Wissenschaftsmythen entlarvt: 10 populäre Irrtümer – und was wirklich dahintersteckt
- Benjamin Metzig
- vor 3 Tagen
- 6 Min. Lesezeit

Wir lieben gute Geschichten. Besonders jene, die komplexe Sachverhalte auf eine elegante Ein-Satz-Erklärung zusammenschrumpfen. Genau dort entstehen Mythen: aus Vereinfachungen, Missverständnissen und manchmal auch aus purem Wunschdenken. Dieser Fakten-Check räumt mit zehn hartnäckigen Irrtümern auf – fundiert, verständlich und mit einer Portion „Aha!“. Wenn dich solche Deep Dives begeistern, abonniere jetzt meinen monatlichen Newsletter für mehr kuratierte Wissenschafts-Storys und Debunkings.
Die Anatomie eines Irrtums: Warum Mythen so zäh sind
Mythen fühlen sich oft wahr an, weil sie in unser kognitives Betriebssystem passen: Wir bevorzugen das, was unsere Überzeugungen bestätigt, und ignorieren Widerspruch – der klassische Bestätigungsfehler. Dazu kommen starke Emotionen, markige Bilder und Autoritätszuschreibungen. So wird aus einer didaktischen Skizze eine „Zungenlandkarte“, aus einer zurückgezogenen Mini-Studie ein weltweites Impfgerücht, und aus einem poetischen Sprichwort eine Blitz-Behauptung. Wissenschaft ist dagegen ein Prozess, der Unsicherheit aushält, Hypothesen testet, Fehler korrigiert. Klingt weniger sexy – ist aber der zuverlässigere Weg zur Wahrheit.
Mythos 1: „Wir nutzen nur 10 % unseres Gehirns“
Die Idee klingt verlockend: Da schlummert ein 90-Prozent-Genie in uns, man müsste es nur „freischalten“. Moderne Bildgebung zeigt jedoch: Über den Tag verteilt arbeitet praktisch das ganze Gehirn mit – nicht alles gleichzeitig, aber nichts liegt brach. Auch die Evolution spricht dagegen: Ein Organ, das 20 % unseres Ruhestoffwechsels frisst, wäre als „90 % ungenutzt“ ein energetischer Totalschaden. Klinische Praxis bestätigt das ebenfalls: Kleine Läsionen, großer Ausfall – weit weg von „Reserveschädel“. Der bessere Weg zur Leistungssteigerung heißt Neuroplastizität: lernen, üben, schlafen, bewegen. Keine geheimen Schalter, sondern neue Verbindungen.
Mythos 2: „MMR-Impfungen lösen Autismus aus“
Eine betrügerische Miniserie mit zwölf Kindern, später zurückgezogen und von Interessenkonflikten durchzogen – das ist der Ursprung eines Gerüchts, das weltweit Vertrauen zerstört hat. Große, saubere Kohortenstudien mit Hunderttausenden bis Millionen Kindern finden keinen Zusammenhang zwischen MMR-Impfung und Autismus. Der scheinbare Gleichklang kommt vom Timing: Erste Autismus-Anzeichen werden in dem Alter sichtbar, in dem auch geimpft wird. Tragisch ist, was folgte: sinkende Impfquoten, vermeidbare Masernausbrüche. Die Lehre: Ein guter Plot ist noch keine Evidenz – und schlechte Evidenz kann teuer werden.
Mythos 3: „Zucker macht Kinder hyperaktiv“
Party, bunte Luftballons, viel Trubel – und ja, auch Kuchen. Was wir sehen, interpretieren wir als „Zuckerschock“. Doppelblindstudien nehmen dieser Erzählung jedoch die Energie: Verhalten, Aufmerksamkeit, Kognition – kein direkter Zucker-Effekt. Spannend ist der Placebo-Kniff: Erzählt man Eltern, ihr Kind habe viel Zucker bekommen, bewerten sie dessen Verhalten als wilder – obwohl es ein Zucker-Placebo war. Erwartung lenkt Wahrnehmung. Das heißt nicht, Zucker sei harmlos: Für Zähne, Gewicht und Stoffwechsel ist weniger definitiv mehr. Nur: „Hyperaktiv durch Zucker“ ist ein Missverständnis mit guter Dramaturgie.
