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Seele und Bewusstsein: Was bleibt, wenn der Atem geht?

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Hast du eine Seele? Eine Untersuchung zwischen Atem, Glauben und Gehirn


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Die Anatomie eines Konzepts


Die Frage „Haben wir eine Seele?“ ist keine einzelne Frage, sondern ein Knoten aus Biologie, Philosophie, Religion und Selbsterfahrung. Schon die Sprache verrät, worum es ursprünglich ging: Psyche, Anima, Atman, Nefesch/Nafs – überall steckt der Atem drin. Unser ältester „Seelentest“ war schlicht: Wer atmet, lebt. Wenn der Atem versiegt, entweicht etwas, das uns als lebendig kenntlich machte. Aus dieser nüchternen Beobachtung wuchsen später hochkomplexe Weltbilder.


Heute prallen zwei Ebenen aufeinander: die ontologische („Was ist Bewusstsein?“) und die normative („Wie sollen wir leben?“). Dazwischen steht unser Alltagserleben – Schmerz, Freude, Erinnerung, Bedeutung –, das sich beharrlich der kompletten Reduktion entzieht. Genau hier setzt diese Reise an: von der Antike bis zur Neurowissenschaft, von Atman bis Anatta, von Substanz bis Metapher – und immer wieder zurück zu Seele und Bewusstsein als rotem Faden.


Vom Atem zur Idee: Frühe Wurzeln der Seele


In den ältesten griechischen Texten war die Psyche eher ein hauchdünner Lebensrest, der den Toten als Schatten begleitet – Persönlichkeit und Mut saßen im Thymos. Vorsokratiker machten daraus ein Naturprinzip: Für Anaximenes war die Seele Luft, die Kosmos und Körper zusammenhält; für Demokrit feine „Feueratome“, die Bewegung ermöglichen. Das klingt naiv – aber es markiert die erste große Intuition: Seele = Prinzip des Lebendigseins.


Mit Platon wird aus dem Lebensprinzip eine moralische Instanz. Die Seele ist unsterblich, dreigeteilt und trägt Verantwortung: Vernunft soll Begierden und Mut ordnen. Der Körper wirkt wie ein Gefängnis, aus dem die Philosophie befreit. Aristoteles kontert: Die Seele ist keine zweite Substanz, sondern die Form/Funktion des Körpers – so wie Sehen die „Seele“ des Auges ist. Damit kehrt die Idee auf den Boden der Biologie zurück.


Die westliche Erfindung des inneren Selbst


Spätantike und Mittelalter verknüpfen diese Linien. Thomas von Aquin übernimmt Aristoteles’ Einsicht – die Seele als forma corporis –, ergänzt aber die christliche Forderung nach individueller Unsterblichkeit. Ergebnis: eine elegante, aber spannungsgeladene Synthese. Die Seele belebt den Körper und kann doch als Geist fortbestehen. Damit ist der Grundkonflikt gesetzt: Ist die Seele etwas, das wir sind, oder etwas, das wir haben?


Die Moderne verschärft ihn. Descartes spaltet Welt und Mensch in zwei Substanzen: res extensa (Materie) und res cogitans (Geist). Sicher ist nur: Ich denke – also existiert ein denkendes Etwas. Doch wie interagiert das Unräumliche mit dem Räumlichen? Die berühmte Zirbeldrüse als „Kontaktstelle“ erklärt wenig. Kritiker sprechen vom „Geist in der Maschine“. Seither ringt die Philosophie mit dem Interaktionsproblem – heute getarnt als „Hard Problem of Consciousness“.


Die psychologische Wende: Von der Seele zur Psyche


Mit der Psychologie wandert die Seele vom Altar auf die Couch. Freud benutzt das Wort „Seele“, meint aber einen psychischen Apparat: Es, Ich, Über-Ich. Heil ist nicht Erlösung, sondern Konfliktbearbeitung. Jung öffnet das Modell ins Kollektive: Archetypen wie Anima/Animus strukturieren unser Unbewusstes, Ziel ist Individuation – die Integration von Gegensätzen. Ergebnis: Die Seele wird Prozess, nicht Ding. Das klingt weltlich, bleibt aber existenziell: Wir brauchen Begriffe für Tiefe, Würde und Verletzlichkeit des Inneren – auch ohne Metaphysik.


