Terra Nova: Wie das Leben nach uns weitergeht – spekulative Evolution
- Benjamin Metzig
- 18. Sept.
- 7 Min. Lesezeit

Wenn wir in die Zukunft schauen, tun wir das oft mit Science-Fiction-Brille: Raumschiffe, Androiden, Marskolonien. Aber was, wenn die spannendste Zukunftsgeschichte gar nicht vom Menschen handelt – sondern vom Leben nach uns? Genau darum geht es in der Spekulativen Evolution: Wir extrapolieren echte, gut belegte Mechanismen der Biologie in ferne Zeiten und fragen, welche Wesen die Bühne übernehmen, wenn der Vorhang für Homo sapiens gefallen ist. Klingt wie Fantasie, ist aber streng regelgeleitet. Und: Es hilft uns, die Gegenwart schärfer zu sehen.
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Was spekulative Evolution ist – und was nicht
Spekulative Evolution (auch Spekulative Biologie oder Zoologie) ist ein kreatives, aber wissenschaftsnahes Genre: fiktionale Lebensformen, die den Regeln von Mutation, Selektion und Ökologie gehorchen. Keine Drachen, die Feuer spucken, „weil Magie“, sondern plausible Organismen, die sich unter realistischen Bedingungen entwickeln könnten. In der Community nennt man den Ansatz „Hard Spec“: Hypothesen, die sich so eng wie möglich an etablierte Erkenntnisse aus Evolutionsbiologie, Paläontologie und Geowissenschaften anlehnen.
Die intellektuellen Wurzeln reichen weit zurück. H. G. Wells schickte 1895 in „Die Zeitmaschine“ einen Reisenden an die Strände einer sterbenden Erde. Später entwarf Gerolf Steiner mit den Rhinogradentia eine ganze Säugetierordnung so überzeugend, dass Biologinnen jahrzehntelang schmunzelten – und lehrten. Den modernen Durchbruch brachte 1981 Dougal Dixon mit „After Man“: eine Erde 50 Millionen Jahre nach uns, bevölkert von logisch hergeleiteten Nachfahrinnen heutiger Tiere. Das Buch wurde zur Blaupause einer ganzen Bewegung und inspirierte Formate wie „The Future Is Wild“.
Warum das wichtig ist? Weil Spez-Evo komplexe Konzepte greifbar macht. Wer einer plausiblen Zukunftswelt folgt, versteht adaptive Radiation und ökologische Nischen schneller als im Lehrbuch – und lernt ganz nebenbei, wie Wissenschaft aus Indizien konsistente Welten rekonstruiert.
Die fünf Kräfte, die jede Zukunft formen
Evolution ist kein zielloser Zauber, sondern Statistik auf langen Zeitskalen. Fünf Kräfte verschieben die Häufigkeiten von Genvarianten in Populationen – und bestimmen damit, wohin sich Linien entwickeln:
Mutation erzeugt neue Varianten – meist neutral, selten schädlich, ganz selten Gold.
Rekombination mischt vorhandene Gene bei der Meiose neu und schafft Kombinationsvielfalt.
Selektion sortiert systematisch: Nützliche Merkmale werden häufiger, untaugliche seltener.
Gendrift würfelt zufällig am Genpool – besonders in kleinen, isolierten Populationen.
Isolation kappt den Genfluss; getrennte Populationen divergieren, bis neue Arten entstehen.
Diese Mechanismen wirken immer – heute, im Karbon, in 200 Millionen Jahren. Wer spekulative Evolution ernsthaft betreibt, baut jedes Gedankenspiel auf dieses Fundament.
Warum nach Krisen Vielfalt explodiert
Massenaussterben sind grausam – und paradoxerweise Kreativbeschleuniger. Wenn Konkurrenten verschwinden, werden ökologische Nischen frei. Das ist der Startschuss für adaptive Radiation: eine schnelle Aufspaltung einer Linie in viele Arten, jede optimiert für eine andere Rolle. Klassische Beispiele? Die Darwinfinken mit ihren Spezial-Schnäbeln. Oder die Säugetiere, die nach dem Ende der Dinosaurier die Welt in Rekordzeit neu besetzten: schwimmend (Wale), fliegend (Fledermäuse), denkend (Primaten).
