Jenseits des Patriarchats: Wie moderne Matriarchatsforschung unser Bild von Macht verändert
- Benjamin Metzig
- vor 2 Tagen
- 10 Min. Lesezeit

Stell dir vor, jemand sagt: „Es gibt Gesellschaften ohne Vaterherrschaft, ohne illegitime Kinder und ohne Kleinfamilien-Hamsterrad.“Klingt wie ein linkes Traumseminar auf einem Festival? Für die moderne Matriarchatsforschung ist das Alltag – empirisch belegt, ethnologisch beschrieben, politisch umkämpft.
Genau hier setzt dieser Beitrag an. Er nimmt dich mit auf eine Reise von antiken Amazonenmythen über neolithische Göttinnenstatuetten bis zu den heutigen Minangkabau in Indonesien, den Mosuo im chinesischen Hochland und den Khasi in Indien. Und er zeigt, warum moderne Matriarchatsforschung weit mehr ist als eine esoterische Randerscheinung – nämlich ein Labor für alternative Gesellschaftsentwürfe.
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Was meint moderne Matriarchatsforschung eigentlich?
„Matriarchat“ – das Wort ruft bei vielen sofort Bilder von herrschsüchtigen Amazonen und unterdrückten Männern hervor. Also eine einfache Rollenumkehr zum Patriarchat. Genau diese Vorstellung ist es, die Forscherinnen wie Heide Göttner-Abendroth für grundfalsch halten.
In der modernen Matriarchatsforschung bedeutet Matriarchat nicht „Herrschaft der Frauen“, sondern eine Gesellschaftsform, deren organisatorischer Mittelpunkt mütterliche Linien und Prinzipien sind. Es geht um Balance statt Dominanz, um Kooperation statt Befehlskette. Frauen haben zentrale ökonomische und symbolische Positionen, aber sie regieren nicht als Königinnen über gehorsame Männer – die politische Struktur ist egalitär, Entscheidungen basieren auf Konsens.
Um zu verstehen, worum es geht, hilft eine begriffliche Aufräumaktion. In der Ethnologie gibt es eine ganze Palette von Fachwörtern, die im Alltagsdiskurs wild durcheinanderfliegen:
Infobox: Zentrale Begriffe
Matrilinearität: Verwandtschaft und Erbe laufen über die Mutterlinie. Kinder gehören zum Clan der Mutter.
Matrilokalität: Wohnsitzregel, nach der die Frau in ihrem Herkunftshaushalt bleibt und der Mann als Besucher oder Gast zu ihr kommt.
Matrifokalität: Die Mutter ist faktisch Mittelpunkt der Familienorganisation, oft ohne formale Rechtsregeln.
Gynokratie: tatsächliche politische Herrschaft von Frauen über Männer – empirisch kaum belegt.
Matriarchat (nach Göttner-Abendroth): Gesellschaften, in denen Ökonomie, Verwandtschaft, Politik und Kultur um die mütterliche Linie organisiert sind und auf Ausgleich, Konsens und Schenkökonomie beruhen.
Damit wird klar: Matriarchat im modernen Sinn ist kein Spiegelbild des Patriarchats, sondern ein anderes Logiksystem. Während patriarchale Gesellschaften Macht als „power over“ denken – jemand setzt sich durch, gewinnt, dominiert – verstehen matrizentrische Kulturen Macht eher als „power with“: die Fähigkeit, gemeinsam zu handeln.
Viele klassische Ethnologen akzeptieren zwar matrilineare Verwandtschaftssysteme, wehren sich aber gegen den Begriff Matriarchat, weil sie nirgends eine offene „Frauenherrschaft“ finden. Matriarchatsforscherinnen wenden ein: Wenn man Politik nur dort sieht, wo Befehle erteilt und Gesetze geschrieben werden, übersieht man bewusst konsensorientierte Entscheidungsformen. Schon die Definition von „Politik“, so die Kritik, sei von patriarchalen Erfahrungen geprägt.
Eine Idee mit Geschichte: Von Amazonenmythen zu Marx und Engels
Die Vorstellung, dass es irgendwann einmal „Herrschaft der Frauen“ gegeben habe, ist viel älter als die wissenschaftliche Debatte. Bereits der griechische Historiker Herodot schrieb über Amazonen und über die Lykier, die ihre Abstammung nach der Mutter benannten. In den Mythen aber waren die Amazonen meist das bedrohliche Chaos, das von männlichen Helden besiegt werden musste – eine Art kulturhistorische Warnung: „Zu viel Frauenmacht? Schlechte Idee.“
Im 18. Jahrhundert entdeckte der Jesuit Joseph-François Lafitau bei den Irokesen etwas, das er als „Weiberherrschaft“ beschrieb: Frauen bestimmten dort mit, wer Häuptling wurde, und konnten ihn auch wieder absetzen. Faszinierend fand Lafitau das nicht – für ihn war es eine heidnische Abweichung von der „natürlichen“ Ordnung.