Mythos 4: „Die Zungenlandkarte“
Wir alle haben diese Grafik gesehen: süß vorn, sauer und salzig seitlich, bitter hinten. Sie ist – höflich gesagt – Pädagogik-Fanfiction. Tatsächlich können Geschmacksknospen überall dort, wo es welche gibt, alle Grundgeschmacksrichtungen detektieren: süß, sauer, salzig, bitter, umami. Ja, es gibt minimale Empfindlichkeitsunterschiede. Alltagsrelevant sind sie nicht. Geschmack entsteht zudem multimodal: Nase (Aromen!), Tastsinn, Temperatur und sogar Schmerz (Schärfe!) spielen zusammen. Die Landkarte war ein didaktisches Meme – einprägsam, aber falsch.
Mythos 5: „Der Mensch stammt vom Affen ab“
Die bekannte Gegenfrage „Warum gibt es dann noch Affen?“ verrät das Problem: Wir denken evolutionär in Leitern, nicht in Bäumen. Menschen und heute lebende Menschenaffen teilen einen gemeinsamen, ausgestorbenen Vorfahren. Von dort verzweigten die Linien – eine führte zu Homo sapiens, andere zu Schimpansen, Bonobos, Gorillas, Orang-Utans. Biologisch sind wir übrigens selbst Menschenaffen. Wer „vom Affen“ sagt, meint oft „vom heutigen Schimpansen“ – und landet damit neben der Spur. Evolution ist keine Aufstiegsleiter, sondern ein verzweigter Waldpfad.
Mythos 6: „Lernstile (visuell, auditiv, kinästhetisch) machen Unterricht besser“
Es klingt modern und individuell – ist aber nicht evidenzbasiert. Systematische Reviews finden keinen belastbaren Effekt, wenn Unterricht an vermeintliche „Lerntypen“ angepasst wird. Die Modelle sind vage, die Typisierungen instabil, und Inhalte sind ohnehin multimodal: Vokabeln will man hören, sagen, lesen, schreiben. Problematisch wird’s, wenn Labels zu selbsterfüllenden Beschränkungen werden („Ich bin halt visuell“). Wirklich individualisieren heißt: am Vorwissen, an der Motivation und an konkreten Hürden ansetzen – nicht an Schubladen.
Mythos 7: „Goldfische erinnern sich nur 3 Sekunden“
Das Bild vom ewigen Jetzt im Glas ist praktisch – und falsch. Goldfische lernen Aufgaben, finden sich in Labyrinthen zurecht, reagieren auf Signale, erkennen Bezugspersonen und erinnern sich über Wochen bis Monate. Der Drei-Sekunden-Gag unterschätzt ihre Kognition – mit ethischen Folgen: Wer geistige Leere annimmt, hält artferne Haltung leichter für akzeptabel. Wissenschaftlich korrekt ist: Goldfische sind lernfähig, neugierig und verdienen Umgebung und Pflege, die das respektiert.
Mythos 8: „Der Coriolis-Effekt entscheidet über die Drehrichtung im Waschbecken“
Auf Planetenskalen lenkt die Erdrotation Luft- und Meeresströmungen ab – Hurrikane rotieren deshalb verschieden je nach Hemisphäre. In der Badewanne jedoch ist die Corioliskraft winzig. Dominant sind Form des Beckens, kleine Strömungsreste, der Zug am Stöpsel. Unter strengsten Laborbedingungen lässt sich ein minimaler Effekt messen – in deinem Badezimmer bestimmt der Zufall die Strudeldrehrichtung. Eine schöne Lektion in Maßstäben: Nicht jedes großes Prinzip skaliert in den Alltag.
