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Vom Hashtag zur Hegemonie: Eine Tour durch die kulturwissenschaftliche Symboltheorie

Eine Collage zeigt links eine antike Marmorbüste, im Hintergrund ein leuchtend rotes Kreuz und abstrakte Linien. Rechts dominiert ein Smartphone mit US-Flagge und typischen Social-Media-Symbolen (Like, Sprechblase, Hashtag, Smiley). In der Mitte steht fett auf gelbem Balken: „Symbole regieren die Welt – mehr als Fakten.“

Symbole zuerst: Wie Zeichen unsere Wirklichkeit bauen


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Warum Symbole die Welt regieren (und Fakten selten allein)


„Fakten sind Fakten“ – klingt vernünftig, oder? Doch sobald wir miteinander reden, wählen, posten, lieben oder streiten, bewegen wir uns in einer Sphäre, in der Symbole die Musik machen: Flaggen und Emojis, Markenlogos und Hashtags, Mythen und Memes. Kulturwissenschaften sprechen deshalb vom „Symboluniversum“, einem riesigen Bedeutungsgewebe, in dem wir uns täglich orientieren – oder verirren.


Die kulturwissenschaftliche Symboltheorie fragt: Wie wird aus einem Zeichen Sinn? Wer produziert ihn, wer profitiert davon – und wie ändern sich Bedeutungen über Zeit? Vier Traditionslinien liefern das Rüstzeug: Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, der Symbolische Interaktionismus, Jungs Archetypenlehre sowie die Semiotik/Ideologiekritik von Barthes (später politisch zugespitzt durch Stuart Hall). Im Hintergrund wirkt der „Cultural Turn“, der Kultur, Repräsentation und Sinnproduktion ins Zentrum der Geistes- und Sozialwissenschaften rückte.


Klingt abstrakt? Keine Sorge – wir bauen das Stück für Stück auf und landen am Ende bei sehr konkreten Dingen: vom Alltagskonsum bis zu Internet-Memes und den politischen Kämpfen um Denkmäler, Flaggen und Hashtags. Deal?


Cassirer: Der Mensch als animal symbolicum


Ernst Cassirer setzt einen kühnen Startpunkt: Der Mensch ist nicht primär das animal rationale, sondern das animal symbolicum – ein Wesen, das Welt aktiv durch Symbole formt. Sprache, Mythos, Religion, Kunst und Wissenschaft sind für ihn autonome symbolische Formen, keine bloßen Spiegel der Wirklichkeit. Wir sehen also nie „nackte“ Sinneseindrücke; Wahrnehmung ist immer schon symbolisch prägnant – aufgeladen mit Bedeutung.


Diese Verschiebung hat Folgen. Erstens: Mythos und Kunst sind nicht „irrationale Reste“, sondern gleichwertige Weisen des Weltverstehens. Zweitens: Symbolisierung verläuft in Stufen – Ausdruck (mythisch-ritualhaft, Zeichen und Sache verschmelzen), Darstellung (sprachliche Trennung von Zeichen und Referent) und reine Bedeutung (wissenschaftliche Abstraktion, z.B. Mathematik). Drittens: Kultur ist nicht Dekoration, sondern Weltbau. Wer Kultur analysiert, untersucht nicht Beiwerk, sondern das Betriebssystem unseres Denkens.


Für die kulturwissenschaftliche Symboltheorie ist Cassirer so etwas wie die Grundlagensoftware: Er legitimiert, dass wir Kultur als vielstimmiges System symbolischer Praktiken ernst nehmen – ohne die Hierarchie „Wissenschaft oben, Mythos unten“.


Interaktion statt Essenz: Wie Bedeutung sozial entsteht



Zoom auf den Alltag: Der Symbolische Interaktionismus (Mead/Blumer) zeigt, wie Bedeutungen zwischen Menschen entstehen. Drei Prämissen helfen als Kompass:


  • Menschen handeln Dingen gemäß der Bedeutung, die diese Dinge für sie haben.

  • Bedeutungen entstehen in sozialer Interaktion.

  • Bedeutungen werden interpretiert und verändert.


Damit wird Gesellschaft nicht als starres Gebäude verstanden, sondern als Prozess: doing everyday life. Und Symbole sind Werkzeuge der Koordination – von der Geste im Gespräch bis zur Kleidung als Gruppencode. Für die Praxis der Kulturwissenschaft heißt das: Wir müssen beobachten, wie Menschen Bedeutungen aushandeln – in Klassenzimmern, Kommentarspalten, WhatsApp-Gruppen, Stadien, Trauerritualen. Cassirer liefert die epistemologische Bühne, der Interaktionismus zeigt die Regieanweisungen für die Probe. Beide zusammen erklären, wie große symbolische Ordnungen (Nation, Religion, Wissenschaft) unten gelebt, bestätigt – oder infrage gestellt werden.


