Das Tabu im Spiegel: Was der Kannibalismus wirklich über uns Menschen verrät
- Benjamin Metzig
- 23. Juni
- 6 Min. Lesezeit

Stell dir vor, du stehst vor einem Thema, das dich gleichzeitig abstößt und auf eine seltsame, fast verbotene Weise neugierig macht. Genau das ist Kannibalismus für die meisten von uns. Es ist ein Wort, das Bilder von tiefster Dunkelheit und dem Bruch mit allem, was wir als zivilisiert erachten, heraufbeschwört. Aber was, wenn ich dir sage, dass genau dieses ultimative Tabu uns einen einzigartigen, wenn auch unbequemen Spiegel vorhält? Einen Spiegel, der nicht nur die Abgründe, sondern auch überraschende Facetten der menschlichen Natur und Geschichte enthüllt. Bist du bereit, einen Blick hineinzuwerfen und zu entdecken, was der Verzehr von Menschenfleisch – real, rituell oder metaphorisch – über unsere Gesellschaft, unsere Psyche und letztlich über das Menschsein selbst aussagt? Es ist eine Entdeckungsreise, die uns an die Grenzen dessen führt, was wir zu verstehen wagen!
Die erste, vielleicht schockierendste Erkenntnis ist: Kannibalismus ist kein monolithisches Monster. Es ist ein Kaleidoskop von Praktiken, die sich über Jahrtausende und Kontinente erstrecken, angetrieben von den unterschiedlichsten Motiven. Man muss da wirklich genau hinschauen!
Überlebenskannibalismus: Das ist die Form, die uns vielleicht am ehesten "verständlich" erscheint. In Extremsituationen, wenn der Hungertod droht – denk an den berüchtigten Flugzeugabsturz in den Anden oder gestrandete Expeditionen – wurde Menschenfleisch zur letzten, verzweifelten Nahrungsquelle. Hier geht es ums nackte Überleben, oft verbunden mit unvorstellbaren psychischen Qualen.
Ritueller Kannibalismus: Hier wird es komplexer und kulturell vielschichtiger.
Endokannibalismus: Stell dir vor, du isst Teile eines geliebten Verstorbenen, nicht aus Hunger, sondern um seine Seele, seine Kraft oder Weisheit in dir und der Gemeinschaft weiterleben zu lassen. Völker wie die Wari' in Brasilien praktizierten dies als Akt der Ehrerbietung und Trauer. Faszinierend und befremdlich zugleich, oder?
Exokannibalismus: Das genaue Gegenteil. Hier werden Feinde verzehrt, um ihre Stärke zu rauben, sie zu demütigen oder als ultimative Machtdemonstration. Die Azteken mit ihren rituellen Menschenopfern sind hier ein bekanntes, wenn auch grausames Beispiel.
Medizinischer Kannibalismus: Hättest du das gedacht? Bis ins 18. Jahrhundert war es in Europa gang und gäbe, menschliches Fett, Blut oder pulverisierte Knochen als Heilmittel zu verwenden! Die sogenannte "Dreckapotheke" sah menschliche Überreste als potente Medizin. Das rückt unsere Vorstellung vom "aufgeklärten Westen" doch gleich in ein anderes Licht.
Pathologischer oder Krimineller Kannibalismus: Das ist die Form, die uns heute am meisten schockiert und die oft mit schweren psychischen Störungen und grausamen Verbrechen wie bei Jeffrey Dahmer oder Armin Meiwes verbunden ist. Hier geht es nicht um Tradition oder Not, sondern um individuelle, tief verstörte Abgründe.
Politischer Kannibalismus: Eine besonders finstere Variante, bei der das Verzehren von Menschen als Terrorinstrument eingesetzt wird, um Feinde zu dehumanisieren und absolute Macht zu demonstrieren, wie es entsetzlicherweise während der chinesischen Kulturrevolution in Guangxi geschah.
Symbolischer Kannibalismus: Und dann gibt es da noch die metaphorische Ebene. Die christliche Eucharistie, bei der Brot und Wein symbolisch Leib und Blut Christi darstellen, ist das wohl bekannteste Beispiel. Es zeigt, wie tief die Idee des „Einverleibens“ zur Vereinigung in unserem Denken verankert ist.
Archäologische Funde katapultieren uns noch viel weiter zurück. In den Höhlen von Atapuerca in Spanien stießen Forscher auf etwa 800.000 bis 900.000 Jahre alte Knochen des Homo antecessor. Und was sie dort fanden, ist atemberaubend: Schnittspuren, Zertrümmerungen zur Markentnahme – ganz so, als hätte man Jagdbeute zerlegt. Das Unglaubliche daran? Es gab genug Tierknochen, also war es wohl kein reiner Hungerkannibalismus. Es scheint, als sei der Verzehr von Artgenossen für unsere fernen Vorfahren vielleicht eine pragmatische, weniger tabuisierte Praxis gewesen. Das wirft ein ganz neues Licht auf die Entwicklung unseres heutigen tiefen Abscheus, nicht wahr? Auch bei Neandertalern gibt es zahlreiche Belege, wobei hier die Motive – Ritual, Not, Ernährung – noch debattiert werden.
