Wenn der Erdkern stockt: Die Oszillation des Erdkerns und was sie wirklich bedeutet
- Benjamin Metzig
- 6. Sept.
- 7 Min. Lesezeit

Warum der innere Kern gerade alle Schlagzeilen macht
Tief unter unseren Füßen, hinter 2.900 Kilometern Mantelgestein, pulsiert das „Herz“ unseres Planeten: der Erdkern. Lange Zeit galt er als stählerne, fast stoische Kugel – zuverlässig, unspektakulär, weit weg. Doch die moderne Seismologie hat diese Erzählung aufgebrochen. Messungen zeigen: Der feste innere Kern bewegt sich relativ zum restlichen Planeten – mal ein wenig schneller, mal ein wenig langsamer, möglicherweise in Zyklen. Nicht Stillstand, sondern Oszillation des Erdkerns.
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Anatomie des Planetenherzens: Was im Inneren wirklich steckt
Die Erde ist schalenförmig aufgebaut – Kruste, Mantel, Kern. An den Grenzschichten ändern sich Dichte und Elastizität sprunghaft; genau das verraten uns die Laufzeiten und Wege seismischer Wellen. Der Kern beginnt bei etwa 2.900 Kilometern Tiefe und macht nur rund ein Sechstel des Erdvolumens aus, trägt aber fast ein Drittel der Masse. Das verrät: Hier unten steckt extrem dichtes Material.
Der Kern ist zweigeteilt. Außen: eine etwa 2.200 Kilometer mächtige flüssige Eisen-Nickel-Schmelze, elektrisch hochleitfähig. Innen: der feste innere Kern mit einem Radius von ungefähr 1.220 Kilometern – größer als der Zwergplanet Pluto und in etwa so heiß wie die Sonnenoberfläche (über 5.000 °C). Warum bleibt er trotz dieser Hitze fest? Weil der Druck in Planetenzentrum ungeheuer ist: mehr als drei Millionen Atmosphären. Druck hebt den Schmelzpunkt an – der innere Kern „gefriert“ unter Hitze.
Chemisch betrachtet ist der Kern überwiegend Eisen mit Nickel, doch seismische Dichten legen nahe, dass leichtere Elemente – Sauerstoff, Schwefel, Silizium oder Kohlenstoff – beigemischt sind. Diese kleinen Unterschiede sind keine Petitesse, sondern der Motor tiefgreifender Prozesse: An der Grenze zwischen innen und außen kristallisiert Eisen aus, setzt latente Wärme frei und reichert die Restschmelze an leichten Elementen an. Das treibt Konvektion an – die Strömungen, die unseren Planeten elektromagnetisch „am Leben“ halten.
Und als wäre das nicht komplex genug, deuten neuere Analysen auf einen „innersten inneren Kern“ (IMIC) hin – einen Kern im Kern mit möglicherweise anderer Kristallstruktur. Außerdem zeigt die Oberfläche des inneren Kerns Anzeichen viskoser Deformation: nicht starr, sondern leicht „knetbar“ über Jahre bis Jahrzehnte. Das erschwert die Interpretation seismischer Signale – laufen wir Änderungen in der Rotation auf den Leim, während sich in Wahrheit die Form ändert? Oder beides zugleich?
Wie der Geodynamo unser Schutzschild speist
Warum interessiert uns das alles? Weil im äußeren Kern das Erdmagnetfeld entsteht – unser kosmischer Airbag gegen geladenen Teilchenwind. Der Mechanismus nennt sich Geodynamo und benötigt drei Zutaten:
ein leitfähiges Fluid (die Eisen-Nickel-Schmelze),
Rotation und damit Corioliskräfte, die Strömungen zu geordneten, schraubenartigen Säulen organisieren,
Energiequellen für dauerhafte Konvektion: Wärmefluss nach außen und die chemische Auftriebskraft durch Ausfrieren von Eisen am inneren Kern.
Bewegt sich leitfähige Flüssigkeit in einem Magnetfeld, induziert sie elektrische Ströme – diese erzeugen wieder Magnetfelder und verstärken das vorhandene Feld. Ein selbstverstärkender Kreislauf, so elegant wie robust. Änderungen an der Grenzfläche zwischen innerem und äußerem Kern – etwa Topografie oder Rotationsdifferenzen – können das Muster dieser Strömungen modulieren und langfristig die Architektur unseres Magnetfelds beeinflussen.
