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WTF-Fragen
 

Warum kann man über einen Pool voller Pudding rennen, aber darin versinken, wenn man stehen bleibt?

 

Kategorie:

Physik

Der kurze TEASER:

Weil es sich hier um eine „nicht-newtonsche“ Flüssigkeit handelt. Unter dem schnellen, harten Aufprall deiner Füsse wird sie knüppelhart wie Beton, aber wenn du langsam einsinkst, ist sie flüssiger als Wasser. Das ist Physik, die sich wie Magie anfühlt.

Die ausführliche Antwort:

Stell dir eine Welt vor, in der die physikalischen Gesetze, wie du sie aus dem Alltag kennst, plötzlich verrücktspielen. Eine Welt, in der eine Flüssigkeit in dem einen Moment nachgiebig und plätschernd ist und im nächsten Augenblick hart und unnachgiebig wie ein Fels. Diese Welt ist keine Fiktion, sondern pure Realität und das Geheimnis liegt in einem Konzept, das so abgefahren ist, dass es direkt aus einem Superhelden-Labor stammen könnte: nicht-newtonsche Fluide. Der Name klingt erstmal sperrig, fast schon langweilig, aber er beschreibt eine der bizarrsten und faszinierendsten Eigenschaften von Materie. Um das zu verstehen, müssen wir kurz bei Sir Isaac Newton vorbeischauen. Newton definierte, wie sich „normale“ Flüssigkeiten verhalten. Wasser, Öl, Alkohol – sie alle folgen seinen Regeln. Ihre Zähflüssigkeit, die Viskosität, ist eine Konstante. Wasser ist immer gleich flüssig, egal ob du sanft mit dem Finger hineintauchst oder mit der Faust draufhaust. Es spritzt vielleicht mehr, aber sein innerer Widerstand gegen die Verformung ändert sich nicht. Nicht-newtonsche Fluide pfeifen auf diese Regel. Sie sind die Rebellen der Physik. Ihre Viskosität ist nicht konstant, sondern ändert sich dramatisch, je nachdem, welche Kraft auf sie einwirkt. Und die Mischung aus Speisestärke und Wasser, oft liebevoll „Oobleck“ genannt (nach einem Kinderbuch von Dr. Seuss), ist der Posterboy dieser Rebellion. Mischt man etwa zwei Teile Speisestärke mit einem Teil Wasser, entsteht eine Substanz, die sich jeder Intuition entzieht. In Ruhe gelassen, ist sie eine milchige, flüssige Pampe. Du kannst deine Hand langsam hineingleiten lassen, und sie fühlt sich nass und glitschig an. Doch wehe, du versuchst, schnell darauf zu schlagen oder ruckartig deine Hand herauszuziehen! In diesem Moment passiert der „WTF-Effekt“: Die Flüssigkeit erstarrt augenblicklich zu einem Festkörper. Du schlägst auf eine scheinbar solide Oberfläche. Was steckt dahinter? Man muss sich die Speisestärke-Partikel wie eine riesige Menge winziger, unregelmässig geformter Bälle vorstellen, die im Wasser schweben. Bei langsamer Bewegung agiert das Wasser wie ein Schmiermittel. Die Partikel haben genug Zeit, aneinander vorbeizugleiten und aus dem Weg zu rutschen. Die Mischung verhält sich wie eine Flüssigkeit. Wenn du aber eine plötzliche, starke Kraft ausübst – einen Schock, eine Scherung, wie Physiker sagen – passiert etwas völlig anderes. Das Wasser wird aus den Zwischenräumen zwischen den Stärkekörnern blitzartig verdrängt. Die Partikel haben keine Zeit mehr, elegant aneinander vorbeizugleiten. Sie verkeilen und verhaken sich ineinander und bilden für einen kurzen Moment eine starre, fast kristalline Struktur. Die Reibung zwischen den Körnchen schiesst in die Höhe, die Viskosität explodiert und die Flüssigkeit wird zum Feststoff. Dieser Vorgang wird als „Scherverdickung“ oder „dilatantes Verhalten“ bezeichnet. Genau dieses Prinzip macht das Rennen über einen mit Oobleck gefüllten Pool möglich. Jeder schnelle Schritt, jeder harte Aufprall deines Fusses, erzeugt genau den notwendigen Schock. Für den Bruchteil einer Sekunde wird die Oberfläche unter deinem Fuss fest und trägt dein Gewicht. Du rennst quasi über eine Serie von kurzlebigen, selbst erzeugten Trittsteinen. Der Trick ist, schnell zu bleiben. Sobald du zögerst oder stehen bleibst, lässt der Druck nach. Das Wasser fliesst zurück in die Zwischenräume der Stärkepartikel, wirkt wieder als Schmiermittel, die starre Struktur kollabiert und die Viskosität bricht zusammen. Die feste Oberfläche verwandelt sich zurück in eine Flüssigkeit und du versinkst elendig in der weissen Pampe. Dieses Phänomen ist weit mehr als nur ein spektakuläres Party-Experiment. Es ist ein aktives Forschungsfeld mit revolutionären Anwendungen. Ingenieure nutzen das Prinzip der Scherverdickung, um neuartige Schutzmaterialien zu entwickeln. Stell dir eine flexible, leichte Schutzweste vor, die bei normalen Bewegungen bequem ist, aber bei einem Aufprall – wie dem einer Kugel oder eines Schrapnells – augenblicklich hart wird und die Energie absorbiert. Solche „flüssigen Panzerungen“ werden bereits für Sportprotektoren, Motorradkleidung und sogar für schusssichere Westen der nächsten Generation erforscht. Auch in der Robotik und bei intelligenten Dämpfungssystemen für Fahrzeuge oder Gebäude spielt diese Technologie eine Rolle, um Vibrationen und Stösse abzufangen. Es ist ein perfektes Beispiel dafür, wie eine scheinbar simple und bizarre Beobachtung zu Technologien führen kann, die Leben retten.
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