Den großen Paukenschlag setzte 1861 Johann Jakob Bachofen mit seinem Werk Das Mutterrecht. Er las Mythen wie psychoanalytische Protokolle und entwarf ein Entwicklungsmodell der Menschheit:
eine frühe Phase „regelloser Sexualität“ ohne feste Vaterschaft
eine Phase des Mutterrechts, verbunden mit Ackerbau und Verehrung der Erdmutter
schließlich der Sieg des Vaterrechts, das Bachofen mit Geistigkeit, Abstraktion und „höherer Zivilisation“ verknüpfte
Bachofen erkannte damit als einer der ersten, dass das Patriarchat historisch geworden ist – keine göttliche Naturordnung. Gleichzeitig wertete er das Matriarchat als primitive Vorstufe ab. Eine durchaus ambivalente Startfigur.
Ein paar Jahrzehnte später brachte der US-Anthropologe Lewis Henry Morgan eine andere Perspektive ein. Er arbeitete direkt mit den Irokesen und zeigte, wie stark Frauen dort die politische und ökonomische Organisation prägten. Allerdings verpackte er alles in ein damals typisches Stufenmodell von „Wildheit“, „Barbarei“ und „Zivilisation“ – und ordnete matriarchale Strukturen der „Barbarei“ zu. Patriarchat, Monogamie und Privateigentum galten ihm als Zeichen des Fortschritts.
Das war nicht nur eine akademische Spielerei: Solche Theorien legitimierten Kolonialpolitik. Wenn indigene Gesellschaften als „primitiv“ galten, konnte man sie scheinbar guten Gewissens in Internate stecken und „erziehen“ – sprich: patriarchalisieren.
Friedrich Engels las Morgans Studien durch die Brille des historischen Materialismus. In Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats interpretierte er matrilineare Systeme als Teil eines urkommunistischen Stadiums. Die „weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts“ sei erst mit der Entstehung von Privateigentum und vererbbaren Viehherden gekommen: Männer mussten sicher sein, dass ihre Güter an „eigene“ Kinder gingen – also brauchten sie Kontrolle über weibliche Sexualität. Patriarchat war für Engels kein Schicksal, sondern eine Folge bestimmter Eigentumsverhältnisse – und damit prinzipiell veränderbar.
Im 20. Jahrhundert setzte eine Gegenreaktion ein. Ethnologinnen wie Joan Bamberger untersuchten Mythen aus verschiedenen Regionen, in denen angeblich früher Frauen geherrscht hätten und dann von Männern gestürzt wurden. Ihre Pointe: Diese Geschichten sind wahrscheinlich keine Erinnerungen an reale Matriarchate, sondern Warnmärchen. Sie erzählen Männern: „Seht, was passiert, wenn Frauen Macht haben – deshalb müssen wir jetzt regieren.“ Der Matriarchatsmythos wird zum Instrument patriarchaler Legitimation.
Alte Göttinnen, neue Daten: Archäologische Schlacht ums „Alte Europa“
In den 1970er-Jahren löste die Archäologin Marija Gimbutas einen regelrechten Kulturschock aus. Sie untersuchte neolithische Kulturen Südosteuropas – Vinča, Cucuteni, Starčevo – und erkannte Muster: viele weibliche Figurinen, wenige Waffen, kaum befestigte Siedlungen. Für sie war „Old Europe“ eine relativ friedliche, matrifokale Kultur, in der eine Große Göttin verehrt wurde.
Ihre zweite große These: Zwischen 4500 und 2500 v. Chr. seien Reiternomaden aus der pontisch-kaspischen Steppe – die spätere „Kurgan-Kultur“ – nach Europa eingewandert. Diese Gruppen seien patriarchal, hierarchisch und kriegerisch gewesen. Sie hätten das alteuropäische System überlagert, indoeuropäische Sprachen und eine männliche Himmelsgötter-Religion mitgebracht. Die Göttin rutschte zur Gattin des Gottes herab, das Matriarchat wurde vom Patriarchat verdrängt.
