Ursachen der Hexenverfolgung: Die Anatomie eines Wahns – wie Europa seine Frauen verbrannte
- Benjamin Metzig
- 9. Sept.
- 6 Min. Lesezeit

Wenn eine Gesellschaft in den Krisenmodus kippt, sucht sie nach Gesichtern für das namenlose Unheil. Zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert fand Europa diese Gesichter in „Hexen“. Die Verfolgungswellen der Frühen Neuzeit kosteten Zehntausende das Leben – ein Gemisch aus Klimaschocks, Kriegen, Krankheit, religiöser Spaltung, juristischer Perversion und tief verwurzelter Misogynie. In diesem Beitrag zerlegen wir die Mechanik dieser Katastrophe: wissenschaftlich fundiert, aber lesbar wie ein forensischer True-Crime-Bericht aus der Vergangenheit.
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Ursachen der Hexenverfolgung: der perfekte Sturm
Die Hauptphase der Prozesse – grob zwischen 1550 und 1650 – fiel in eine Ära des „Alles-auf-einmal“: Kältewellen der „Kleinen Eiszeit“ mit Missernten und Teuerungen, Pestzüge, lokale Epidemien, der Dreißigjährige Krieg, moralische Verunsicherung nach Reformation und Gegenreformation. Für eine agrarische Gesellschaft war das nicht nur Statistik, sondern tägliche Bedrohung: leere Speicher, tote Viehherden, verschuldete Familien. In solch dichten Krisenketten passiert im Kopf etwas sehr Menschliches: Wir geben dem Abstrakten ein konkretes Gesicht. Aus Wetter wurde „Wetterzauber“, aus Zufall „Schadenszauber“, aus Ohnmacht „Sündenbocksuche“.
Das dämonologische Erklärungspaket wirkte dabei wie ein Universaladapter. Statt „Gottes unergründlicher Wille“ oder „Klima“, hieß es: maleficium – gezielte Angriffe einer Verschwörung im Bund mit dem Teufel. Wer an Hexen glaubte, war nicht automatisch irrational; im damaligen Weltbild erschien die Jagd als rationales Risikomanagement zur Wiederherstellung von Ordnung. Das macht die Geschichte so unheimlich aktuell.
Die Erfindung der „dämonischen Hexe“
Magie- und Schadensglaube gab es lange vorher. Neu der Frühen Neuzeit war die intellektuelle Fusion: Juristen und Theologen verschmolzen Volksglaube (maleficium) mit Inquisitionslogik (Ketzerei) zur Idee einer organisierten, teuflischen Sekte – der „kumulativen“ Hexerei. Der Hexensabbat, der Teufelspakt, nächtliche Flugreisen: Aus verstreuten Motiven wurde ein geschlossener Verschwörungsmythos, aufgeladen mit antijüdischen Stereotypen und apokalyptischen Ängsten.
Als Katalysator diente 1487 der „Malleus Maleficarum“ (Hexenhammer). Das Buch war Handbuch, Kampfschrift und Prozessleitfaden in einem: Teil 1 „beweist“ Hexerei, Teil 2 katalogisiert Delikte (vom Teufelspakt bis zu sexuellen Begegnungen mit Dämonen), Teil 3 zeigt, wie man Hexen „findet“ – inklusive Folterleitfaden und psychologischer Tricks. Eine päpstliche Bulle (1484) verlieh Rückenwind, der Buchdruck die nötige Reichweite. Aus dem gelehrten Diskurs wanderte die Erzählung über Kanzeln und Flugschriften in die Dörfer – und koppelte sich dort mit realer Not zu einer gefährlichen Rückkopplungsschleife.
Gerücht, Denunziation, Hysterie: wie sich die Jagd entzündete
Kaum ein Prozess startete ohne „Anlass“. Ein totes Kind, ein Hagelsturm, verdorbenes Bier – und schon besaß das diffuse Unglück eine Adresse. In engen Dorfgemeinschaften lagen alte Konflikte wie trockenes Holz bereit: Erbstreit, Nachbarsfehde, verletzte Ehre. Das Hexenstereotyp lieferte die Sprache, die diese Schwelbrände in Flammen setzte.