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Die Idee des Kannibalen ist oft noch wirkmächtiger gewesen als der Akt selbst. Das Wort "Kannibale" selbst stammt von den "Caniba" oder "Cariba", einem indigenen Volk, von dem Kolumbus hörte. Schnell wurde dieser Begriff zum Synonym für "Menschenfresser" und diente den europäischen Kolonialmächten als perfekte Rechtfertigung: Wer solch "wilde" Tabus bricht, muss ja zivilisiert, unterworfen und "gerettet" werden. Der Anthropologe William Arens hat das im 20. Jahrhundert radikal hinterfragt und argumentiert, dass die Anschuldigung des Kannibalismus oft mehr über die Ankläger und ihre Absicht des "Othering" – der Abgrenzung und Entmenschlichung des Fremden – aussagt, als über die Angeklagten. Eine wirklich spannende Umkehrung des Blicks bietet das indigene Konzept des Wetiko aus Nordamerika. Ursprünglich ein menschenfressendes Monster, wurde es von Denkern wie Jack D. Forbes zur Metapher für die gierige, ausbeuterische Natur des westlichen Imperialismus und Kapitalismus – eine Art seelische Krankheit, die Leben und Ressourcen "frisst". Plötzlich stellt sich die Frage: Wer ist hier der wahre Kannibale?
Und was treibt einen Menschen im Innersten zu solchen Taten? Die Psychoanalyse sieht in kannibalistischen Fantasien oft einen Rückfall in frühkindliche Wünsche nach totaler Verschmelzung mit einem geliebten (oder gehassten) Objekt – die ultimative Aufhebung der Grenzen.
Kriminalpsychologen hingegen verorten kriminellen Kannibalismus eher in schweren Kindheitstraumata und einer pathologischen Verknüpfung von Sexualität und Gewalt. Das Internet kann hier, wie im Fall Armin Meiwes, zum fatalen Katalysator werden, indem es Gleichgesinnten eine Plattform bietet. Ganz anders die Psyche beim Überlebenskannibalismus: Hier kämpfen die Betroffenen mit unerträglicher kognitiver Dissonanz und müssen den Akt moralisch umdeuten, um nicht daran zu zerbrechen – oft mit tiefen seelischen Narben als Folge.
Die moderne Kultur, insbesondere Film und Literatur, hat sich dieses Themas immer wieder angenommen und es als Spiegel gesellschaftlicher Ängste genutzt. Erinnere dich an die Exploitation-Kannibalenfilme der 70er und 80er, die mit dem Schrecken des "wilden Fremden" spielten. Dann kam Hannibal Lecter – der kultivierte, brillante Psychiater und Gourmet-Kannibale. Plötzlich war das Monster nicht mehr da draußen im Dschungel, sondern mitten unter uns, ein Teil unserer Elite. Was für eine beunruhigende Vorstellung! Heute dient Kannibalismus im Film oft als Metapher: für die gefräßige Konsumgesellschaft, für alles verzehrende Liebe und Verlangen, für die Erfahrung von Marginalisierung oder sogar als radikaler Akt feministischer Selbstermächtigung. Es ist faszinierend zu sehen, wie sich diese Darstellungen wandeln und was sie über unsere jeweiligen Ängste und Obsessionen verraten.
Was sagt uns das alles nun über uns selbst? Der Kannibalismus, in all seinen Facetten, zwingt uns, die Grenzen unserer eigenen Menschlichkeit zu hinterfragen. Die Grenze zwischen Mensch und Tier, Zivilisation und Wildheit, Selbst und Anderem, ja sogar zwischen Liebe und Zerstörung – all das wird durch dieses ultimative Tabu auf die Probe gestellt. Es zeigt uns, dass "Menschsein" kein fester Zustand ist, sondern ein andauernder, oft zerbrechlicher Prozess der Aushandlung zwischen unseren Trieben, Bedürfnissen und den kulturellen Codes, die wir uns erschaffen. Im Spiegel des Kannibalen sehen wir vielleicht nicht nur das Monster, sondern auch das beunruhigende Potenzial, das in uns allen schlummert – und die ständige Notwendigkeit, uns bewusst für unsere Menschlichkeit zu entscheiden.
Was denkst du darüber? Welche Aspekte des Themas findest du besonders verstörend oder faszinierend? Lass uns in den Kommentaren diskutieren – ich bin unglaublich gespannt auf deine Gedanken! Und wenn dir dieser Beitrag gefallen hat, zeig es mit einem Like und teile ihn gerne.