In der spirituellen Frauenbewegung wurde Gimbutas zur Ikone: Endlich schien es eine wissenschaftliche Erzählung zu geben, dass das Patriarchat nicht naturgegeben, sondern das Ergebnis einer konkreten kriegerischen Invasion ist.
Archäologinnen wie Cynthia Eller kritisierten das heftig. Ihre Einwände lassen sich grob so zusammenfassen:
Statuetten mit betonten Brüsten und Hüften beweisen keine „Frauenherrschaft“. Ein moderner Werbekalender macht unsere Gesellschaft auch nicht zur Gynokratie.
Neue Funde zeigen Gewalt und Befestigungsanlagen auch in der Neolithik – also keine paradiesische Harmonie.
Politisch gefährlich wird es, wenn man Frauen grundsätzlich als friedliche Hüterinnen der Natur idealisiert. Das engt sie auf eine „bessere Natur“ ein, statt ihnen die volle menschliche Bandbreite zuzugestehen.
Spannend ist, dass moderne genetische Studien Gimbutas in einem Punkt Recht geben: Es gab tatsächlich eine massive Migration aus den eurasischen Steppen, die die Genetik Europas veränderte. Ob damit automatisch ein Übergang vom Matriarchat zum Patriarchat verbunden war, bleibt aber offen.
Für die moderne Matriarchatsforschung heißt das: Archäologie liefert inspirierende Hinweise, aber kein fertiges Drehbuch. Sicher belegen lassen sich hingegen heutige Gesellschaften, in denen matrilineare und matrizentrische Strukturen lebendig sind. Schauen wir uns die an.
Lebende matrilineare Gesellschaften: Minangkabau, Mosuo, Khasi
Minangkabau: Matrilinearität im Konflikt mit Kapitalismus und Scharia
Auf West-Sumatra leben die Minangkabau – mit rund vier Millionen Menschen die größte matrilineare Gesellschaft der Gegenwart. Ihre traditionellen Langhäuser, Rumah Gadang, gehören dem weiblichen Clan. Darin leben mehrere Generationen von Frauen mit ihren Kindern. Männer sind Gäste: Der Ehemann, Sumando genannt, hat im Haus seiner Frau kaum formale Autorität. Seine eigentliche Verantwortung liegt im Haus seiner eigenen Mutter und Schwestern, wo er als Onkel (Mamak) für deren Kinder sorgt.
Zentrale Figur ist die Bundo Kanduang, eine Art Clanmutter. Sie verwaltet Reisvorräte und Gemeindeland und spielt eine wichtige Rolle bei politischen Beratungen. Ihre Autorität ist weniger Befehlsmacht als moralisches Gewicht – sie verkörpert die Kontinuität des traditionellen Rechts (Adat).
Der spannendste Konflikt entzündet sich am Erbrecht. Nach islamischem Recht sollten Söhne doppelt so viel erben wie Töchter. Im Minangkabau-Adat dagegen geht das Ahnenland kollektiv an die Frauenlinie; Männer haben lediglich Nutzungsrechte. Um beide Systeme miteinander zu versöhnen, entstand eine komplizierte Doppelstruktur: Das unveräußerliche Clanland bleibt in Frauenhand, während individuell erwirtschaftetes Vermögen nach islamischem Erbrecht verteilt werden kann.
Mit der monetarisierten Wirtschaft verschiebt sich jedoch die Bedeutung: Land verliert an Wert, Geld und Immobilien gewinnen – und bewegen sich eher in männlicher Hand. Fundamentalistische Gruppen argumentieren, das Adat sei „unislamisch“ und müsse reformiert werden. Gleichzeitig berufen sich Frauenorganisationen auf die Tradition der Bundo Kanduang, um gegen Polygamie und häusliche Gewalt anzugehen. Matriarchale Strukturen werden so zur Ressource im inner-islamischen Streit um Geschlechtergerechtigkeit.
Mosuo: Besuchsehen und Tourismusklischees
Ganz andere Bilder liefert die Gesellschaft der Mosuo am Lugu-See im chinesischen Hochland. International wurden sie berühmt für ihre sogenannte „Walking Marriage“ oder Besuchsehe (Tisese): Männer und Frauen führen keine klassische Ehe, sondern besuchen einander nachts. Am Morgen kehrt jeder in den Haushalt seiner Mutter zurück. Kinder bleiben immer bei der Mutterfamilie und werden von deren Brüdern und Onkeln mitversorgt.