Die Motive der Ankläger reichten von echter Angst bis zu kühlem Kalkül. Wer denunzierte, konnte Rivalen loswerden – und manchmal am beschlagnahmten Besitz verdienen. Sobald die ersten „Geständnisse“ – fast immer unter Qualen erpresst – weitere Namen lieferten, verbreitete sich die Angst viral. Wer nicht unter Verdacht geraten wollte, nannte andere. So zerfaserte Vertrauen, und Dörfer drehten sich gegen sich selbst. Es war ein soziales Überdruckventil: ein hochwirksames, aber tödliches Werkzeug zur „Konfliktlösung“.
Die Denkweise der Verfolger: Frömmigkeit trifft Bürokratie
Die Täter waren kein homogener Mob. Es gab glühende Ideologen, die sich im Endkampf gegen Satan wähnten. Es gab ehrgeizige Juristen, die Karriere machen wollten. Und es gab Beamte, die „nur“ Prozeduren abarbeiteten. Genau diese Bürokratisierung ist entscheidend: Wer Akten führt, Protokolle schreibt, Formalien beachtet, kann Gewalt als „Pflicht“ erleben – Arendts „Banalität des Bösen“ avant la lettre.
Auch wichtig: Das Verfolgungsbegehren kam oft von unten. Aufgebrachte Gemeinden drängten Obrigkeiten zum Handeln; lokale „Hexenausschüsse“ übten Druck aus. Der Staat – oder genauer: viele kleine, konkurrierende Herrschaften – griffen das auf und setzten es in Justiz um. So verschränkten sich Angst, Opportunismus und institutionelle Macht.
Folterlogik: Warum Geständnisse „funktionierten“
Ohne Geständnis kein Urteil – also musste eines her. Die Dramaturgie war standardisiert: Kerker und Entwürdigung, „gütliche“ Befragung, Androhung (territio), dann peinliche Befragung: Beinschrauben, Daumenschrauben, Strappado, Streckbank. Unter Qualen sagen Menschen, was erwartet wird. Und erwartet wurde ein Drehbuch: Teufelspakt, Sabbat, Schadenszauber – plus die zentrale „Besagung“, also die Nennung weiterer „Komplizen“.
So entstanden Kettenprozesse. Ein Fall setzte Dutzende in Gang; ganze Regionen wurden erfasst. Das System erzeugte seine eigenen „Beweise“ – ein geschlossenes Logik-Labyrinth, das aus den Schreien seiner Opfer Gewissheiten destillierte.
Das Gesetz als Waffe: wie die Carolina pervertiert wurde
1532 brachte Kaiser Karl V. mit der Constitutio Criminalis Carolina ein modernes Strafgesetzbuch – inkl. Inquisitionsprozess und Regeln zur Folter („nur bei hinreichenden Indizien“). Gleichzeitig erklärte Artikel 109 Schadenszauber zum todeswürdigen Verbrechen – meist durch Feuer. Klingt restriktiv? In der Praxis erklärten Hardliner Hexerei zum crimen exceptum, zum Ausnahmeverbrechen.
Was folgte, war juristische Alchemie:
Aus Gerüchten wurden „Indizien“.
Aus Folterverboten wurden „Fortsetzungen“ der ersten Sitzung.
Aus der Pflicht zur freien Bestätigung eines Geständnisses wurde eine erneute Drohkulisse.
Aus Verteidigungsrechten wurde ein Risiko: Wer verteidigte, galt schnell als Komplize.
So legitimierte die Autorität des Reichsrechts eine Praxis, die seine Schutzmechanismen bewusst aushebelte. Das Recht suchte nicht mehr Wahrheit – es produzierte Schuld.
Autorität im Übergang: Kirche, Staat und lokale Macht
Entgegen dem Klischee war es im Reich selten die große Inquisition, die trieb; die meisten Prozesse liefen vor weltlichen Gerichten. Fürstbischöfe, Stadträte, lokale Herren – sie alle konnten mit Hexenprozessen Macht demonstrieren: Wir schützen euch, wir ordnen die Welt. In zersplitterten Territorien wurde die Jagd sogar zu einer Art Wettbewerb der Gerichtsbarkeiten.
