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Carrington 2.0: Was ein geomagnetischer Supersturm heute anrichten würde

Titelgrafik mit einer glühenden Sonne am rechten Bildrand, grün schimmernden Polarlichtern über einer nächtlichen Stadt und Silhouetten von Hochspannungsmasten im Vordergrund. Ein explodierender Satellit und aufblitzende Glasfaserenden symbolisieren die Bedrohung für Orbit-Infrastruktur und Internet.

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Wir schreiben das Jahr 1859. Ein britischer Astronom beobachtet einen grellen Flare; wenig später züngeln Polarlichter bis nach Havanna, und Telegrafen funken ohne Batterien. Das „Carrington-Ereignis“ gilt bis heute als Benchmark für solare Extremereignisse – nicht, weil wir Nostalgie pflegen, sondern weil die Physik zeitlos ist. Nur: Unsere Infrastruktur ist es nicht. Aus dem analogen Telegrafennetz wurde ein hochverdrahteter Planet. Genau deshalb müssen wir nüchtern, ohne Dramatisierung – aber auch ohne Illusion – fragen: Was würde ein Ereignis dieser Klasse heute tun?


Spoiler: Es wäre kein „normaler“ Blackout. Es wäre ein Hardware-Schock, der sich gleichzeitig in Stromnetzen, im Orbit und im globalen Datenrückgrat manifestiert und eine monatelange Wiederaufbauphase einleitet – nicht bloß Stunden im Dunkeln.


Warum 1859 unser Benchmark ist


Am 1. und 2. September 1859 traf die Erde ein extrem schneller coronaler Massenauswurf (KME). Die Partikelwolke brauchte nur etwa 17,6 Stunden bis zu uns – ein Hinweis auf enorme Energie. Das Resultat: weltweite Polarlichter, Telegrafenbrände, Funkenflug, Bediener mit elektrischen Schlägen – und die kuriose Episode, dass manche Leitungen allein vom „Himmelsstrom“ betrieben Nachrichten übermittelten. Das Ereignis ist also belegt, keine Legende – und es demonstriert den grundlegenden Mechanismus: Schwankende Magnetfelder induzieren auf der Erdoberfläche elektrische Felder, die in langen Leitern Ströme treiben.


Heute sind unsere „langen Leiter“ millionenfach länger, dichter und verwobener: Hochspannungsleitungen, Pipelines, Unterseekabel. Genau diese harte Kopplung macht uns verwundbar.


Statistik ohne Wunschdenken: Kein schwarzer, sondern ein grauer Schwan


Wie wahrscheinlich ist so etwas? Eine vielzitierte Analyse beziffert die Chance eines Carrington-ähnlichen Ereignisses auf grob zehn Prozent pro Jahrzehnt (je nach Methodik 2–12 %). Das ist nicht komfortabel selten – es liegt mitten in strategischen Planungszeiträumen. Zwei Realitätschecks: Erstens steigen wir aktuell in das Aktivitätsmaximum des Sonnenzyklus 25 ein. Zweitens: 2012 schrammte ein KME auf Carrington-Niveau nur um etwa eine Woche an der Erde vorbei. Die Physik kann, die Frage ist nur: trifft die Geometrie.


Primärausfall: Wie GICs das Rückgrat der Stromversorgung brechen


Die KME komprimiert die Magnetosphäre, schnelle magnetische Variationen induzieren ein starkes E-Feld am Boden. Dieses treibt geomagnetisch induzierte Ströme (GICs) durch geerdete Langleiter – vor allem durch die Übertragungsnetze. GICs sind quasi-Gleichströme: langsam, aber für Wechselstromtechnik toxisch.


Die Achillesferse sind Extra-High-Voltage-Transformatoren (EHV). GICs saturieren deren Magnetkerne halbwellensymmetrisch. Drei Dinge passieren gleichzeitig:


  1. Blindleistungskollaps: Gesättigte Trafos „verbrauchen“ plötzlich MVAR, Spannungen sinken, Stabilitätsreserven implodieren.

  2. Oberschwingungen: Verzerrte Sinuswellen triggern Schutzrelais – gesunde Leitungen und Kraftwerke fliegen kaskadierend vom Netz.