Zentrum ist die Dabu, die Haushaltsvorsteherin. Sie kontrolliert Vorräte und Finanzen. Männer übernehmen schwere körperliche Arbeit und repräsentieren die Familie nach außen, aber die grundlegenden Entscheidungen fällt die Dabu im Konsens mit anderen Clanmitgliedern.
Westliche Medien romantisieren das gern als „Paradies freier Liebe“, während chinesische Touristen die Mosuo-Dörfer teilweise wie eine Mischung aus Freilichtmuseum und Rotlichtviertel behandeln. Die komplexe soziale Logik der Besuchsehe wird dabei auf platte Klischees heruntergebrochen: „Frauen, die jeden Mann haben können.“ Der Tourismus bringt Geld, aber er bedroht auch die kulturelle Selbstdeutung.
Dazu kommt der Druck des Nationalstaats. In der Mao-Zeit galt die matrilineare Organisation als rückständig. Es gab Kampagnen, die Mosuo zur Einführung der monogamen Kernfamilie bewegen sollten. Viele Regelungen konnten vor Ort unterlaufen werden – ein Beispiel dafür, wie robust matrizentrische Muster sein können, wenn sie im Alltag tief verankert sind.
Khasi: Wenn Männer sich benachteiligt fühlen
Im nordostindischen Bundesstaat Meghalaya leben die Khasi. Auch hier läuft Erbe über die weibliche Linie. Besonders ist, dass die jüngste Tochter, die Khatduh, das Familienhaus und weite Teile des Besitzes erbt. Sie trägt die Verantwortung, sich um die Eltern zu kümmern und die Ahnenrituale fortzuführen.
Das System schützt Frauen vor Altersarmut und macht Scheidung für sie weniger existenzbedrohlich. Gleichzeitig erzeugt es Spannungen. Einige Khasi-Männer gründeten die Organisation Syngkhong Rympei Thymmai (SRT) – eine Art Männerrechtsgruppe. Sie argumentieren, Männer würden zu „Zuchtbullen“ degradiert: Eigentum gehöre ihnen nicht, Kinder liefen rechtlich über die Linie der Mutter, und gesellschaftliche Verantwortung werde ihnen abgesprochen. In ihren Augen führt das zu männlicher Perspektivlosigkeit, Alkoholismus und Bildungsabbrüchen.
Paradox: Während Frauen ökonomisch stark sind, sind sie politisch lange ausgeschlossen worden. Die traditionellen Dorfräte (Dorbar Shnong) bestehen fast ausschließlich aus Männern. Der Spruch „Wenn die Henne kräht, geht die Welt unter“ brachte das Verbot weiblicher Politikteilnahme auf den Punkt. Erst in letzter Zeit drängen Khasi-Frauen in diese Gremien und stoßen dort auf massiven Widerstand.
Die Khasi zeigen damit, dass Matrilinearität nicht automatisch Geschlechterparadies bedeutet. Macht verteilt sich entlang mehrerer Achsen – Besitz, Alltag, politische Stimme – und kann sehr widersprüchlich organisiert sein.
Wenn dich diese ethnologischen Einblicke faszinieren, lass es mich wissen – like den Beitrag und schreib in die Kommentare, welche dieser Gesellschaften du gern einmal in einer Doku oder Reportage sehen würdest.
Streit um Natur und Kultur: Essentialismus, Großmütter und Utopien
Kaum ein Thema entzündet die Geister so sehr wie die Frage, ob Matriarchatsforschung Frauen „naturhaft verklärt“. Gender-Theoretikerinnen à la Judith Butler betonen, dass Geschlecht sozial konstruiert sei. Aus dieser Perspektive wirkt es verdächtig, wenn Matriarchatsdiskurse Frauen mit Mütterlichkeit, Friedlichkeit und Naturverbundenheit verbinden. Schnell steht der Vorwurf des Essentialismus im Raum: Wird hier nicht einfach ein neues, positives Klischee an die Stelle alter gesetzt?
Heide Göttner-Abendroth und andere Forscherinnen halten dagegen: Die relative Gewaltarmut vieler matriarchaler und matrifokaler Gesellschaften sei kein Ergebnis weiblicher Gene oder Hormone, sondern ihrer Struktur. Wenn Ökonomie auf Schenkung statt Akkumulation basiert, wenn Reichtum bedeutet, viel zu geben statt viel zu besitzen, dann sinkt der Anreiz für Eroberungskriege. Wenn politische Positionen abwählbare Delegationen sind, die den Willen von Clanmüttern und Clanspiegeln müssen, wird persönliche Machtkonzentration erschwert. Friedfertigkeit sei damit nicht „weibliche Natur“, sondern Ergebnis bestimmter Institutionen.
