intelligence (Übersicht) – https://en.wikipedia.org/wiki/Cetacean_intelligence
What do dolphins understand about hidden objects? – https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/19543756/
Insightful Problem Solving in an Asian Elephant (PMC) – https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC3158079/
Tool use by non-humans (Übersicht) – https://en.wikipedia.org/wiki/Tool_use_by_non-humans
Behavioural Ecology Research Group – Animal Tool Use – https://users.ox.ac.uk/~kgroup/tools/animal_tool.shtml
Twenty Years after Folk Physics for Apes – https://www.animalbehaviorandcognition.org/uploads/journals/28/AB_C_2020_Vol7(3)_Vonk.pdf
Animal Social Cognition (SEP) – https://plato.stanford.edu/entries/animal-social-cognition/
Grounding Intuitive Physics in Perceptual Experience – https://www.mdpi.com/2079-3200/11/10/187
Intuitive physics guides visual tracking and working memory – https://jov.arvojournals.org/article.aspx?articleid=2791606
Electrophysiology Reveals That Intuitive Physics Guides Working Memory – https://direct.mit.edu/opmi/article/doi/10.1162/opmi_a_00174/125622/Electrophysiology-Reveals-That-Intuitive-Physics
Evolutionary Origins of Complex Cognition (CUP chapter) – https://www.cambridge.org/core/books/evolution-of-learning-and-memory-mechanisms/evolutionary-origins-of-complex-cognition/91CC828BE702A5A0C3EE8395900318F0