Das Tauziehen in der Tiefe: Kräfte hinter der Rotation
Der innere Kern „schwimmt“ mechanisch entkoppelt im flüssigen äußeren Kern. Dadurch kann er differenziell rotieren – minimal schneller oder langsamer als Mantel und Kruste. Zwei gigantische, gegeneinander arbeitende Kräfte bestimmen sein Tempo.
Auf der Gaspedal-Seite wirkt ein elektromagnetisches Drehmoment: Das Magnetfeld des äußeren Kerns schneidet den leitfähigen inneren Kern, elektrische Ströme interagieren mit dem Feld – ein Drehmoment entsteht, das den inneren Kern mitzieht, typischerweise ostwärts.
Auf der Brems-Seite steht die gravitative Kopplung zwischen Dichteunregelmäßigkeiten in Mantel und innerem Kern. Sie wirkt wie ein unsichtbares Zahnrad, das beide Körper in einer bevorzugten Ausrichtung halten möchte. Das Zusammenspiel beider Momente ergibt ein empfindliches Gleichgewicht – und genau solche Systeme oszillieren gern: kleine Schwingungen um eine mittlere Stellung, deren Periode davon abhängt, wie stark die jeweiligen Kopplungen gerade sind.
Seismologie als Zeitmaschine: PKIKP und die Kunst der Dubletten
Direkt hinunterbohren? Keine Chance. Also lauscht die Forschung auf die Erde selbst. Besonders wichtig ist eine P-Wellen-Phase namens PKIKP: Sie startet im Mantel (P), durchquert äußeren Kern (K), inneren Kern (I), wieder den äußeren Kern (K) und kommt als P-Welle an der Oberfläche an. Ihre Laufzeit reagiert empfindlich auf Eigenschaften und Bewegung des inneren Kerns.
Der methodische Game-Changer waren „Repeating Earthquakes“: Erdbebenpaare aus praktisch identischem Herdgebiet, aber zu unterschiedlichen Zeiten. Weil Quelle und Weg durch Kruste und Mantel nahezu gleich sind, heben sich deren Effekte beim Vergleich weitgehend auf. Was übrigbleibt – Millisekundenunterschiede in der PKIKP-Laufzeit – kann nur aus dem inneren Kern stammen: Rotation, Formänderung oder beides. Ein Schönheitsfehler bleibt: Die globale Beben- und Stationsverteilung ist ungleich, viele „Top-Dubletten“ stammen etwa von den Süd-Sandwich-Inseln – wir blicken also bevorzugt entlang bestimmter Pfade ins Innere.
Oszillation des Erdkerns: von Super- zu Subrotation
Mitte der 1990er Jahre schien die Sache klar: Analysen legten nahe, dass der innere Kern superrotierte – also ein bisschen schneller ostwärts drehte als der Mantel, Größenordnung einige Zehntel Grad pro Jahr. Über mehr als ein Jahrzehnt war das das dominierende Bild.
Dann der Plot-Twist: 2023 berichteten Forschende um Yi Yang und Xiaodong Song, dass dieses Signal ab etwa 2009 verschwand. Seitdem bewegt sich der innere Kern nahezu im Gleichklang – und inzwischen wohl langsamer als der Mantel, also in Subrotation. Die Daten fügten sich in ein größeres Muster: eine multi-dekadische Schwingung mit einer Periode von etwa 60–70 Jahren, mit Wendepunkten in den frühen 1970ern und um 2009/2010. In diesem Bild folgt auf eine Phase der Superrotation eine Pause, dann Subrotation – und irgendwann wieder Beschleunigung.
Eine Studie aus 2024 untermauerte den Kern dieses Befunds mit neuen Dubletten: Der innere Kern hat seine Rotation verlangsamt, teilweise unter das Oberflächentempo. Wichtig ist die Einordnung: Niemand behauptet, die Erde halte an. Die globale Rotation bleibt ostwärts, etwa 1.670 km/h am Äquator. Es geht nur um den relativen Geschwindigkeitsunterschied zwischen innerem Kern und Mantel – und dessen Vorzeichenwechsel.