Eine spannende Brücke zur Biologie schlägt die sogenannte Großmutter-Hypothese der evolutionären Anthropologie. Menschenfrauen leben oft Jahrzehnte nach der Menopause – im Tierreich eher ungewöhnlich. Der Erklärungsansatz: Großmütter steigern die Überlebenschancen von Enkeln, indem sie Nahrung beschaffen, Wissen teilen und Betreuung übernehmen. In Jäger-Sammler-Gruppen zeigte sich, dass der Beitrag älterer Frauen zur Nahrungsversorgung oft zuverlässiger ist als der der Männer, deren Jagderfolg stärker schwankt. Das macht es plausibel, dass frühe Menschengruppen um weibliche Verwandtschaftskerne organisiert waren – nicht zwingend politisch matriarchal, aber doch matrifokal.
Auf dieser Basis entwirft die moderne Matriarchatsforschung eine politische Utopie, die manchmal als Matriarchatspolitik bezeichnet wird. Ihre Leitmotive:
Ökologie: Wenn Erde und Natur als sakral gelten, wird Ausbeutung nicht nur ökonomisch, sondern auch religiös problematisch.
Ökonomie: Orientierung an Subsistenz, lokalen Kreisläufen und gerechter Verteilung satt globalem Wachstumszwang.
Politik: Konsensdemokratie, Rotationsprinzip bei Ämtern, Delegierte ohne exekutive Allmacht.
Natürlich ist klar, dass sich komplexe Nationalstaaten nicht eins zu eins in Irokesen-Clans oder Minangkabau-Dörfer verwandeln lassen. Aber matrizentrische Systeme fungieren als Reallabore: Sie zeigen, dass andere Kombinationen von Geschlecht, Eigentum und Macht tatsächlich funktionieren – oft seit Jahrhunderten.
Was wir von Matriarchaten für unsere Zukunft lernen können
Am Ende der Reise stellt sich die entscheidende Frage: Was bleibt, wenn wir Mythen, Idealisierungen und Ideologieverdacht abziehen?
Erstens: Das westliche, patriarchal geprägte Modell von Familie und Politik ist keine biologische Zwangsläufigkeit. Es ist eine historische Konfiguration unter vielen. Gesellschaften, in denen Kinder nicht „unehelich“ sein können, weil alle zur Sippe der Mutter gehören, existieren real. Gesellschaften, in denen eine ältere Frau mit ihren Schwestern, Töchtern und Enkeln die stabile Lebensmitte bildet, während Männer eher pendelnde Besucher sind, existieren real.
Zweitens: Matriarchale oder matrizentrische Strukturen sind kein Paradies. Sie produzieren eigene Konflikte – von islamischem Erbrecht gegen Adat bei den Minangkabau über touristische Sexualisierung bei den Mosuo bis zur Männerrechtsbewegung der Khasi. Gerade diese Widersprüche machen sie wissenschaftlich interessant: Sie zeigen, dass Geschlechterordnungen immer dynamische, umkämpfte Aushandlungsprozesse sind.
Drittens: Für gegenwärtige Debatten über Care-Arbeit, Klimakrise und soziale Ungleichheit eröffnen matriarchale Modelle einen anderen Horizont. Was wäre, wenn wir Wohlstand nicht primär an individueller Akkumulation, sondern an Beziehungsnetzen und Versorgungssicherheit messen würden? Wenn politische Repräsentation an dialogische Fähigkeiten gekoppelt wäre statt an Lautstärke und Durchsetzungsvermögen? Wenn wir Eigentum stärker kollektiv denken würden – nicht nur bei Wohnprojekten, sondern bei Land, Ressourcen, vielleicht sogar bei digitalen Infrastrukturen?
Die moderne Matriarchatsforschung liefert keine Blaupause, aber ein Ideenarsenal. Sie zwingt uns, scheinbar „natürliche“ Institutionen wie Ehe, Vaterrolle oder Nationalstaat neu zu hinterfragen. Und sie verknüpft diese Fragen mit konkreten Lebensrealitäten von Menschen, deren Gesellschaftslogik wir sonst schnell als exotische Randnotiz abtun würden.