Mythos 9: „Kirchenfenster werden unten dicker, weil Glas fließt“
Glas ist bei Raumtemperatur kein schleichendes Fluid, sondern ein amorpher Feststoff. Dass alte Scheiben ungleich dick sind, ist Handwerksgeschichte: Vor dem Floatglas-Verfahren entstanden Fensterscheiben durch Blasen und Ausdrehen – naturgemäß mit Dickenschwankungen. Handwerker setzten die schwerere Seite aus Stabilitätsgründen oft nach unten. Es gibt sogar Fenster mit der dickeren Seite oben – was das „Fließen“ endgültig entzaubert. Faszinierend bleibt Glas trotzdem: ungeordnet wie eine Flüssigkeit, fest wie ein Kristall – aber eben stabil.
Mythos 10: „Ein Blitz schlägt nie zweimal ein“
Als Metapher für seltene Ereignisse funktioniert der Satz – als Naturgesetz nicht. Blitze suchen den Weg des geringsten Widerstands. Hohe, spitze, leitfähige Strukturen sind Lieblingsziele – und werden wiederholt getroffen. Wahrzeichen wie das Empire State Building kassieren Dutzende Einschläge pro Jahr; einzelne Blitzkanäle können außerdem in rascher Folge mehrfach zünden. Gefährlich wird der Mythos, wenn er Menschen in trügerische Sicherheit wiegt. Besser: Physik ernst nehmen, exponierte Punkte meiden, Schutzregeln befolgen.
Wissenschaftsmythen entlarvt: Was wir daraus lernen
Hinter jedem der zehn Irrtümer steckt ein Muster: überzogene Vereinfachung, falsch gelesene Daten, wörtlich genommene Metaphern, verführerische Kommerzversprechen – oder schlicht Betrug. Dem setzt Wissenschaft etwas entgegen: Transparenz, Kontrolle, Replikation, Korrektur. Und wir als Publikum? Wir können unseren kognitiven Autopiloten zähmen. Drei praktische Mantras helfen:
Skalierung checken: Gilt ein Effekt im genannten Maßstab wirklich?
Korrelation ≠ Kausalität: Gibt es alternative Erklärungen (Kontext! Erwartungen!)?
Quelle prüfen: Wie groß, sauber, unabhängig ist die Evidenz?
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Zehn Irrtümer im Schnellcheck – Wissenschaftsmythen entlarvt
10 %-Gehirn: neurobiologisch widerlegt – wir nutzen über Zeiträume nahezu alle Areale.
Impfungen & Autismus: kein Zusammenhang, Ursprung in zurückgezogener Betrugsstudie.
Zucker & Hyperaktivität: Erwartungseffekt statt Zucker-Effekt; trotzdem Zucker reduzieren.
Zungenlandkarte: jede Region mit Geschmacksknospen kann alle Grundgeschmäcker wahrnehmen.
Mensch vom Affen? Gemeinsamer Vorfahr, verzweigter Stammbaum statt Leiter.
Lernstile: keine Evidenz für bessere Lernergebnisse durch „Typ“-Anpassung.
Goldfische: Langzeitgedächtnis vorhanden, beachtliche Lernleistungen.
Coriolis in der Wanne: zu schwach; Zufallsfaktoren dominieren.
Fließendes Glas: Feststoff; Dicke durch alte Herstellverfahren.
Blitz doppelt: bevorzugt an exponierten, leitfähigen Strukturen – und oft mehrmals.