  3. Thermische Zerstörung: Hotspots schmelzen Isolation und Wicklungen – der Trafo ist nicht abgeschaltet, sondern verbrannt.


Quebec 1989 war ein Warnschuss: In 90 Sekunden kollabierte das Netz – und das bei einem deutlich schwächeren Sturm. Der Unterschied zu Carrington ist die Masse an Hardware-Schäden, nicht nur die Schaltkaskade.


Ökonomische Dimension: Das teure Schweigen der Transformatoren


Die bislang umfassendste Modellierung (Lloyd’s/AER) simuliert einen Treffer des US-Nordostkorridors: 20–40 Mio. Betroffene, 16 Tage bis 1–2 Jahre Stromausfall – nicht, weil der Sturm so lange wütet, sondern weil Ersatz-Transformatoren fehlen. Der volkswirtschaftliche Schaden: bis in den Billionenbereich. Entscheidend ist nicht die absolute Zahl zerstörter Trafos, sondern welche Knoten sterben: Generator-Step-Up-Trafos an Großkraftwerken oder hochbelastete Verteilknoten. GICs sind nicht „fair“ verteilt – sie suchen sich Topologie-Sweetspots. Ein geomagnetischer Supersturm verhält sich damit wie ein intelligenter Angreifer, der genau die wenigen Teile trifft, die man am schlechtesten ersetzt.


Sekundärschaden im Orbit: Drei Wellen, ein Nervensystem


Ein Carrington-Ereignis ist ein Drei-Wellen-Angriff:


  • Welle 1 (Minuten): Röntgen/UV-Strahlung ionisiert die Ionosphäre, stört HF-Funk und dämpft GNSS-Signale.

  • Welle 2 (Minuten–Stunden): Energiereiche Teilchen verursachen Single-Event-Upsets und Latch-ups. Bordcomputer stürzen ab, Elektronik altert schlagartig, ältere Satelliten fallen aus.

  • Welle 3 (Stunden–Tage): Die KME heizt die Thermosphäre auf, Drag in LEO steigt massiv. Konstellationen wie Starlink müssen Treibstoff verbrennen, Lebensdauern schrumpfen, Trümmer- und Kollisionsrisiko wächst.


Konsequenz: Navigationssysteme (GPS, Galileo) und SatCom-Dienste werden massiv beeinträchtigt, teils temporär, teils dauerhaft.


Internet-Backbone unter Wasser: Warum Glasfaser allein nicht rettet


„Licht ist immun gegen Magnetfelder“ – korrekt, aber Repeater sind es nicht. 98 % des interkontinentalen Verkehrs laufen über Unterseekabel. Alle 50–150 km hängen entlang der Faser elektrisch gespeiste Verstärker – verbunden durch ein langes Kupfer-Versorgungskabel, perfekt für GIC-Kopplung. Ein Supersturm kann Repeater physisch zerstören. National läuft vieles weiter, global aber reißen die Kontinente digital ab. Normalerweise federt Satelliten-Backbone aus – doch genau diese Konstellationen werden zeitgleich durch Welle 2/3 dezimiert. Ein Doppelausfall ohne echtes Backup. Reparatur? Monate bis Jahre, wenige Spezialschiffe, globale Konkurrenz zur Trafoproduktion.


Gesellschaftliche Kaskade: Wenn Interdependenzen kollabieren


Finanzen: Ohne Strom und Netze steht bargeldloser Zahlungsverkehr, ATMs sind tot, Clearing-Systeme pausieren. Liquidität schrumpft auf das physisch verfügbare Bargeld – faktisch Null.


Gesundheit: Notstromaggregate halten 24–72 Stunden. Dann wird Diesel zum Engpass – Pumpen, Logistik, GPS-Navigation und Kommunikation sind ebenfalls gestört. Intensivstationen, Dialyse, OP-Elektronik: gefährdet. Lieferketten für Medikamente und Sauerstoff reißen.