Weltreligionen I: Atman, Brahman und die Logik der Befreiung


Im Hinduismus heißt die Seele Atman – das wahre, unveränderliche Selbst. Es trägt Karma durch den Kreislauf von Samsara und kann Moksha, die Befreiung, erlangen. In der Advaita-Vedanta fällt Atman mit Brahman, der absoluten Wirklichkeit, zusammen: „Das bist Du.“ Erlösung ist Erkenntnis, nicht Ortswechsel. In dualistischen Schulen bleibt Atman individuell und lebt in Beziehung zu Gott. Gemeinsam ist allen: Kontinuität braucht ein Träger – daher der unzerstörbare Kern.


Weltreligionen II: Buddhismus und die radikale Verneinung


Der Buddhismus dreht die Schraube heraus: Anatta – Nicht-Selbst. Was wir „Ich“ nennen, ist ein Bündel von Prozessen (Skandhas): Körper, Empfindungen, Wahrnehmungen, Formationen, Bewusstsein. Sie sind vergänglich (anicca) und leidhaft (dukkha), solange wir an ihnen haften. Befreiung (Nirvana) heißt: die Illusion eines Kerns durchschauen. Wie passt das zur Wiedergeburt? Nicht eine Substanz wandert, sondern Kausalität setzt sich fort – wie eine Flamme, die die nächste entzündet. Spätere Mahayana-Texte sprechen von Buddha-Natur – eine Rückbewegung Richtung „wahres Selbst“. Doch der frühe Stachel bleibt: Das „Ich“ ist gemacht, nicht gegeben.


Weltreligionen III: Die geschaffene, relationale Seele


Die abrahamitischen Traditionen setzen auf Schöpfung und Beziehung. Im Judentum differenzieren Mystiker Nefesch, Ruach, Neschama – vom lebensspendenden Prinzip bis zum „göttlichen Funken“. Das Christentum sieht die Seele als Ebenbild Gottes: geistig, persönlich, zur Gemeinschaft fähig. Im Islam unterscheidet man Ruh (göttlicher Geist) und Nafs (Ego/Seele). Der Ruh stammt von Gott und kehrt zu ihm zurück; die Nafs ist geprüft, sterblich und wird gerichtet. Philosophisch interessant: Diese Unterscheidung vermeidet das Problem eines körperlosen Egos – fortbestehend ist nicht die komplexe Persönlichkeit, sondern der göttliche Ursprung.


Vergleich ohne Tabelle: Was die Konzepte trennt – und verbindet


Statt einer Tabelle ein gedanklicher Rundgang:Platon betont Unsterblichkeit und Moral; Aristoteles Funktion und Form; das Christentum Relation zu Gott; Judentum und Islam Abstufungen und Trennung von göttlichem Geist und persönlichem Selbst. Der Hinduismus liefert den metaphysischen Träger über Leben hinweg; der Buddhismus zerlegt das Selbst in Prozesse. Gemeinsamer Nenner? Alle ringen um Identität über Zeit – entweder als Kern, Funktion, Relation oder Illusion. Und überall lugt unser Keyword hervor: Seele und Bewusstsein werden als zwei Seiten derselben Sache verhandelt – mal identisch, mal unvereinbar.


Die materialistische Herausforderung: Wenn das Gehirn die Seele frisst


Die Neurowissenschaft liefert ein hartes Gegenargument: Verändert man das Gehirn, verändert sich die Person. Schlaganfälle, Demenz oder Frontalläsionen können Moral, Erinnerung, Impulskontrolle, sogar Humor umschreiben. Wenn ein Tumor das „Ich“ verbiegt, wirkt die Idee einer unabhängigen Seelensubstanz wie ein doppelter Boden, der ständig reißt. Ockhams Rasiermesser schneidet: Warum zwei Entitäten annehmen, wenn eine – das Gehirn – die Arbeit erledigt?


