Grausamkeit oder Gerechtigkeit? Eine kulturelle Grausamkeitsgeschichte von Recht, Ritual und Mythos
- Benjamin Metzig
- 19. Okt.
- 7 Min. Lesezeit

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Die Geschichte der Justiz beginnt selten mit Paragraphen – sie beginnt mit Körpern. Wer in alte Strafakten, Chroniken oder Kirchenbücher schaut, erkennt schnell: Gesellschaften haben Gewalt nicht nur geduldet, sondern ritualisiert, begründet und öffentlich aufgeführt. Was wir „grausam“ nennen, ist dabei kein reiner Schmerzmesser. Es ist ein kulturelles Konstrukt, das körperliche Agonie, psychologischen Terror, soziale Demütigung, symbolische Botschaften und die Dauer des Leidens verschränkt. In dieser kulturellen Grausamkeitsgeschichte verfolgen wir, wie Legitimationsstrategien von Gewalt funktionierten – vom Spektakel der Hinrichtung über die „wissenschaftliche“ Folter bis zur bürokratischen Massenvernichtung und den langlebigen Mythen, die bis heute unser Bild der Vergangenheit prägen.
Was macht Gewalt „grausam“?
Grausamkeit ist mehrdimensional. Die sichtbarste Ebene ist die physische: Brechen, Schneiden, Verbrennen, Strecken. Doch wer hier stehenbleibt, verfehlt das System hinter der Praxis. Denn Gewalt greift auch nach innen: Angst, Entwürdigung, Hoffnungslosigkeit – psychische Mechanismen, die moderne Foltermethoden wie Scheinhinrichtungen oder Schlafentzug instrumentalisieren. Und sie greift nach außen: Öffentliche Strafen wie Pranger oder Exekutionen waren Abschreckung, Machtdemonstration und – hart gesagt – Unterhaltung. Schließlich trägt Grausamkeit eine symbolische Grammatik: Der zerstückelte Verräterkörper steht für die Wiederherstellung der Ordnung; die verweigerte Bestattung zieht die Strafe über den Tod hinaus.
Besonders irritierend: Folter war in vielen Epochen kein Ausrutscher, sondern codifiziertes Recht. Unter „peinlicher Befragung“ galt das Geständnis als höchstes Beweismittel. Gesetzeswerke wie die Constitutio Criminalis Carolina (1532) oder die Theresiana (1768) regelten Geräte, Grade und Abläufe mit pedantischer Genauigkeit – Gewalt als Verwaltungsakt. Dazu gehört auch eine gesunde Skepsis gegenüber Museen der Schauderromantik: Ikonen wie die „Eiserne Jungfrau“ sind Produkte des 19. Jahrhunderts – Erfindungen einer Zeit, die sich ein möglichst finsteres Mittelalter bastelte, um den eigenen Fortschritt zu feiern.
Das Theater des Schmerzes: Staatsspektakel als Politik
Öffentliche Hinrichtungen waren keine bloßen Tötungen, sondern ritualisierte Staatsakte. Man könnte sagen: politisches Theater mit hohem Einsatz. Der Körper wurde zur Leinwand, auf die der Souverän seine Botschaft schrieb – ungehorsam? Undenkbar.
Das Rädern steht exemplarisch dafür. Der Verurteilte nackt, die Gliedmaßen über Balken gespannt, der Henker mit dem eisenbeschlagenen Rad: Schlag um Schlag, oft in der Urteilsbegründung gezählt. „Von unten“ bedeutete langsames Sterben; „von oben“ begann mit dem tödlichen Brustschlag – eine Art Gnadenstoß. Danach wurde der zerschmetterte Körper in die Speichen geflochten und auf einem Pfahl ausgestellt. Hier verschränkten sich alle Dimensionen: physische Zerstörung, sozialer Pranger, symbolische Auslöschung. Selbst unsere Sprache bewahrt die Praxis – wer sich „gerädert“ fühlt, spürt ein Echo dieses Spektakels.
Ein noch choreographierteres Ritual war das englische „Hängen, Ausweiden und Vierteilen“ für Hochverrat. Das „drawn“ (zum Richtplatz geschleift), das „hanged“ (aufgehängt, aber vor dem Tod abgelassen), das „disemboweled“ (bei Bewusstsein entmannt und ausgeweidet) und schließlich das „quartered“ (Enthauptung, Vierteilung, Ausstellung der Stücke) – jeder Schritt eine symbolische Antwort auf die „Zerstörung“ des Staates durch den Täter. Der Verräter sollte physisch, sozial und posthum ausgelöscht werden. Es ist kein Zufall, dass berühmte Namen wie William Wallace bis heute mit diesen Ritualen verknüpft bleiben.