Tiefenbilder der Psyche: Jungs Archetypen – Gewinn und Risiko


C. G. Jung verlegt den Quell der mächtigsten Symbole in die Tiefe der Psyche: ins kollektive Unbewusste. Dort schlummern Archetypen – „leere“ Grundmuster wie Mutter, Held, Schatten, Weiser, die Kulturen mit je eigener Erfahrung füllen. Symbole sind hier Transformatoren psychischer Energie; sie vermitteln zwischen Bewusstem und Unbewusstem und treiben Individuation voran.

Das liefert starke Analysetools für Märchen, Mythen, Hollywoodplots und Markenführung (warum „der Held“ immer wieder zieht). Aber: Aus Sicht der Kulturwissenschaft ist Jungs Ansatz riskant essentialistisch. Was als „universell“ gilt, kann andro- oder eurozentrische Normen naturalisieren. Ist der Held wirklich ein transkulturelles Urbild – oder verweist er auf patriarchale Narrative von Kampf, Eroberung, Dominanz? Hier liegt produktive Spannung: Zwischen möglicherweise gemeinsamen menschlichen Dispositionen und ihrer historisch-politischen Formung.


Barthes (und Hall): Vom Zeichen zum Mythos zur Macht


Jetzt wird’s scharf: Die Semiotik liefert die Grammatik, mit der Roland Barthes Alltagsmythen zerlegt. Aus einem einfachen Zeichen (Bild + begrifflicher Inhalt) wird auf zweiter Ebene Mythos: Das Zeichen selbst wird zum Signifikanten für einen ideologischen Begriff. Ergebnis: Naturalisation – Geschichte erscheint als Natur. Das Magazincover mit dem salutierenden Soldaten „beweist“ plötzlich die Harmlosigkeit des Kolonialreichs. Der neue Wagen „zeigt“ Freiheit und Männlichkeit. Das ist nicht harmlos, sondern politisch.


Stuart Hall dreht die Schraube weiter: Repräsentation erschafft Wirklichkeit; Medien enkodieren bevorzugte Lesarten, Publika dekodieren dominant, ausgehandelt oder oppositionell. Bedeutungen sind umkämpft, Hegemonie wird über Zustimmung organisiert, nicht nur über Zwang. Damit wird Symbolanalyse zur Machtanalyse: Wer setzt durch, was „normal“, „vernünftig“, „patriotisch“ oder „bedrohlich“ erscheint? Die kulturwissenschaftliche Symboltheorie wird hier zum Werkzeugkasten, mit dem wir diese Kämpfe sichtbar machen.


Der Cultural Turn: Kultur als Ursache, nicht Kulisse


Der Cultural Turn verschob seit den 1970ern den Blick von Strukturen, Gesetzen und reinen Ökonomien auf Bedeutung, Diskurs und Repräsentation. Kultur ist nicht bloße Oberfläche, sondern kausal wirksam. Clifford Geertz operationalisiert das: Dichte Beschreibung statt dünner Notiz. Ein Zwinkern ist nicht nur ein Zucken; es bedeutet je nach Kontext Komplizenschaft, Spott, Flirt, Parodie. Kultur als Text: Wir lesen Handlungen, Rituale, Dinge – und übersetzen sie, Schicht für Schicht.


Kritik daran ist wichtig: Geertz’ Bedeutungsgewebe wirkt mitunter zu harmonisch. Hall erinnert: Es geht auch um Konflikt, Hegemonie, Widerstand. Die Synthese lautet: Dicht beschreiben, aber immer machtanalytisch lesen. Genau hier entfaltet die kulturwissenschaftliche Symboltheorie ihre Schlagkraft.


Alltagsdinge, die sprechen: Konsum als Mythos und Ritual


Ein Smartphone ist kein „nur“ – es ist ein Symbolbündel: Konnektivität, Status, Modernität, Zugehörigkeit. Ein Bio-Label erzählt vom guten Leben, eine Designerstuhllehne vom kulturellen Kapital der Besitzer. Werbung ist dabei nicht bloß Information, sondern Mythengenerator: Sie koppelt Dinge an Gefühle und Ideale. Konsum wird so zur Kommunikation – wir signalisieren Werte, Grenzziehungen, Zugehörigkeit. Und Dinge wirken zurück: Raumordnungen (Hörsaalreihen vs. Stuhlkreis) strukturieren Interaktion und Macht.