Radikalere Stimmen sprechen vom eliminativen Materialismus: Alltagsbegriffe wie „Seele“, „Glaube“, „Wunsch“ seien eine Volkspsychologie, die künftige Wissenschaft eliminiert, statt sie in Neurosprech zu übersetzen – wie „Phlogiston“ durch Sauerstoff ersetzt wurde. In gewisser Weise trifft sich dieser Naturalismus mit dem buddhistischen Anatta: Das Ich ist konstruiert. Nur die Erklärrichtung ist anders – Neuronen hier, Skandhas dort.


Gegenargumente: Qualia, Marys Zimmer und Nahtodberichte


Und doch: Etwas sperrt sich. Das Erleben selbst – Qualia – wirkt wie ein blinder Fleck im Labor. Wir können messen, welche Fasern bei Schmerz feuern; aber warum fühlt es sich so an? Frank Jacksons Gedankenexperiment „Marys Zimmer“ macht es greifbar: Jemand kennt alle physikalischen Fakten über Farben, sieht aber erst beim ersten Rot etwas Neues. Wenn „alles Physik“ wäre, woher kommt dieses Mehr? Das muss kein Rückfall in Substanzdualismus sein. Es stützt zumindest einen Eigenschaftsdualismus: Physische Systeme können nicht-physische Eigenschaften haben – Erleben als andere Seite derselben Medaille.


Zweites Reibungsfeld: Nahtoderfahrungen. Menschen berichten bei klinischem Stillstand – teils mit flachem EEG – von geordneten, intensiven Erfahrungen: Tunnel, Licht, Rückschau, Begegnungen. Naturalistische Erklärungen existieren (Hypoxie, Neurochemie, surging Gamma-Oszillationen, Dissoziation). Dualisten halten dagegen: Klarheit ohne aktives Gehirn spricht für Bewusstsein jenseits seiner Hardware. Beide Seiten lesen dieselben Daten durch unterschiedliche Vorannahmen. Sicher ist nur: Die Erlebnisse sind wirklich – als Phänomene, die Biografie und Werte verändern.


Seele und Bewusstsein: Zwei Fragen, ein Projekt


Vielleicht hilft ein Perspektivwechsel. Statt zu fragen, ob es die Seele gibt, fragen wir wofür wir sie brauchen. Auf der wissenschaftlichen Achse geht es um Ontologie: Was ist Bewusstsein? Auf der kulturellen Achse geht es um Würde, Sinn, Verletzlichkeit. Der akademische Sprachwandel von „Seele“ zu „Bewusstsein/Psyche“ löst ersteres präziser, lässt zweites aber oft nüchtern zurück. Darum lebt die Seele als Metapher weiter – in Seelsorge, in Kunst, in Ethik. Sie stiftet Achtung vor dem Inneren, das man nicht einfach wegrationalisieren kann, ohne Menschen zu verlieren.


Vielleicht ist dies die ehrlichste Zwischenbilanz:


  • Seele als Substanz (platonisch-christlich) – unbewiesen und schwer mit Hirnfakten vereinbar.

  • Seele als ewiges Selbst (Atman) – kohärent im System, aber nicht testbar.

  • Seele als Illusion (Buddhismus, Eliminativismus) – plausibel, doch Erleben bleibt eigensinnig real.

  • Seele als Erleben (Qualia) – unleugnbar vorhanden, ontologisch offen.

  • Seele als Metapher – praktisch notwendig, um menschliche Würde zu artikulieren.


Am Ende gilt: Wir alle operieren mit irgendeinem Seelenbegriff – explizit religiös, still phänomenologisch oder pragmatisch-psychologisch. Wichtig ist Transparenz darüber, welches Konzept wir nutzen, und Demut, dass konkurrierende Konzepte mehr erklären könnten, als uns lieb ist.


Ausblick: Eine pragmatische Haltung


Was folgt daraus für dich und mich? Erstens: Intellektuelle Hygiene – wir trennen sauber zwischen Daten, Deutung und Dogma. Zweitens: Existenzielle Fürsorge – unabhängig von Metaphysik brauchen Menschen Begleitung in Krisen, Rituale der Bedeutung, eine Sprache für Schmerz und Hoffnung. Drittens: Forschungslust – Bewusstsein ist das größte offene Rätsel der Naturwissenschaft. Es lohnt sich, beides zu halten: den Sinn für Evidenz und die Staunfähigkeit für das, was noch keine gute Theorie hat.