Die Hexenverfolgung war damit auch Symptom der Staatswerdung. Wer das Gewalt- und Rechtsmonopol festigen wollte, griff tief in das lokale Leben ein – bis hin zur Frage über Leben und Tod. Paradox, aber historisch plausibel: Der „Hexenwahn“ zeigt nicht den schwachen, sondern den muskelspielenden Frühmodernen Staat.
Misogynie als Motor: warum vor allem Frauen starben
Etwa drei Viertel der Hingerichteten waren Frauen. Diese Zahl verlangt Erklärung. Theologisch lieferte der „Malleus“ eine steile Vorlage: Frauen seien „geistig schwächer“, moralisch labil, sexuell unersättlich – ideale Beute für den Teufel. Medizinisch stützten das antike Konzepte: der weibliche Körper als „kalt“ und „feucht“, als defizitäre Variante des männlichen; Menstruationsblut als „giftig“. Biologie diente als Moralmaschine.
Damit wurde Geschlecht selbst zum Indiz. Selbst Männer im Visier wurden in den Quellen oft „verweiblicht“ beschrieben. Besonders gefährdet waren Frauen mit Wissen und sozialer Autorität: Heilerinnen, Hebammen, „weise Frauen“. Ihr Kräuter- und Geburtswissen lag außerhalb männlicher Institutionen – und war bei Misserfolg perfekte Projektionsfläche. Zugleich war die Frühe Neuzeit die Zeit männlicher Professionalisierung: Universitätsmedizin gegen Volkswissen. Wer die Deutungshoheit über Körper, Krankheit und Reproduktion beanspruchte, diffamierte weibliche Expertise als „Aberglauben“ oder „Teufelswerk“.
Hexerei wurde so zum Instrument der Disziplinierung. Jede Abweichung von der Norm – streitbar, finanziell eigenständig, sexuell selbstbestimmt – konnte fatal enden. Historikerinnen wie Silvia Federici lesen die Jagden als Gewaltregime, das die häusliche, fügsame, entsexualisierte Frauenrolle erst durchsetzte. Selbst dort, wo wenige Prozesse liefen, wirkte die Drohkulisse: ein Jahrhunderte dauernder Gender-Terror, der das soziale Koordinatensystem verschob.
Echos heute: Verschwörungen, Sündenböcke, digitaler Frauenhass
Warum ist das mehr als Geschichte? Weil die Schablone bleibt. Die dämonische Weltverschwörung von einst hat heute neue Namen: Von QAnon bis Pizzagate – strukturell gleich, nur technisch schneller. Ein geheimes Netzwerk, schlimme Taten an Kindern, ein Kampf „der Gerechten“ – die Muster sind Copy & Paste.
Der Sündenbock-Mechanismus lebt in Krisen wieder auf: Pandemie? Migranten? „Die da oben“? Die Dynamik ist identisch. Und die Misogynie hat digitale Turbolader: Frauen im öffentlichen Raum erleben orchestrierte Hasskampagnen, die alten Dämonisierungsmustern erstaunlich treu bleiben. In vielen Regionen der Welt werden zudem bis heute Menschen – überwiegend Frauen – der Hexerei beschuldigt und verfolgt. Die Software der Verfolgung ist universell; sie startet, wenn Not, Angst und Machtgefälle zusammenklicken.
Was wir daraus lernen (und wofür wir wachsam bleiben sollten)
Die Ursachen der Hexenverfolgung lehren uns drei harte Wahrheiten. Erstens: Krisen machen anfällig für simple Erzählungen mit klaren Feindbildern. Zweitens: Institutionen können – gerade wenn sie stark sind – Gewalt verregeln und dadurch normalisieren. Drittens: Geschlechterbilder sind nicht nur Meinung, sondern Politik am Körper.
Was dagegen hilft? Eine Kultur der Ambiguitätstoleranz, die Komplexität aushält. Rechtsstaat, der seine Ausnahmen misstrauisch bewacht. Wissenschaft, die erklärt, ohne moralisch zu entwürdigen. Und ganz konkret: digitale Zivilcourage gegen Hass, Aufklärung gegen Verschwörungslogiken, Solidarität mit den heute Verfolgten.