Wer hier nur „Lesen“ sagt, übersieht Materialität: Dinge ermöglichen und begrenzen Handeln. Kulturwissenschaftliche Analyse fragt deshalb: Wie greifen Materialität, Symbolik und Praxis ineinander? Genau das macht die kulturwissenschaftliche Symboltheorie im Alltag so nützlich – vom Supermarktregal bis zur Wohnungseinrichtung.


Identität als Baustelle: Flaggen, Szenestile, Labels


Kollektive Identitäten entstehen symbolisch: Flaggen, Hymnen, Denkmäler bauen eine imagined community, verdichten ein selektives Gedächtnis und legitimieren Herrschaft. Gleichzeitig zeigen Subkulturen, wie Symbole gekidnappt und neu kodiert werden: Das Kreuz wird in Gothic-Kontexten ästhetisch, morbid, provokativ; Streetwear markiert Szenezugehörigkeit und Widerstand. Symbole sind nicht nur Klebstoff, sondern auch Waffen: Sie integrieren – und stigmatisieren (Stichwort Labelling). Jede Nationalflagge, jedes Abzeichen ist umkämpft – Bedeutung ist nie endgültig, sondern Aushandlung auf offener Bühne.


Wenn dich solche Analysen reizen, gib dem Artikel gern ein Like und teile deine Perspektive unten in den Kommentaren. Welche Symbole prägen deinen Alltag – und warum?


Die digitale Semiosphäre: Memes als Mythen im Schnellgang


Memes wirken wie flüchtige Witze – und sind doch hochverdichtete Ideologie-Container. Sie funktionieren perfekt nach Barthes’ Logik: Ein Bild (erste Ebene) wird zur Form für Konnotationen (zweite Ebene) – Ironie, Zynismus, Politik. Dazu kommt Intertextualität: Remixes, Mashes, Inside-Jokes. Gemeinschaft entsteht durchs Mitwissen – wer die Codes versteht, gehört dazu.


Politische Akteure nutzen das strategisch: Rechtsextreme ironisieren Botschaften, um sie anschlussfähig zu machen und Kritik als „humorlos“ abzuwehren. Ein Symbol wie „Pepe the Frog“ wanderte vom harmlosen Comic zum Hass-Icon, dessen Lesarten bis heute umkämpft sind. Halls Encoding/Decoding trifft hier die Realität der Timelines: Bedeutungen werden millionenfach neu gerendert – in Sekunden. Die kulturwissenschaftliche Symboltheorie liefert genau die Lupe, die wir für diese Datenströme brauchen.


Bedeutungswandel: Wenn Zeichen Geschichte umschreiben


Symbole sind zeitlich beweglich. Zwei Beispiele zeigen die Extreme:


Hakenkreuz/Swastika: 

Jahrtausende lang Glücks- und Sonnenzeichen in Asien und Europa – dann im 20. Jahrhundert in Europa rassistisch umcodiert und vom Nationalsozialismus zum Staatssymbol erhoben. Die historische Kontamination ist so stark, dass die ursprüngliche Bedeutung in westlichen Kontexten praktisch ausgelöscht wurde; in Deutschland ist die Verwendung strafbar.


Christliches Kreuz: 

Ursprünglich Symbol der Schande und Folter im römischen Reich, wurde es nach der Legalisierung des Christentums zum Heils- und Identitätssymbol – Auferstehung, Erlösung, Hoffnung. Ein radikaler Bedeutungswechsel vom Werkzeug der Unterdrückung zum Zeichen der Transzendenz.


Postkoloniale Perspektive: 

Kolonialismus operierte mit symbolischer Gewalt – er repräsentierte „die Anderen“ als rückständig und legitimierte so Herrschaft. Heute wird um Denkmäler, Straßennamen und Museen gestritten. Statuensturz ist kein Vandalismus, sondern dekonstruktive Symbolpolitik: Wer darf die Stadt erzählen? Wessen Geschichte steht auf dem Sockel – wessen fehlt? Genau hier verschränken sich Geertz’ dichte Beschreibung mit Halls Machtanalyse.


Eine Toolbox für Gegenwart und Zukunft


Fassen wir zusammen:


  • Cassirer erklärt, warum wir ohne Symbole gar keine Welt hätten.

  • Mead/Blumer zeigen, wie Bedeutungen im Alltag entstehen.

  • Jung liefert eine Tiefenfolie – aber wir prüfen kritisch, was als „universell“ gilt.