Und dann die Kreuzigung – das supplicium servile der Römer, Strafe für Sklaven und Staatsfeinde. Nach der Geißelung trug der Verurteilte das patibulum zum Hügel, wo Bindungen oder Nägel durch Handgelenke und Füße den Körper fixierten. Der Tod kam durch Erstickung: Nur wer sich an den Füßen hochdrückte, konnte atmen – bis die Beine gebrochen wurden. Die Botschaft? Dauerhafter, entwürdigender Schmerz als öffentliche Abschreckung. Später wurde dieses Marterinstrument zum religiösen Symbol transformiert – ein seltener Fall, in dem ein Zeichen der Schande zu einem Zeichen des Glaubens wurde.
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Die Kunst der Qual: Technik trifft Körper
Geräte der Folter waren nicht bloß Werkzeuge; sie waren Ausdruck ingenieurhaften Ehrgeizes – nur dass sich der Erfindungsgeist hier gegen die menschliche Integrität richtete. Man spürt die perverse Ästhetik, wenn Schreie in „Musik“ verwandelt oder Gelenke „kalibriert“ werden.
Der berühmte „Sizilianische Bulle“ – ein bronzener Stier, in dessen Bauch man Opfer lebendig röstete, während Röhren die Schreie wie Tierbrüllen verstärkten – bewegt sich zwischen Legende und Möglichkeit. Ob je real eingesetzt oder nicht: Die Erzählung selbst offenbart, wie Gewalt ästhetisiert und zur Schau gestellt werden kann.
Ganz real und leider gut belegt ist die Streckbank: ein Holzrahmen, an dem Hand- und Fußgelenke fixiert und über Walzen millimeterweise auseinandergezogen wurden, bis Gelenke ausrenkten, Bänder rissen, Muskeln aufgaben. Bemerkenswert ist der juristische Kontext: Die Folter folgte abgestuften Graden, vom Vorzeigen der Instrumente über Daumenschrauben bis zum „großen Werk“ der Streckbank – Gewalt mit Betriebsanleitung.
Die „Judaswiege“ wiederum zielte auf die intimsten Zonen. Nacktheit, Aufhängung, die pyramidenförmige Spitze, die in Anus oder Vagina drang – eine Verbindung aus körperlicher Qual und sexualisierter Demütigung. Hier wird deutlich, wie Grausamkeit gezielt Identität, Scham und Würde adressiert: Der Körper soll nicht nur leiden, sondern auch „brechen“.
Die langsame Vernichtung: Wenn Zeit zur Waffe wird
Ein besonders dunkles Kapitel der kulturellen Grausamkeitsgeschichte ist die Instrumentalisierung natürlicher Prozesse. Nicht der eine Hieb, sondern die perfekte Choreografie von Stunden, Tagen – manchmal Wochen.
Lingchi in kaiserlichem China, oft sensationell als „Tod durch tausend Schnitte“ skandalisiert, war eine gesetzlich sanktionierte Strafe für schwerste Verbrechen. Entscheidend war weniger die Zahl der Schnitte als deren Bedeutung: öffentlich, langsam und – im konfuzianischen Kontext – posthum verheerend. Denn der Körper galt als Geschenk der Ahnen und sollte unversehrt bleiben. Lingchi zerstörte diese „somatische Integrität“ und damit die spirituelle Zukunft des Verurteilten. Hier zeigt sich, wie stark kulturelle Vorstellungen von Körper und Jenseits die Wahrnehmung von Grausamkeit prägen.
Scaphismus, von Plutarch beschrieben, treibt die Idee der „natürlichen“ Vernichtung auf die Spitze: ein Mensch, zwischen zwei Booten eingeschlossen, mit Milch und Honig bestrichen, zwangsernährt und der Sonne ausgesetzt – bis Insekten, Fäulnis und Sepsis den Körper buchstäblich von innen heraus verzehren. Ob historisch exakt oder Übertreibung – als Konzept markiert es die maximale Perversion: Lebenserhaltende Ressourcen (Nahrung, Wärme, Zeit) werden zu Folterinstrumenten umdefiniert.