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Quellen:
HEXENWAHN – Die europäischen Hexenverfolgungen der Frühen Neuzeit – Deutsches Historisches Museum – https://www.dhm.de/archiv/ausstellungen/hexenwahn/aufsaetze/01.htm
Historisches Lexikon Bayerns: Hexenverfolgung – https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Hexenverfolgung
Wikipedia: Hexenverfolgung – https://de.wikipedia.org/wiki/Hexenverfolgung
Historisches Lexikon der Schweiz: Hexenwesen – https://hls-dhs-dss.ch/articles/011450
Britannica: Malleus maleficarum – https://www.britannica.com/topic/Malleus-maleficarum
University of Oregon: Constitutio Criminalis Carolina (1532) [Excerpts] – https://pages.uoregon.edu/dluebke/Witches442/ConstitutioCriminalis.html
H-Net Review: The “Constitutio Criminalis Carolina” and Witch Trials – https://www.h-net.org/reviews/showpdf.php?id=23743
JKU ePUB: Hexenprozesse im Kontext des frühneuzeitlichen Strafrechts – https://epub.jku.at/obvulihs/download/pdf/5811743
German History Intersections: Friedrich von Spee (1632) – https://germanhistory-intersections.org/en/germanness/ghis:document-258.pdf
Landesmuseum Zürich (Schulunterlagen): Sündenbock – https://www.landesmuseum.ch/landesmuseum/ihr-besuch/schulen/2019/suendenbock.pdf
Wikipedia: Hexenverfolgung im Herzogtum Westfalen – https://de.wikipedia.org/wiki/Hexenverfolgung_im_Herzogtum_Westfalen
StudySmarter: Hexenverfolgung – Ursachen, Opferzahlen & Ende – https://www.studysmarter.de/schule/geschichte/fruehe-neuzeit/hexenverfolgung/
Wikipedia: Malleus Maleficarum – https://en.wikipedia.org/wiki/Malleus_Maleficarum
Ghost City Tours: The Malleus Maleficarum and the Salem Witch Trials – https://ghostcitytours.com/salem/salem-witch-trials/malleus-maleficarum/
segu Geschichte: Hexenverfolgung – https://segu-geschichte.de/hexenverfolgung/
Universität Innsbruck: LEOPOLDINE – FRANCISCA (zu Kramer/Scheuberin) – https://www.uibk.ac.at/leopoldine/gesamtbuero/leopoldine_francisca/leopoldine_francisca_5.pdf
Terra X (YouTube): Hexenverfolgung – https://www.youtube.com/watch?v=yJH0hPCVcuY
Wikipedia: Hexenprozesse von Salem – https://de.wikipedia.org/wiki/Hexenprozesse_von_Salem
DNB: Überlebende von Hexenprozessen und das Ringen um Gerechtigkeit – https://d-nb.info/1311364951/34
bpb: Hexenverfolgung | Femizid – https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/femizid-2023/519675/hexenverfolgung/
eGrove (Honors Thesis): A War on Women? The Malleus Maleficarum… – https://egrove.olemiss.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1722&context=hon_thesis
Notre Dame Sites: Medical Misogyny and the Makings of the Modern Witch – https://sites.nd.edu/manuscript-studies/2020/10/30/medieval-sexuality-medical-misogyny-and-the-makings-of-the-modern-witch/
FemBio (Horsley): Weise Frauen, Hebammen und die europäische Hexenverfolgung – https://www.fembio.org/images/uploads/Horsley,_Hexen.pdf
RWTH Publications: Verschwörungstheorien in Geschichte und Gegenwart – https://publications.rwth-aachen.de/record/824280/files/824280.pdf
Informationsdienst Wissenschaft: Hexenglaube und Hexenangst existieren bis heute – https://idw-online.de/de/news764165








































































































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