Konvergenz sorgt dafür, dass uns die Zukunft vertraut-ungewohnt vorkommt. Delfine, Haie, Ichthyosaurier ähneln sich – nicht, weil sie verwandt sind, sondern weil Wasser hydrodynamische Körper erzwingt. Wo es offene Himmel gibt, entstehen Flügel; wo Beute schnell ist, entstehen geschärfte Sinne. In der Zukunft werden also wieder „Wölfe“, „Antilopen“, „Maulwürfe“ existieren – nur nicht aus denselben Vorfahren wie heute.
Inseln, überall Inseln – vom Eiland bis zum Superkontinent
Isolierte Räume sind Evolutionslabore. Auf Inseln wachsen Kleine groß (Inselgigantismus) und Große schrumpfen (Inselverzwergung) – je nach Ressourcen und Feinddruck. Und „Insel“ heißt künftig nicht nur ozeanisch: Wenn sich in ~200–300 Millionen Jahren wieder ein Superkontinent formt, entstehen gigantische Habitat-Inseln – Binnenwüsten, Hochplateaus, salzige Meere hinter Gebirgsketten. Isolation im XXL-Format könnte eine Flut bizarrer Zwerge und Riesen gebären.
Die Bühne rückt zusammen: Vier Wege zum nächsten Superkontinent
Die Erdplatten tanzen zyklisch. Alle paar hundert Millionen Jahre fusionieren die Kontinente zu einem Superkontinent – der dann wieder zerbricht. Für den nächsten Akt liegen vier plausible Skripte auf dem Tisch: Pangäa Ultima (Atlantik schließt sich), Novopangäa (Pazifik schließt sich), Aurica (beide Ozeane schließen, die Amerikas zentral), Amasia (die Kontinente versammeln sich um den Nordpol).
Was das biologisch bedeutet? Weniger Küsten und Schelfmeere, mehr kontinentales Extremklima. In den Innenräumen solcher Megaländer drohen gigantische Wüsten mit Tages-Hitze und Nacht-Kälte, die Säugetieren zusetzen. Neue Gebirge schaffen Refugien – und Regenschatten. Tektonik wird zum doppelten Motor: Sie killt und sie schafft Chancen für neue Radiationen.
Der Takt der Kälte: Milanković-Zyklen und das anthropogene Störsignal
Über diese geologischen Langbögen legt sich der astronomische Puls: Präzession, Achsneigung und Exzentrizität modulieren die Sonneneinstrahlung. Sie takten die Eiszeiten der letzten 700.000 Jahre – grob 100.000 Jahre Kaltzeit, kurze Warmzeit. Eigentlich stünde die nächste Kaltzeit irgendwann „bald“ an. Doch das Anthropozän hat den Taktstock entführt: Die Treibhausgaswolke verschiebt oder verhindert die nächste Eiszeit. Erst nach einem langen, warmen Nachhall finden die orbitalen Zyklen zur Dominanz zurück. Für die Evolution heißt das: Der Startzustand der nächsten Ära ist heiß und unruhig – die Selektion arbeitet zunächst am Hitzelimit.
Der große Filter: Wer bleibt, erbt
Wir leben mitten in einem menschengemachten Aussterben. Die Treiber: Lebensraumverlust, Übernutzung, invasive Arten, Verschmutzung, Klimawandel. Die „Big Five“ der Erdgeschichte zeigen, wie sich Biosphären danach neu ordnen – und welche Merkmale Überleben begünstigen. Klein, anpassungsfähig, weit verbreitet, mit hoher Reproduktionsrate – das sind die Gewinnerprofile.
Kurz: Die Zukunft gehört selten den Ikonen. Elefanten, Großkatzen, Eisbären sind verletzlich. Die Erb*innen der Erde könnten unscheinbar sein: Ratten, Krähen, Tauben, Schaben. Aus solchen Generalisten können – über viele Millionen Jahre – völlig neue „Großtiere“ entstehen, die die alten ökologischen Rollen füllen.
Drei Fenster in die Tiefenzeit
Stellen wir den Projektor scharf und schauen in drei plausible Epochen. Das ist kein Orakel, sondern ein konsistentes „Wenn-dann“ auf Basis der Regeln oben.
5 Millionen Jahre: Die Rückkehr der Kälte
Die vom Menschen verlängerte Warmzeit ist abgeklungen, die Milanković-Zyklen sind wieder am Ruder. Nordeuropa trägt Eisschilde bis nahe Paris, Nordamerika ebenso. Der Meeresspiegel ist gefallen, der Amazonas hat sich in Savanne verwandelt; Afrika ist mit Europa kollidiert, das Mittelmeer trocknete zu einer hypersalinen Senke aus.