Transport: Zivilluftfahrt hängt heute an GNSS für Navigation, Zeitsynchronisation und Überwachung. Backup-Systeme existieren, skalieren aber nicht auf heutige Verkehrsdichte – massive Kapazitätsreduktion bis Groundings. In der Seeschifffahrt bricht Container-Logistik, Hafentaktung und Just-in-Time-Supply zusammen.


Öffentliche Ordnung: Wasser-, Abwasser- und Kühlkettenausfälle führen binnen Tagen zu Gesundheitskrisen. Ohne schnelle Stabilisierung drohen Unruhen – nicht aus „Panik“, sondern aus Logik: Wenn Grundversorgung wankt, wechseln Menschen in Überlebensmodus.


Am Ende steht nicht eine lineare Kette, sondern Simultanversagen. Jeder Plan, der Backup-X voraussetzt, scheitert, wenn X ebenfalls betroffen ist.


Resilienzvergleich: Europa robuster – aber nicht immun


Europa (ENTSO-E) ist stärker vermascht, hat kürzere Leitungen und teils günstigere Erdungskonzepte. Das zeigte der starke G5-Sturm im Mai 2024: Mit Präventionsmaßnahmen blieb das Netz stabil. Deshalb kalkulieren Schweizer Szenarien eher mit Tagen bis wenigen Wochen reduzierter Dienste statt massenhafter Trafoverluste. In Nordamerika (NERC) begünstigen lange, radiale Korridore und Fragmentierung höhere GIC-Risiken – daher die drastischeren Lloyd’s-Projektionen. Fazit: Europa ist besser aufgestellt, aber ein falsches Sicherheitsgefühl wäre gefährlich – kritische Knoten gibt es auch hier.


Der „Transformer-Bottleneck“: Warum Wiederaufbau Jahre dauern kann


Großtransformatoren sind keine Lagerware. Sie sind kundenspezifische Unikate, Tonnen schwer, mit Vorlaufzeiten von 12–24 Monaten schon im Normalbetrieb. Hersteller sitzen in wenigen Regionen. Nach einem Massenschaden wollen alle gleichzeitig Geräte – die Lieferkette skaliert nicht. Und selbst wenn man einen identen Typen hat, muss er durch ein Land mit eingeschränkter Mobilität transportiert werden; Spezialwagons, Brückenlasten, Treibstoff – alles Teil der Gleichung. Optimistische Einzelfall-Schätzungen nennen 8–16 Wochen für einen Austausch – Systemwiederaufbau über viele Knoten hinweg kann >1 Jahr bedeuten, pessimistische Schätzungen reichen bis in den mehrjährigen Bereich. Das klingt düster, ist aber keine Schwarzmalerei, sondern Logistikmathematik.


Was Deutschland konkret tun sollte


1) Härtung der Netze: GIC-Mitigation (z. B. Neutralleit-Widerstände, Serienkondensatoren, Blocker), Priorisierung besonders gefährdeter Knoten wie Generator-Step-Up-Trafos.

2) Strategische Reserven: Europäisch koordinierte Trafo-Reserven mit modulareren Spezifikationen. Produktion vorfinanzieren, Testlogistik üben.

3) Digitale Souveränität stress-testen: Szenarien ohne interkontinentale Kabel und mit eingeschränktem GNSS durchspielen. eLoran und robuste Trägheitssysteme als skalierbare Brücken evaluieren.

4) Zivile Vorsorge anpassen: Von „72 Stunden überbrücken“ auf 30 Tage Selbstständigkeit denken – Wasser, Medikamente, Kommunikation, analoge Redundanzen.

5) Risikomatrix aktualisieren: Sonnenstürme nicht als „exotisch“ behandeln. Die Eintrittswahrscheinlichkeit ist vergleichbar mit Risiken, für die wir längst Milliarden investieren.


Zwischenfazit: Resilienz ist Hardware. Software-Patches fixen keine verbrannten Wicklungen.


Gefährlich selten – und planbar


Ein geomagnetischer Supersturm wäre ein globaler Härtetest. Aber Risiken, die wir verstehen, können wir reduzieren. Das Fenster ist jetzt – vor dem Ereignis. Danach schreiben wir nicht mehr über „Prävention“, sondern über „Rationierung“.