  • Barthes entlarvt die Mythen des Alltags;

  • Hall verknüpft Bedeutung mit Hegemonie und Widerstand.

  • Geertz lehrt uns das Wie des Lesens: dichte Beschreibung statt dünner Beobachtung.


In einer mediatisierten Welt, in der Politik oft in Symbolschlachten ausgetragen wird, sind diese Einsichten kein Luxus, sondern Demokratiekompetenz. Von KI-Interfaces bis Klimakommunikation: Wir brauchen Menschen, die Codes lesen, Mythen erkennen und Bedeutungen selbstbewusst verhandeln können.


Wenn du bis hierher gelesen hast: Danke! Lass gern ein Like da und teile in den Kommentaren, welches Symbol dich zuletzt überrascht, irritiert oder begeistert hat. Und für regelmäßige Deep Dives in die kulturwissenschaftliche Symboltheorie – vergiss nicht, den Newsletter zu abonnieren und uns auf Social zu folgen:



Quellen:


  1. Kulturwissenschaft – Wikipedia – https://de.wikipedia.org/wiki/Kulturwissenschaft

  2. Philosophie der symbolischen Formen – Wikipedia – https://de.wikipedia.org/wiki/Philosophie_der_symbolischen_Formen

  3. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen – Internet Archive – https://archive.org/details/philosophieders00cass

  4. getAbstract: Cassirer – https://www.getabstract.com/de/zusammenfassung/philosophie-der-symbolischen-formen/28341

  5. Ernst Cassirer – Wikipedia – https://en.wikipedia.org/wiki/Ernst_Cassirer

  6. Ernst Cassirer – Deutsch – https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Cassirer

  7. Symbolischer Interaktionismus – Wikipedia – https://de.wikipedia.org/wiki/Symbolischer_Interaktionismus

  8. Heidelberg Reader zum Symbolischen Interaktionismus – http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/7789/17/8_Der_symbolische_Interaktionismus.pdf

  9. Spektrum Lexikon: Symbolischer Interaktionismus – https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/symbolischer-interaktionismus/15158

  10. Jungs Archetypen und kollektives Unbewusstes – getAbstract – https://www.getabstract.com/de/zusammenfassung/die-archetypen-und-das-kollektive-unbewusste/21063

  11. OpenEdition: Archetypenkonzept im Licht aktueller Forschung – https://journals.openedition.org/rg/1749?lang=en

  12. Mythen des Alltags – Wikipedia – https://de.wikipedia.org/wiki/Mythen_des_Alltags

  13. Suhrkamp: Barthes, Mythen des Alltags – https://www.suhrkamp.de/buch/roland-barthes-mythen-des-alltags-t-9783518463383

  14. Cultural Studies – Wikipedia – https://en.wikipedia.org/wiki/Cultural_studies

  15. Cultural Turn – Wikipedia – https://en.wikipedia.org/wiki/Cultural_turn

  16. Geertz, The Interpretation of Cultures (PDF) – https://cdn.angkordatabase.asia/libs/docs/clifford-geertz-the-interpretation-of-cultures.pdf

  17. Dichte Beschreibung – Wikipedia – https://de.wikipedia.org/wiki/Dichte_Beschreibung

  18. Media Studies: Stuart Hall – Representation – https://media-studies.com/stuart-hall-representation/

  19. Encoding/Decoding – Wikipedia – https://en.wikipedia.org/wiki/Encoding/decoding_model_of_communication

  20. Stuart Hall (Biografie) – Wikipedia – https://en.wikipedia.org/wiki/Stuart_Hall_(cultural_theorist)

  21. Memes (Kulturphänomen) – Wikipedia – https://de.wikipedia.org/wiki/Meme_(Kulturph%C3%A4nomen)

  22. OAPEN: Memes – Formen und Folgen eines Internetphänomens – https://library.oapen.org/bitstream/handle/20.500.12657/53940/1/9783839461242.pdf

  23. Amadeu Antonio Stiftung: Memes in extrem rechter Kommunikation – https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2023/10/AAS_dehate5_Memes.pdf

  24. Swastika – Wikipedia – https://de.wikipedia.org/wiki/Swastika

  25. Deutschlandfunk Kultur: Geschichte eines Symbols – https://www.deutschlandfunkkultur.de/geschichte-eines-symbols-100.html

  26. Kreuz (Symbol) – Wikipedia – https://de.wikipedia.org/wiki/Kreuz_(Symbol)

  27. Herder: Postkolonialismus – https://www.herder.de/staatslexikon/artikel/postkolonialismus/

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