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WTF-Fragen
 

Haben die Arme eines Oktopus ein eigenes Gehirn?

 

Kategorie:

Biologie

Der kurze TEASER:

Ja, gewissermaßen schon! Zwei Drittel seiner Neuronen sitzen direkt in den Armen, weshalb sie unabhängig vom Kopf schmecken, fühlen, denken und sich bewegen können – eine der fremdartigsten Formen von Intelligenz auf unserem Planeten.

Die ausführliche Antwort:

Die Szene könnte aus einem Sci-Fi-Horrorfilm stammen: Ein abgetrennter Oktopusarm, der sich noch minutenlang windet, eine Muschel ertastet und versucht, sie in Richtung eines Mundes zu befördern, der gar nicht mehr da ist. Das ist keine Fiktion, sondern beobachtete Realität und der wohl krasseste Hinweis darauf, dass das, was im Inneren eines Oktopus vor sich geht, unser menschliches Verständnis von Bewusstsein und Steuerung komplett auf den Kopf stellt. Wir sind es gewohnt, dass unser Gehirn der alleinige Chef im Ring ist – eine zentrale Kommandoeinheit im Schädel, die jeden Befehl an unsere Gliedmaßen sendet. Der Oktopus hat sich für einen radikal anderen, dezentralen Weg entschieden. Er ist sozusagen der CEO eines Unternehmens, in dem die acht Abteilungsleiter (die Arme) eine extreme Autonomie genießen. Ein ausgewachsener Pazifischer Riesenkrake besitzt rund 500 Millionen Neuronen. Das ist in etwa die Größenordnung eines Hundes. Doch jetzt kommt der Clou: Nur etwa ein Drittel dieser Neuronen, also rund 150-180 Millionen, befindet sich im zentralen Gehirn zwischen den Augen. Die restlichen zwei Drittel, also über 300 Millionen Nervenzellen, sind direkt in den acht Armen verteilt. Jeder Arm verfügt über ein eigenes, komplexes Netzwerk aus Ganglien – eine Art Mini-Gehirn, das Informationen verarbeiten und eigenständige Entscheidungen treffen kann. Das zentrale Gehirn gibt oft nur einen groben Befehl wie: „Dort drüben unter dem Stein könnte Futter sein, Arm Nummer drei, sieh mal nach.“ Der Arm übernimmt dann den Rest. Er entscheidet selbstständig, wie er sich um den Stein schlängelt, welche Textur er ertastet, ob das Objekt interessant ist und mit welcher Kraft er zugreifen muss. Diese Autonomie geht so weit, dass die Arme sensorische Aufgaben erfüllen, die wir mit Mund und Nase verbinden würden. Die Saugnäpfe sind mit Chemorezeptoren ausgestattet. Ein Oktopusarm kann also durch bloße Berührung „schmecken“ und „riechen“. Er kann erkennen, ob er eine Krabbe, einen Stein oder einen Artgenossen berührt, ohne dass diese Information erst den langen Weg zum Gehirn und zurück nehmen muss. Diese Fähigkeit zur lokalen Verarbeitung ist ein gewaltiger evolutionärer Vorteil. Stell dir vor, du müsstest acht Gliedmaßen, die keine Knochen haben und sich in unendlich viele Richtungen biegen können, millimetergenau und gleichzeitig steuern. Ein zentrales Gehirn wäre damit heillos überfordert. Die Evolution hat hier eine geniale Lösung gefunden: Sie hat die Intelligenz ausgelagert. Ein faszinierendes Rätsel war lange, warum sich ein Oktopus mit seinen hyperflexiblen Armen nicht ständig selbst verknotet. Forscher fanden heraus, dass die Haut des Oktopus eine chemische Substanz absondert, die den Saugnäpfen signalisiert: „Das bin ich, nicht packen!“. Ein Arm erkennt also die Haut eines anderen Arms desselben Tieres und verhindert so ein Festkrallen. Diese Selbst-Nicht-Erkennung ist ein weiterer Beweis für die komplexe Verarbeitung, die lokal im Arm stattfindet. Erst wenn diese chemische Signatur fehlt – wie bei einer Beute oder wenn Forscher einen Arm mit einer fremden Oktopushaut überziehen – greift der Saugnapf fest zu. Was bedeutet das für das Bewusstsein des Tieres? Wir können es nicht mit Sicherheit sagen, aber es stellt unsere anthropozentrische Sichtweise infrage. Fühlt der Oktopus mit acht verschiedenen Gliedmaßen gleichzeitig? Hat jeder Arm eine Art rudimentäres, eigenes Empfinden? Diese Fragen führen uns an die Grenzen der Biologie und Philosophie. Der Oktopus ist der Beweis, dass Intelligenz nicht zwingend eine zentralisierte Angelegenheit sein muss. Er ist ein Wesen, dessen „Denken“ und „Fühlen“ im ganzen Körper verteilt ist – eine wandelnde, atmende Verkörperung des Konzepts der „Embodied Cognition“. Wenn wir einen Oktopus beobachten, wie er mit seinen Armen ein Glas aufschraubt, seine Farbe und Textur perfekt an die Umgebung anpasst oder mit einem Menschen zu interagieren scheint, blicken wir auf eine Intelligenz, die sich über Jahrmillionen auf einem völlig anderen Ast des Lebensbaums entwickelt hat. Fremdartig, brillant und ein ewiges „WTF“ der Wissenschaft.
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