Wenn dich solche Analysen weiterbringen, lass ein Like da und teile deine Gedanken in den Kommentaren: Welche Maßnahme hältst du für den größten Hebel? Mehr Tiefgang gibt’s in unserer Community – folge uns hier:




Quellen:


  1. Carrington Event – https://en.wikipedia.org/wiki/Carrington_Event

  2. Carrington-Ereignis (de) – https://de.wikipedia.org/wiki/Carrington-Ereignis

  3. What Was the Carrington Event? (NOAA NESDIS) – https://www.nesdis.noaa.gov/about/k-12-education/space-weather/what-was-the-carrington-event

  4. Ground Effects of Space Weather (BGS) – https://geomag.bgs.ac.uk/education/gic.html

  5. Space Weather and Safety (NOAA) – https://www.weather.gov/safety/space

  6. Solar Superstorms: Planning for an Internet Apocalypse (SIGCOMM 2021) – https://www.ics.uci.edu/~sabdujyo/papers/sigcomm21-cme.pdf

  7. AGU/Cost-Schätzung zu Stromausfällen – https://news.agu.org/press-release/extreme-space-weather-induced-electricity-blackouts-could-cost-u-s-more-than-40-billion-daily/

  8. NASA „Near Miss“ Juli 2012 – https://science.nasa.gov/science-research/planetary-science/23jul_superstorm/

  9. Solar Cycle Progression (NOAA SWPC) – https://www.swpc.noaa.gov/products/solar-cycle-progression

  10. FERC/Meta-Studie zu Netzimpakten – https://www.ferc.gov/sites/default/files/2020-05/ferc_meta-r-319.pdf

  11. Oberschwingungen & Schutz – https://www.swpc.noaa.gov/impacts/electric-power-transmission

  12. BBK Risikoanalyse – https://www.bbk.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Mediathek/Publikationen/PiB/PiB-16-risikoanalyse-bevoelkerungsschutz.pdf

  13. PLOS One: Korrelation Sturmintensität/Netzausfälle – https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0327716

  14. Lloyd’s Risk Report „Solar Storm“ – https://www.lloyds.com/insights/risk-reports/solar-storm

  15. Lloyd’s North America Grid Report – https://assets.lloyds.com/assets/pdf-solar-storm-risk-to-the-north-american-electric-grid/1/pdf-Solar-Storm-Risk-to-the-North-American-Electric-Grid.pdf

  16. Royal Academy of Engineering – Space Weather Report – https://raeng.org.uk/media/lz2fs5ql/space_weather_full_report_final.pdf

  17. ITU/GNSS-Abhängigkeit – https://www.itu.int/hub/2024/08/solar-storms-are-we-ready-for-another-carrington-event-2/

  18. Fluter: Unterseekabel als kritische Infrastruktur – https://www.fluter.de/tiefseekabel-internet-sabotage

  19. News/Analysen zur Internet-Apokalypse – https://futurezone.at/science/sonnensturm-internet-apokalypse-stoerung-ausfall-magnetfeld/401484658

  20. ENTSO-E erklärt (Struktur/Koordination) – https://cubeconcepts.de/entso-e-kurz-erklaert-aufgaben-struktur-und-ziele/

  21. AG Orion: Bericht G5-Sturm Mai 2024 – https://www.agorion.de/2024/05/historisches-himmelsereignis-starker-geomagnetischer-g5-sturm-fuehrte-zu-hellen-polarlichtern/

  22. ENTSO-E/TSOs managen G5-Sturm – https://www.entsoe.eu/news/2024/05/13/entso-e-and-tsos-successfully-manage-the-major-geomagnetic-storm-of-10-11-may-2024/

  23. GAO/Technology Assessment & KRITIS – https://www.gao.gov/assets/700/696284.pdf

  24. U.S. DoE LPT Resilience Report (2024) – https://www.energy.gov/sites/default/files/2024-10/EXEC-2022-001242%20-%20Large%20Power%20Transformer%20Resilience%20Report%20signed%20by%20Secretary%20Granholm%20on%207-10-24.pdf

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