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Quellen:
Falsche Ernährung: Wie Mythen unsere Gesundheit beeinflussen – https://www.valmedi.de/blog/189-ernaehrungsirrtuemer-ernaehrungsmythen
Debunking Science Myths: Vorurteile über Wissenschaft – https://www.hiig.de/vorurteile-ueber-wissenschaft/
Welche Funktion hat Populärwissenschaft? – https://www.uibk.ac.at/philtheol/loeffler/publ/loeffler_welche-funktion-hat-populaerwissenschaft.pdf
Confirmatory Bias in Health Decisions (MMR/Autismus) – https://news.lehigh.edu/confirmatory-bias-in-health-decisions-the-mmr-vaccine-and-autism-controversy
3 Misconceptions About Science – https://research.sanfordhealth.org/sanford-promise/blog/3-misconceptions-about-science
Die 4 größten Mythen über das Gehirn – https://www.neuronation.com/science/de/die-4-grosten-mythen-uber-das-gehirn/
Hartnäckige Irrtümer – DER SPIEGEL – https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/hartnaeckige-irrtuemer-mythen-an-die-selbst-mediziner-glauben-a-525056.html
Myth: We Only Use 10% of Our Brains – https://www.psychologicalscience.org/uncategorized/myth-we-only-use-10-of-our-brains.html
The MMR vaccine and autism: fraud – https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC3136032/
RKI – Impfmythen: Sicherheit & Autismus – https://www.rki.de/DE/Themen/Infektionskrankheiten/Impfen/Informationsmaterialien/Impfmythen/Sicherheit_Autismus.html
US-Studie entlastet Masernimpfung – SRF – https://www.srf.ch/wissen/gesundheit/impfskepsis-us-studie-entlastet-masernimpfung-vom-autismus-verdacht
Machen Süßigkeiten hyperaktiv? – MeinMed – https://www.meinmed.at/gesundheit/zucker-kinder-hyperaktiv/2972
Zucker & Verhalten – Alpinamed – https://www.alpinamed.at/magazin/feel-good-magazin/zu-viel-zucker-fuehrt-zu-ueberdrehten-und-impulsiven-kindern
Geschmackssinn: Mythos Zungenlandkarte – https://www.openscience.or.at/hungryforscienceblog/geschmackssinn-mythos-zungenlandkarte/
Irrtum liegt auf der Zunge – scinexx – https://www.scinexx.de/dossierartikel/irrtum-liegt-auf-der-zunge/
Der Mensch stammt nicht vom Affen ab – SciLogs – https://scilogs.spektrum.de/von-menschen-und-maeusen/der-mensch-stammt-nicht-vom-affen-ab/
Chimpanzee–human last common ancestor – https://en.wikipedia.org/wiki/Chimpanzee%E2%80%93human_last_common_ancestor
„Lerntypen – Warum es sie nicht gibt“ – In-Mind – https://de.in-mind.org/article/lerntypen-warum-es-sie-nicht-gibt-und-sie-sich-trotzdem-halten
„Mythos Lernstile“ (Mediendidaktik) – https://journals.univie.ac.at/index.php/mp/article/download/7556/7726/20347
Goldfische: Gedächtnis – https://goldfische.kaltwasseraquaristik.de/gedaechtnis.htm
Goldfisch-Mythen – https://www.japanischegoldfische.de/goldfisch-mythen/
Corioliskraft im Visier – scinexx – https://www.scinexx.de/news/geowissen/corioliskraft-im-visier/
Die Corioliskraft – MeteoSchweiz – https://www.meteoschweiz.admin.ch/ueber-uns/meteoschweiz-blog/de/2024/03/die-corioliskraft.html
Das Rätsel der fließenden Kirchenfenster – scinexx – https://www.scinexx.de/dossierartikel/das-raetsel-der-fliessenden-kirchenfenster/
Sonderfall Glas – https://www.ingenieurkurse.de/chemietechnik-anorganische-chemie/aggregatzustaende/der-feste-zustand/der-kristalline-zustand/sonderfall-glas.html
Gewittermythen – SeaHelp – https://www.sea-help.eu/ratgeber/gewittermythen-blitz-donner/
Warum Blitze zweimal einschlagen können – wissenschaft.de – https://www.wissenschaft.de/astronomie-physik/warum-blitze-zweimal-einschlagen-koennen/
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