In der Tundra ziehen Shagrats – groß gewordene Murmeltiere – in Herden, Fettpolster als Thermobank. Ein weißfelliges Raubtier, der Snowstalker (aus dem Vielfraß hervorgegangen), jagt mit säbelartigen Eckzähnen. An den Küsten sind Vögel zu Robbenersatz geworden: Der Gannetwhale, ein riesiger Basstölpel-Nachfahr, hat das Fliegen verlernt und fischt tauchend in eiskaltem Wasser.
In der Amazonas-Savanne übernehmen Vögel die Rolle der Großjäger. Carakiller, flugunfähige, zwei Meter hohe Karakaras, jagen sozial – konvergente Echos der Terrorvögel.
Am Rand der ausgetrockneten Mittelmeer-Salzwüste trickst der Cryptile, eine Echse mit ausfahrbarer, klebriger Halskrause als Insektenfalle. Scrofa, hochbeinige Schweinsnachkommen, huschen durch Felsspalten; gejagt vom Gryken, einem felsspezialisierten Marder-Verwandten.
100 Millionen Jahre: Die Treibhauswelt
Plattentektonik hat viel vulkanisches CO₂ freigesetzt; Eiskappen sind Geschichte, warme Flachmeere umspülen breite Kontinentränder. Antarktika driftete in Tropenbreiten und trägt dichten Regenwald. Australien, Asien und Nordamerika sind kollidiert – ein über-12.000-Meter-Plateau türmt sich auf.
In den Ozeanen übernehmen Kopffüßer die Bühne. Der Rainbow Squid kommuniziert in choreografierten Farbblitzen und jagt im Team. Einige Verwandte gehen an Land: der achtbeinige, luftatmende Megasquid zieht durch Mangrovensümpfe. Die Sumpfwälder beben unter Toratons – schildkrötenstämmige Pflanzenfresser, schwerer als jedes bisherige Landtier.
Im antarktischen Regenwald summen Falconflies – raubende Riesenwespen. Und weil Evolution gern verblüfft, haben einige Fische die Luft erobert: Flish verbringen ihr Leben im Blätterdach, mit zu Flügeln umgebauten Brustflossen – Insektenjäger im grünen Himmel.
Auf dem gigantischen Plateau schwebt der Great Blue Windrunner (Kranich-Abstammung) mit zwei Flügelpaaren stundenlang im Kantenaufwind, ernährt sich von Pollen und Sporen – UV-Reflexion inklusive. In Felswänden spinnen Silver Spiders vernetzte Kolonien und „farmen“ Algen, die kleine Nager, die Poggles, für sie ernten – ein Hauch Proto-Landwirtschaft.
200 Millionen Jahre: Pangäa reloaded
Der neue Superkontinent (nehmen wir Pangäa Ultima) bündelt extreme Gegensätze: ein globaler Ozean und ein direkthitziges Wüstenherz, feuchte Monsunküsten als Lebensadern.
Auf See treibt der Ocean Phantom – kilometerlange, arbeitsteilige Polypenkolonien, schillernde Städte im Wasser. Ihre Spindle Troopers verteidigen die Flöße; in der Tiefe koordinieren Sharkopaths Jagden mit Biolumineszenz-Signalen.
Im Wüsteninneren regiert das Soziale: Terabytes, termiteartige Superstaaten, transportieren Wasser unterirdisch, pflegen Pilzgärten, organisieren Kastenarbeit – Biologie als Ingenieurskunst. An der Oberfläche huschen flinke, vogelähnliche Insektenjäger durch Hitzeflimmern.
In den Küstenwäldern schließlich eine Überraschung: Squibbons, baumbewohnende Kopffüßer mit Greiftentakeln, hoher Kognition und erster Werkzeugnutzung. Ein fernes Echo unseres eigenen kletternden Ursprungs – nur mit Saugnäpfen.
Posthuman? Das alternative Ende des Menschenkapitels
Vielleicht endet Homo sapiens nicht biologisch, sondern metamorphisiert technologisch. Transhumanistische Pfade reichen von gezielter Genom-Editierung gegen Krankheiten über neuronale Schnittstellen bis zum viel diskutierten „Mind Uploading“. Das wäre Evolution mit neuen Regeln: weniger selektiert, mehr designt – mitsamt Ethikfragen zu Gerechtigkeit, Autonomie und ökologischen Nebenwirkungen.