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Verwendete Quellen:
Frank Festa: Kannibalen - Menschenfleisch, sittlich und moralisch tabu - Phantastik Couch - https://www.phantastik-couch.de/titel/8963-kannibalen-menschenfleisch-sittlich-und-moralisch-tabu/
Kannibalismus - Bionity - https://www.bionity.com/de/lexikon/Kannibalismus.html
Neandertaler waren Kannibalen: Das große Fressen - DER SPIEGEL - https://www.spiegel.de/spiegel/neandertaler-waren-kannibalen-das-grosse-fressen-a-1111149.html
Tabu Menschenfleisch - Wie Menschen zu Kannibalen werden - Kultur - SRF - https://www.srf.ch/kultur/literatur/tabu-menschenfleisch-wie-menschen-zu-kannibalen-werden
Das Problem des Anderen am Beispiel des Kannibalismus- und Rassendiskurses von der Antike bis in die Neuzeit - ULB : Dok - Universität Innsbruck - https://ulb-dok.uibk.ac.at/ulbtirolhs/download/pdf/2828595
Kannibalismus - ResearchGate - https://www.researchgate.net/profile/Christian-Feest/publication/258995270_Kannibalismus/links/0046352991e2298361000000/Kannibalismus.pdf
Kannibalismus – Wikipedia - https://de.wikipedia.org/wiki/Kannibalismus
Kannibalismus ᐅ Definition und Bedeutung des Begriffs - JuraForum.de - https://www.juraforum.de/lexikon/kannibalismus
Kannibalismus Susanne Wetzel Das Referat beschäftigt sich, im ... - Ernährungsdenkwerkstatt - http://ernaehrungsdenkwerkstatt.de/fileadmin/user_upload/EDWText/TextElemente/Ernaehrungsgeschichte/Kannibalismus_Seminar_Ernaehrungsgeschichte_Muenster.pdf
Kriminalpsychologe: "Kannibalismus ist eine Spielart der Sexualität" | Abendzeitung München - https://www.abendzeitung-muenchen.de/panorama/kriminalpsychologe-kannibalismus-ist-eine-spielart-der-sexualitaet-art-686892
Warum waren unsere Vorfahren Kannibalen? - Für Homo antecessor war das Verzehren von Artgenossen offenbar lohnender als die Jagd - Scinexx - https://www.scinexx.de/news/biowissen/warum-waren-unsere-vorfahren-kannibalen/
Social Psychology in Action: A Critical Analysis of Alive - CORE Scholar - https://corescholar.libraries.wright.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1001&context=psych_student
Nahrungstabu – Wikipedia - https://de.wikipedia.org/wiki/Nahrungstabu
Kannibalismus - Lexikon der Biologie - Spektrum der Wissenschaft - https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/kannibalismus/35347
Kannibalismus als Krankheit. Das Verständnis von physischer und ... - Polylog - https://polylog.net/fileadmin/docs/polylog/42/thema_Schlosser.pdf
Hans-Volker Werthmann: Die Leere war weg! Psychoanalytische Anmerkungen zum Rotenburger Kannibalismus-Fall (PDF) - Psychosozial-Verlag - https://psychosozial-verlag.de/programm/4000/4100/26119-detail
Geisterleben. Menschenessen - Thealit - https://www.thealit.de/lab/LIFE/LIFEfiles/r_15_1.htm
Kriminologie - Das Phänomen Kannibalismus in ... - VEKO Online - https://www.veko-online.de/archiv-ausgabe-02-2014/kriminologie-das-phaenomen-kannibalismus-in-deutschland.html
Massaker von Guangxi - Wikipedia - https://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_von_Guangxi
Archaeological site of Atapuerca - Wikipedia - https://en.wikipedia.org/wiki/Archaeological_site_of_Atapuerca
Cultural Cannibalism as a Paleoeconomic System in the European Lower Pleistocene : The Case of Level TD6 of Gran Dolina (Sierra de Atapuerca, Burgos, Spain) - The University of Chicago Press: Journals - https://www.journals.uchicago.edu/doi/10.1086/653807
Homo antecessor remains with human-induced modifications - ResearchGate - https://www.researchgate.net/figure/Homo-antecessor-remains-with-human-induced-modifications_tbl2_210271411
A Site of Archaeological Treasure and Murder at Atapuerca, Spain | Ancient Origins - https://www.ancient-origins.net/ancient-places-europe/atapuerca-0013568
Why is it assumed that Homo Antecessor practiced terrestrial cannibalism? - Reddit - https://www.reddit.com/r/AskAnthropology/comments/1ldirdg/why_is_it_assumed_that_homo_antecessor_practiced/
Evidence for bronze age cannibalism in El Mirador Cave (Sierra de Atapuerca, Burgos, Spain) - PubMed - https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/17492670/
Rituelle Gewalt, Satanic Panic und Therapie: Missbrauch als False Memory - Beobachter - https://www.beobachter.ch/magazin/gesellschaft/ein-grauenhaftes-hirngespinst-fordert-reale-opfer-719746
Cannibalism in popular culture - Wikipedia - https://en.wikipedia.org/wiki/Cannibalism_in_popular_culture
Cannibal film - Wikipedia - https://en.wikipedia.org/wiki/Cannibal_film
The Ethics Of The Cannibal Film - Fangoria - https://www.fangoria.com/cannibal-films/
"If I die, you can eat me." Kannibalismus als Motiv im Spielfilm - ResearchGate - https://www.researchgate.net/publication/350621317_If_I_die_you_can_eat_me_Kannibalismus_als_Motiv_im_Spielfilm
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