Die Unpersönlichkeit des Terrors: Bürokratie statt Bühne
Mit der Moderne verschiebt sich das Zentrum der Grausamkeit: Weg vom individualisierten Ritual, hin zur systematischen, effizienten Tötung. Das Spektakel weicht der Logistik, die Liturgie der Verwaltung.
Die Ertränkungen von Nantes während der Französischen Revolution sind hierfür exemplarisch. Überfüllte Gefängnisse, politische Panik – und der Entschluss, Menschen massenhaft auf präparierte Kähne zu verladen und in der Loire zu versenken. Euphemismen wie „vertikale Deportation“ oder „nationale Badewanne“ kaschierten, was es war: Massenmord als Routinevorgang. Der Übergang vom „Theater des Schmerzes“ zum „Büro der Vernichtung“ ist ein Wendepunkt: Grausamkeit wird anonym, skalierbar, nachts vollzogen – und bleibt dennoch unübersehbar, wenn die Leichen treiben.
Die unsterbliche Macht des Mythos: Warum erfundene Grausamkeit bleibt
Manchmal sind die langlebigsten Folterbilder die, die es nie gab. Die Eiserne Jungfrau – der stachelbesetzte Schrank, der das Opfer „schonend“ durchbohrt, ohne lebenswichtige Organe sofort zu treffen – ist ein Kind des 19. Jahrhunderts, zusammengebastelt aus Schandmantel und Fantasie, genährt von Tourismus und Sensationslust. Warum hielt sich der Mythos? Weil er dem 19. Jahrhundert ein praktisches Narrativ lieferte: Wir sind aufgeklärt; die da früher waren barbarisch.
Ähnlich die Bambusfolter: Die Vorstellung, Bambussprosse wüchsen durch gefesselte Körper und spießten sie auf, ist ikonisch, aber historisch kaum belegt. Dass eine Fernsehshow demonstrierte, Bambus könne Gelatine durchdringen, beweist Physik – nicht Geschichte. Gerade deshalb lohnt die Quellenkritik: Mythen erzählen weniger über alte Folterkammern als über die Selbstbilder jener, die sie erfanden – über Exotisierung, Kolonialfantasien und die Lust am Schauder.
Was bleibt? Grausamkeit als Spiegel der Gesellschaft
Zieht man die Fäden zusammen, entsteht kein linearer Weg von „barbarisch“ zu „zivilisiert“. Stattdessen sehen wir Muster, die wiederkehren – angepasst an Technik, Recht und Ideologie. Öffentliche Liturgien (Rädern, Kreuzigung) werden abgelöst von verwalteter Gewalt (Streckbank), später von industrieller Tötung (Nantes). Parallel entstehen Erzählungen, die das Vergangene schwärzer oder „exotischer“ zeichnen, als es war. Sprache konserviert das Erbe: Wir sprechen vom „Tod durch tausend Schnitte“, fühlen uns „gerädert“, diskutieren bis heute über „grausame und ungewöhnliche Strafen“ – und ringen mit modernen Folterformen, die ohne Narben auskommen.
Warum ist diese kulturelle Grausamkeitsgeschichte wichtig? Weil sie uns zwingt, die Mechanismen von Macht und Moral zu erkennen – und unsere eigenen blinden Flecken. Wer versteht, wie sehr Legitimation, Ritual und Mythos Gewalt normalisieren, ist wachsamer gegenüber ihren zeitgenössischen Varianten: in Sicherheitsdiskursen, im Strafvollzug, in der Sprache, die entmenschlicht.