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Streit der Modelle: Shuffling, 6-Jahres-Zyklen und verformte Grenzen
Wissenschaft liebt Debatten – besonders dann, wenn mehrere Erklärungen gleichzeitig plausibel sind. Ein Team um Hrvoje Tkalčić sieht statt einer glatten 70-Jahre-Uhr eher ein „Shuffling“: Im Mittel superrotiert der innere Kern zwar leicht, doch darüber liegen starke dekadische Schwankungen – mal schneller, mal langsamer, zeitweise subrotierend. Welche Studien recht haben? Vielleicht alle – je nachdem, welche Zeitfenster sie erwischen.
John Vidale und Kolleg:innen fanden zudem Hinweise auf kurzperiodische (~6-Jahre) Oszillationen. Und mehr noch: Selbst wenn der innere Kern zu zwei Messzeitpunkten dieselbe Rotationsposition hatte, unterschieden sich die Wellenformen – ein Fingerzeig auf Form- bzw. Topografieänderungen an der Kernoberfläche. Viskose Deformation durch „zerrende“ Strömungen im äußeren Kern könnte also einen Teil der beobachteten Signale erklären – zusätzlich zur Rotation. Das macht die Entflechtung knifflig, aber auch spannend: Wir sehen vermutlich ein mehrskaliges, überlagertes System aus langperiodischer Oszillation, dekadischer Variabilität, kurzperiodischen Torsionsschwingungen – und slow-motion-Deformation.
Was wir oben spüren: Tageslänge und Magnetfeld
„Merken wir das?“ – Eine Lieblingsfrage. Antwort: Ja, aber kaum. Durch den Austausch von Drehimpuls sind Kern und Mantel gekoppelt. Wenn der innere Kern abbremst, wird der Mantel minimal schneller – die Tageslänge (LOD) verkürzt sich um Millisekunden. Messbar für Präzisionsgeodäsie, irrelevant für Busfahrpläne. Allerdings ist das LOD-Signal ein wilder Mix: Atmosphäre, Ozeane, Eisschmelze – alles schubst an der Erdrotation. Den „Kern-Anteil“ präzise herauszuschälen ist wie Flüstern im Sturm belauschen.
Und das Magnetfeld? Die derzeit beobachteten Rotationsänderungen bedeuten keine unmittelbare Gefahr. Aber die Grenzschicht zwischen innerem und äußerem Kern ist die Schaltzentrale des Geodynamos. Änderungen in Topografie und Geschwindigkeitsdifferenz können auf langen Skalen die Strömungsmuster im äußeren Kern modulieren – und damit Struktur und Drift des Magnetfelds, inklusive Phänomenen wie der Südatlantischen Anomalie. Polumkehrungen laufen über Jahrtausende; Kern-Oszillationen über Jahrzehnte. Das sind verschiedene Takte desselben Orchesters.
Was als Nächstes? Offene Fragen – und warum es uns alle angeht
Die To-do-Liste der Forschung ist klar – und lang:
Mehr Daten, bessere Abdeckung: Besonders aus Quellregionen jenseits der Süd-Sandwich-Inseln und mit dichterem Stationsnetz. Je länger die Zeitreihe, desto sauberer lassen sich Perioden testen.
Physik der Kopplung präzisieren: Wie stark sind elektromagnetisches Drehmoment und gravitative Verriegelung wirklich? Realistische Modelle brauchen Labor- und Theorie-Updates.
Innere Architektur auflösen: Existiert der IMIC? Und wie unterscheiden sich seine Kristalleigenschaften? Das könnte Wachstumsphasen der frühen Erde beleuchten.
Rotation vs. Deformation trennen: Neue Auswerte-Methoden (z.B. gestreute Wellen, seltene Scherwellen im inneren Kern) sollen die Ambiguität aufbrechen.
Warum das wichtig ist? Weil das stabile Magnetfeld der Erde eine Voraussetzung für bewohnbares Oberflächenleben ist. Es filtert gefährliche Teilchen, schützt Atmosphäre und Technologie. Versteht man, warum die Erde diesen Dynamo über Milliarden Jahre betreiben konnte – und warum etwa der Mars ihn verlor – dann versteht man ein Stück Habitabilität im Universum.
Kein Weltuntergang, aber Weltenwissen
Die populäre Schlagzeile „Der Erdkern hat angehalten“ ist eine dramatische Übertreibung. Richtig ist: Wir sehen eine verzögerte, möglicherweise oszillierende Rotation und wahrscheinlich formveränderliche Grenzflächen. Das ist kein Katastrophenszenario, sondern ein Triumph der Messkunst – Millisekunden in Wellenformen übersetzen wir in die Choreografie eines Metallballs jenseits unseres Zugangs.