Wenn du Lust hast, mehr solcher Perspektivwechsel zu entdecken, folge gern auch der Community auf meinen Social-Media-Kanälen – dort teile ich zusätzliche Artikel, Grafiken und Veranstaltungstipps:
Zum Schluss die Einladung an dich: Welche Aspekte aus den beschriebenen Gesellschaften würdest du dir für unsere Zukunft wünschen – und wo siehst du Grenzen? Wenn dich der Artikel zum Nachdenken gebracht hat, freue ich mich, wenn du ihn likest und deine Gedanken in den Kommentaren teilst. Denn genau dort, im gemeinsamen Nachdenken und Streiten, beginnt vielleicht der erste kleine Schritt „jenseits des Patriarchats“.
Quellen:
Matriarchat – Wikipedia – https://de.wikipedia.org/wiki/Matriarchat
Heide Goettner-Abendroth – Matriarchal Society: Definition and Theory – https://www.matriarchiv.ch/uploads/HGA-E-Matriarchal-Society-Definition-and-Theory.pdf
A Systematic Review Of “Modern Matriarchy” Featuring The Khasi, The Mosuo, The Bribri, The Minangkabau, The Akana, The Umoja – https://jurnal.unimus.ac.id/index.php/ELLIC/article/download/12527/7112
Geschichte der Matriarchatstheorien – Wikipedia – https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Matriarchatstheorien
Matriarchatspolitik – Heide Goettner-Abendroth – https://goettner-abendroth.de/matriarchat/matriarchatspolitik
Geschichte der Entwicklung der Matriarchatstheorie – https://matriarchatsforschung.com/geschichte-der-entwicklung-der-matriarchatstheorie
The Myth of Matriarchy: Why Men Rule in Primitive Society – http://radicalanthropologygroup.org/wp-content/uploads/class_text_052.pdf
The Myth of Matriarchal Prehistory – Wikipedia – https://en.wikipedia.org/wiki/The_Myth_of_Matriarchal_Prehistory
A CONTEMPORARY REVIEW OF THE ARCHAEOLOGY OF MARIJA GIMBUTAS – https://www.researchgate.net/publication/354059660_A_CONTEMPORARY_REVIEW_OF_THE_ARCHAEOLOGY_OF_MARIJA_GIMBUTAS_AN_EVALUATION_OF_THE_NATURE_OF_CROSS-CULTURAL_INTERCOURSE_BETWEEN_THE_WORLD_OF_'OLD_EUROPE'_AND_THE_ARRIVAL_OF_INDO-EUROPEAN_SPEAKERS_IN_THE
Portraits of Matriarchy: Where Grandmothers Are Still in Charge – YES! Magazine – https://www.yesmagazine.org/health-happiness/2020/11/09/china-himalayas-grandmothers-mosuo
Indonesia's matriarchal Minangkabau offer an alternative social system – EurekAlert! – https://www.eurekalert.org/news-releases/837232
The System of Inheritance Law in Minangkabau – https://jurnal.umsu.ac.id/index.php/ijessr/article/download/5047/pdf_4
Islamic Law Versus Adat: Debate about Inheritance Law and the Rise of Capitalism in Minangkabau – https://scispace.com/pdf/islamic-law-versus-adat-debate-about-inheritance-law-and-the-4y836yocge.pdf
Meet the men's libbers of Meghalaya – https://timesofindia.indiatimes.com/home/sunday-times/meet-the-mens-libbers-of-meghalaya/articleshow/60237760.cms
Khasi Folk Democracy: An Alternative to Modern Electoral Systems – https://highlandpost.com/khasi-folk-democracy-an-alternative-to-modern-electoral-systems/
Dimensionen von Gender Studies – https://budrich-journals.de/index.php/fgs/article/download/3358/2884/3354
Women as Progenitors of Culture: Mythic Origins and Scholarly Debates – https://snakecult.net/posts/primordial-matriarchy-science/
Soziologie – Einfache Jäger- und Sammlergesellschaften – https://soziologie.philhist.unibas.ch/fileadmin/user_upload/soziologie/Paul_2022_Einfache_Jaeger_und_Sammlergesellschaften.pdf
Heide Göttner-Abendroth – Moderne Matriarchatsforschung – https://www.matriarchiv.ch/uploads/HGA-D-Moderne-Matriarchatsforschung.pdf
Matriarchale Gesellschaften der Gegenwart – https://content.e-bookshelf.de/media/reading/L-16616922-def6c058d4.pdf








































































































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