Wenn dich dieser Spagat zwischen Laborkittel und Lebensfragen begeistert, folge unserer Community für weitere Essays, Grafiken und Diskussionsrunden:



Am Ende interessiert mich deine Perspektive: Welches Seelenkonzept überzeugt dich – und warum? Like den Beitrag, wenn er dich weitergebracht hat, und teile deine Gedanken in den Kommentaren.


Quellen:


  1. Bedeutung von Seele im Christentum – https://www.wisdomlib.org/de/christentum/concept/seele

  2. Die Rückkehr der Seele (EZW) – https://www.ezw-berlin.de/fileadmin/user_upload/ezw-berlin/PDF/EZW-Mitarbeiter_innen_PDF/Ut/Utsch_Seele_zeitzeichen_5-2021.pdf

  3. Psyche (psychology) – https://en.wikipedia.org/wiki/Psyche_(psychology)

  4. Grundbegriffe der Philosophie: Die Seele (Roth) – https://www.florian-roth.com/wp-content/uploads/2020/01/Seele.pdf

  5. Seele | Naturphilosophie – https://www.naturphilosophie.org/seele/

  6. Ātman (Hinduism) – https://en.wikipedia.org/wiki/%C4%80tman_(Hinduism)

  7. Nafs und Rūh (Brill) – https://brill.com/display/book/9783657760138/BP000025.xml

  8. Nephesh/Ruach/Neschama (Diskussion) – https://www.reddit.com/r/AcademicBiblical/comments/fan3na/nephesh_vs_ruach_vs_neshamah_what_is_the/?tl=de

  9. The mind–body problem (Video) – https://www.youtube.com/watch?v=D1Lfl4WmySE

  10. Nirvana vs. Erleuchtung (Vergleich) – https://de.hdasianart.com/blogs/news/nirvana-vs-enlightenment-understanding-the-key-differences-in-buddhist-and-hindu-thought

  11. Descartes’ Dualismus – https://djlensing.de/blog/descartes-dualismus/

  12. Körper ist Geist (Spektrum-SciLogs) – https://scilogs.spektrum.de/menschen-bilder/koerper-ist-geist/

  13. Wie das Leib-Seele-Problem in den logischen Empirismus kam – https://uni-tuebingen.de/fileadmin/.../wie_das_leib-seele.pdf

  14. Qualia (Stanford Encyclopedia of Philosophy) – https://plato.stanford.edu/entries/qualia/

  15. Qualia – Wikipedia – https://en.wikipedia.org/wiki/Qualia

  16. Die erloschene Seele (FU Berlin) – https://www.ewi-psy.fu-berlin.de/.../die_erloschene_seele_01.pdf

  17. Anima and Animus – https://en.wikipedia.org/wiki/Anima_and_animus

  18. Hinduism – Karma, Samsara, Moksha (Britannica) – https://www.britannica.com/topic/Hinduism/Karma-samsara-and-moksha

  19. Anatta – Wikipedia – https://de.wikipedia.org/wiki/Anatta

  20. The Wheel of Samsara (Buddhismus) – https://de.hdasianart.com/blogs/news/the-wheel-of-samsara-understanding-the-concept-of-rebirth-in-buddhism

  21. Neschama – Jewish-Languages – https://jdw.jewish-languages.org/words/2930

  22. Olam HaBa – Wikipedia – https://de.wikipedia.org/wiki/Olam_Haba

  23. Seele aus islamischer Sicht – https://www.ibn-rushd-goethe-moschee.de/predigten1/seele-aus-islamischer-sicht/

  24. Wann wird die Seele in den Fötus eingehaucht? – https://www.madrasah.de/leseecke/aqidaglaubenslehre/wann-wird-r%C5%AB%E1%B8%A5-die-seele-den-f%C3%B6tus-eingehaucht

  25. Philosophische Grundlagen der Kognitionspsychologie – https://tu-dresden.de/.../V09-Philosopie-der-Kognition.pdf

  26. Nahtoderfahrung – Wikipedia – https://de.wikipedia.org/wiki/Nahtoderfahrung

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