Sicher ist: Unser geologisches Erbe bleibt. Plastik in Gesteinen („Plastiglomerate“), eine scharfe Kohlenstoffisotopensignatur aus verbrannten Fossilien, Radioisotope aus Tests und Unfällen – die „P-A-Grenze“ wird zukünftigen Geolog*innen als blitzheller Marker entgegenleuchten. Selbst ohne uns wirkt unser Eingriff nach: gentechnisch veränderte Organismen, eingeführte Arten, verwandelte Zyklen.
Warum uns die Zukunft etwas über heute erzählt
Spekulative Evolution ist ein Spiegel. Wer plausibel durch die Tiefenzeit reist, sieht: Wir sind nicht Ziel, sondern Episode. Das Leben ist verletzlich – und widerständig. Nach jedem Kollaps entsteht Neues, oft Staunenswerteres. Die Frage ist weniger, ob Leben weitermacht, sondern wie – und welches Erbe wir ihm mitgeben.
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Quellen:
Speculative evolution – Wikipedia – https://en.wikipedia.org/wiki/Speculative_evolution
Speculative biology: understanding the past and predicting our future – The Guardian – https://www.theguardian.com/science/2018/may/30/speculative-biology-understanding-the-past-and-predicting-our-future
einfach erklärt: Evolution in der Biologie – Studyflix – https://studyflix.de/biologie/evolution-2912
Evolutionsfaktoren ausführlich erklärt – StudyHelp – https://www.studyhelp.de/online-lernen/biologie/evolutionsfaktoren/
Triggering adaptive radiation – UC Berkeley – https://evolution.berkeley.edu/triggering-adaptive-radiation/
Adaptive radiation – Wikipedia – https://en.wikipedia.org/wiki/Adaptive_radiation
Konvergente Evolution – StudySmarter – https://www.studysmarter.de/schule/biologie/evolution/konvergente-evolution/
Konvergenz in der Biologie – Sofatutor – https://www.sofatutor.com/biologie/videos/konvergenz-biologie
Island gigantism – Wikipedia – https://en.wikipedia.org/wiki/Island_gigantism
Foster’s Rule – Wikipedia – https://en.wikipedia.org/wiki/Foster%27s_rule
The island rule: made to be broken? – PMC – https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC2596178/
Four scenarios for the next supercontinent – Big Think – https://bigthink.com/strange-maps/next-supercontinent/
Pangaea Proxima – Wikipedia – https://de.wikipedia.org/wiki/Pangaea_Proxima
Earth may once again have a supercontinent in 200 million years – Earth.com – https://www.earth.com/news/earth-supercontinent/
Milanković-Zyklen – Wikipedia – https://de.wikipedia.org/wiki/Milankovi%C4%87-Zyklen
Die Simulation von Eiszeitzyklen – Max-Planck-Gesellschaft – https://www.mpg.de/847908/forschungsSchwerpunkt
Ursachen und Folgen des Klimawandels – bpb – https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/klima-347/336195/ursachen-und-folgen-des-klimawandels/
Erdgeschichte: Das sechste Massenaussterben – Spektrum der Wissenschaft – https://www.spektrum.de/news/erdgeschichte-das-sechste-massenaussterben/1889650
There have been five mass extinctions in Earth’s history – Our World in Data – https://ourworldindata.org/mass-extinctions
Verlust der Biodiversität – Europäisches Parlament – https://www.europarl.europa.eu/topics/de/article/20200109STO69929/verlust-der-biodiversitat-ursachen-und-folgenschwere-auswirkungen
Mass Extinctions Through Geologic Time – U.S. National Park Service – https://www.nps.gov/subjects/fossils/mass-extinctions-through-geologic-time.htm
The Future Is Wild – Wikipedia – https://en.wikipedia.org/wiki/The_Future_Is_Wild
Posthumanismus – Wikipedia – https://de.wikipedia.org/wiki/Posthumanismus
BMUV: FAQ zu Gentechnik – https://www.bundesumweltministerium.de/themen/naturschutz/gentechnik
Gentechnik: Leben aus dem Labor – WWF Deutschland – https://www.wwf.de/themen-projekte/landwirtschaft/gentechnik








































































































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