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Für weitere Updates, Visuals und Diskussionen: Folge der Wissenschaftswelle:
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Quellen:
Erdkern: Definition, Temperatur & Struktur – https://www.studysmarter.de/schule/geographie/sonnensystem/erdkern/
Die Erde und ihr Magnetfeld (DLR) – https://www.dlr.de/de/forschung-und-transfer/themen/weltraumwetter/das-magnetfeld-der-erde
Erdkern rotiert immer langsamer – Scinexx – https://www.scinexx.de/news/geowissen/erdkern-rotiert-immer-langsamer/
Study: Changes in Rotation of Earth's Inner Core – Sci.News – https://www.sci.news/othersciences/geophysics/earths-inner-core-rotation-11590.html
Der innere Erdkern pausiert – Scinexx – https://www.scinexx.de/news/geowissen/der-innere-erdkern-pausiert/
ESKP: Der Aufbau der Erde – https://www.eskp.de/grundlagen/naturgefahren/der-aufbau-der-erde-935120/
Infoblatt Schalenbau der Erde – Klett – https://static.klett.de/assets/terrasse/Infoblatt_Schalenbau_der_Erde.pdf
Erdkern – Wikipedia – https://de.wikipedia.org/wiki/Erdkern
Lexikon der Geowissenschaften: Erdkern – Spektrum – https://www.spektrum.de/lexikon/geowissenschaften/erdkern/4244
Kern im inneren Erdkern – Welt der Physik – https://www.weltderphysik.de/gebiet/erde/nachrichten/2023/seismologie-kern-im-inneren-erdkern/
Inner core super-rotation – Wikipedia – https://en.wikipedia.org/wiki/Inner_core_super-rotation
Earth’s inner core – Wikipedia – https://en.wikipedia.org/wiki/Earth%27s_inner_core
Der Geodynamo – pro-physik.de – https://pro-physik.de/restricted-files/115641
Dynamo theory (Harvard Course Notes) – https://courses.seas.harvard.edu/climate/eli/Courses/EPS281r/Sources/Earth-dynamo/1-Wikipedia-Dynamo-theory.pdf
Earth’s magnetic field – Wikipedia – https://en.wikipedia.org/wiki/Earth%27s_magnetic_field
Erde: Der innere Erdkern formt sich um – t-online – https://www.t-online.de/digital/aktuelles/id_100599236/erde-der-innere-erdkern-formt-sich-um-neue-studie.html
Der innere Erdkern verformt sich – Scinexx – https://www.scinexx.de/news/geowissen/der-innere-erdkern-verformt-sich/
Hat der innere Erdkern seine Rotation verlangsamt? – Spektrum der Wissenschaft – https://www.spektrum.de/news/hat-der-innere-erdkern-seine-rotation-verlangsamt/2101878
Inner core–mantle gravitational locking – Geophysical Journal International – https://academic.oup.com/gji/article/181/2/806/666720
The shuffling rotation of the Earth’s inner core – ResearchGate – https://www.researchgate.net/publication/258807423_The_shuffling_rotation_of_the_Earth's_inner_core_revealed_by_earthquake_doublets
Earth’s inner core oscillates (USC) – https://dornsife.usc.edu/news/stories/earths-inner-core-oscillates/
Length of day variations & inner core superrotation – ResearchGate – https://www.researchgate.net/publication/229086754_Length_of_day_decade_variations_torsional_oscillations_and_inner_core_superrotation_Evidence_from_recovered_core_surface_zonal_flows
Earth’s core affects length of day – University of Liverpool – https://news.liverpool.ac.uk/2013/07/11/earths-core-affects-length-of-day/
Wie der Klimawandel die Erdrotation verändert – GFZ – https://www.gfz.de/presse/meldungen/detailansicht/wie-der-klimawandel-die-erdrotation-veraendert
USC study confirms the rotation of Earth’s inner core has slowed – https://today.usc.edu/usc-study-confirms-the-rotation-of-earths-inner-core-has-slowed/








































































































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