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Quellen:
Tierische Folter und andere grausame Praktiken: Eine verstörende Reise in die düsteren Kapitel der Geschichte - https://archaeo-now.com/2019/04/04/tierische-folter-und-andere-grausamkeiten/
Streckbank (Folter) - Wikipedia - https://de.wikipedia.org/wiki/Streckbank_(Folter)
Das Rädern und das Brandmarken - Forum OÖ Geschichte - https://www.ooegeschichte.at/ausstellungen/schande-folter-hinrichtung/hinrichtung-und-andere-schwere-koerperstrafen/das-raedern-und-das-brandmarken
Folter - Antidiskriminierungsforum - https://www.antidiskriminierungsforum.eu/fileadmin/Antidiskriminierungsforum/Referat_Folter_Julia_Herbert_Janet_Frei_.pdf
Als Folter und Verstümmelungen Instrumente unseres Rechtsystems waren - Fokus Swiss - https://fokus.swiss/business/bildung/als-folter-und-verstuemmelungen-instrumente-unseres-rechtsystems-waren/
Pranger, Bäckerschupfe und Tauchstuhl - ArchäoNow - https://archaeo-now.com/2019/04/11/pranger-baeckerschupfe-und-tauchstuhl-die-etwas-harmloseren-foltermethoden/
Folter im Mittelalter: Der Mythos der Eisernen Jungfrau - DER SPIEGEL - https://www.spiegel.de/geschichte/folter-im-mittelalter-der-mythos-der-eisernen-jungfrau-a-70a6ae23-ff19-4b4e-a3ac-449e6673a5dd
Das Rädern - Eine der brutalsten Strafen der Geschichte - YouTube - https://www.youtube.com/watch?v=Bj6LJQoix0c
Lingchi - Wikipedia - https://en.wikipedia.org/wiki/Lingchi
Mittelaterliche Rechtsgeschichte in der Folterkammer - Burg Stolpen - https://www.burg-stolpen.org/de/ueber-uns/mittelaterliche-rechtsgeschichte/
Folter und Strafe (Kriminalmuseum Leipzig PDF) - https://www.bmi.gv.at/magazinfiles/2017/09-10/kriminalmuseum%20leipzig.pdf
Rädern - Wikipedia - https://de.wikipedia.org/wiki/R%C3%A4dern
Das Rädern: Eine grausame und einfallsreiche Todesstrafe - ArchäoNow - https://archaeo-now.com/2024/06/26/das-raedern-eine-grausame-und-einfallsreiche-todesstrafe-in-der-geschichte/
Breaking wheel - Wikipedia - https://en.wikipedia.org/wiki/Breaking_wheel
Hanged, drawn and quartered - Wikipedia - https://en.wikipedia.org/wiki/Hanged,_drawn_and_quartered
Drawing and quartering | Britannica - https://www.britannica.com/topic/drawing-and-quartering
Hängen, Ausweiden und Vierteilen - Wikipedia - https://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%A4ngen,_Ausweiden_und_Vierteilen
Kreuzigung - Wikipedia - https://de.wikipedia.org/wiki/Kreuzigung
de.wikipedia.org – Kreuzigung (Ankerabschnitt) - https://de.wikipedia.org/wiki/Kreuzigung#:~:text=Die%20Kreuzigung%20war%20eine%20vor,dieses%20die%20Todesqual%20m%C3%B6glichst%20verl%C3%A4ngern.
Flagrum - Wikipedia - https://de.wikipedia.org/wiki/Flagrum
Ist Jesus wirklich gekreuzigt worden? – ZDFheute - https://www.zdfheute.de/wissen/jesus-kreuzigung-jerusalem-grabeskirche-102.html
Sizilianischer Bulle - Wikipedia - https://de.wikipedia.org/wiki/Sizilianischer_Bulle
Rack Torture - https://en.wikipedia.org/wiki/Rack_(torture)
„Geständnisse“ unter Folter (Hexerei, Gurktal) - https://www.bmi.gv.at/magazinfiles/2022/07_08/26_hexerei_gurktal_070822.pdf
Folter - Wikipedia - https://de.wikipedia.org/wiki/Folter
Judaswiege - Wikipedia - https://de.wikipedia.org/wiki/Judaswiege
Death by a Thousand Cuts - Harvard University Press - https://www.hup.harvard.edu/books/9780674027732
Scaphism - Wikipedia - https://en.wikipedia.org/wiki/Scaphism
Scaphismus – Wikipedia - https://de.wikipedia.org/wiki/Scaphismus
Drownings at Nantes - Wikipedia - https://en.wikipedia.org/wiki/Drownings_at_Nantes
Jean-Baptiste Carrier - Wikipedia - https://en.wikipedia.org/wiki/Jean-Baptiste_Carrier
Jean-Baptiste Carrier | Britannica - https://www.britannica.com/biography/Jean-Baptiste-Carrier
Bamboo torture - https://en.wikipedia.org/wiki/Bamboo_torture
Bambusfolter – Wikipedia - https://de.wikipedia.org/wiki/Bambusfolter








































































































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