Havanna-Syndrom Analyse: Was hinter den „Anomalous Health Incidents“ steckt
- Benjamin Metzig
- vor 11 Minuten
- 6 Min. Lesezeit

Wer seit 2016 die diplomatische Welt verfolgt, kennt das Rätsel: Plötzlich auftretende, gerichtete Geräusche, Schwindel, Tinnitus, kognitiver Nebel – und das bei hochtrainiertem Personal in Havanna, Guangzhou, Wien, Berlin und sogar in Washington, D.C. Handelt es sich um eine neue Form der nicht-kinetischen Verletzung – oder um eine kollektive Fehlinterpretation von Stressphänomenen? In dieser Havanna-Syndrom Analyse ordnen wir die medizinischen Belege, die konkurrierenden Kausaltheorien und die geopolitischen Implikationen – nüchtern, aber mit Blick für die größeren Zusammenhänge.
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Was AHIs sind – und warum sie anders sind
„Anomalous Health Incidents“ (AHIs) sind Ereignisse, bei denen Betroffene zunächst ein abruptes, lokalisiertes Sinneserlebnis schildern – häufig als kreischendes, klickendes oder zwitscherndes Geräusch mit Druckgefühl im Kopf – und unmittelbar danach neurologische Symptome entwickeln. Entscheidend ist die Zweiphasigkeit: eine akute Episode gefolgt von einer chronischen Beschwerdelandschaft mit vestibulären Störungen, okulomotorischen Problemen, Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen und kognitiver Dysfunktion. Das Muster ähnelt einer leichten traumatischen Hirnverletzung – nur ohne vorausgehendes Kopftrauma. Genau dieser Widerspruch („makellose Gehirnerschütterung“) treibt die Debatte an: Wenn klassische Mechanik als Ursache wegfällt, müssen alternative, nicht-kinetische Mechanismen diskutiert werden – von gerichteter Energie bis zu neuartigen Toxinen oder psychogenen Erklärungen.
Die betroffene Gruppe ist bemerkenswert homogen in ihrer Ausbildung und Einsatzumgebung: vor allem US- und kanadisches Regierungs- und Sicherheitspersonal sowie Familienangehörige. Die offizielle, bewusst neutrale Terminologie „AHIs“ spiegelt die anhaltende Unsicherheit über Herkunft und Mechanismus wider – und schützt vor voreiligen Zuschreibungen, ohne das Leiden der Betroffenen zu relativieren.
Der Auftakt in Havanna – und die globale Ausbreitung
Der erste Cluster Ende 2016 in Havanna betraf US- und kanadische Diplomaten und Geheimdienstmitarbeitende – nicht nur in Büros, sondern in privat als sicher geltenden Räumen wie Häusern und Hotels (u. a. Capri, Nacional). Die US-Regierung reagierte mit Ausweisungen und Personalreduktionen, was das Phänomen früh als sicherheitspolitisches Thema rahmte.
Kurz darauf zeigte sich: Das Geschehen ist nicht ortsgebunden. 2018 folgte ein signifikanter Cluster im US-Konsulat Guangzhou; 2019–2021 meldeten sich Fälle aus Moskau, Wien (Dutzende), Berlin sowie aus den USA selbst, darunter in Nähe des Weißen Hauses. Weitere Berichte kamen u. a. aus Kolumbien, Georgien, Serbien, Indien, Vietnam und Australien. Die Zahlen stiegen steil: von einigen Dutzend (2019) über >200 (bis 09/2021) zu >1.000 gemeldeten Betroffenen Anfang 2022; bis Juli 2024 erfüllten 334 Personen die Kriterien für eine Versorgung im militärischen Gesundheitssystem. Die geographische Logik fällt auf: Hotspots diplomatischer Reibung und Spionage.
Kann ein global verteiltes Muster in voneinander unabhängigen, hochselektierten Personengruppen allein durch soziale Ansteckung erklärt werden? Möglich, aber zunehmend unplausibel. Umgekehrt zwingt die Heterogenität der Fälle auch zur Vorsicht vor Monokausalität: Nicht jedes AHI muss dieselbe Ursache haben.
Warum gerichtete Energie im Fokus steht
Die prominenteste Hypothese lautet: gerichtete, gepulste Hochfrequenzenergie (RF/Mikrowellen). Zwei Bausteine sind zentral. Erstens der Frey-Effekt: Gepulste Mikrowellen können über minimale, schnelle Gewebeerwärmung thermoelastische Druckwellen erzeugen, die das Innenohr als Klicks oder Summen „hört“. Das erklärt das akute, gerichtete Geräusch. Zweitens die Umwandlung dieser Impulse in mechanische Belastungen im Schädel – bis hin zu hypothesierter Kavitation (Bildung und Kollaps mikroskopischer Dampfblasen) im Hirngewebe. Deren Kollaps kann lokale Schockwellen und mikroskopische Zellschäden verursachen – eine neuartige „Beleidigung“ des Gehirns, die sich von der bekannten Biochemie klassischer mTBI unterscheidet.
Diese physikalisch-biologische Kette verbindet den subjektiven Auftakt (Richtungshören, Druck) mit objektiven, längerfristigen Funktionsstörungen – ohne Schlag, Fall oder Detonation. Technisch ist das Konzept nicht aus der Luft gegriffen: Historische Episoden wie das „Moskau-Signal“ (Mikrowellenbestrahlung der US-Botschaft über Jahre) sowie öffentlich bekannte Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten verschiedener Staaten zeigen: Die Bausteine existieren, sind skalierbar und operativ denkbar. Entscheidend bleibt: Plausibel ist nicht gleich bewiesen.
Der Geist, die Umwelt – und hybride Erklärungen
Die stärkste Alternative ist psychogen: Funktionelle neurologische Störungen, PPPD, PTBS, Depression – all das findet sich bei einem Teil der Betroffenen. In Hochstressumgebungen können Erwartung, Angst und Aufmerksamkeitsfokussierung Symptome verstärken oder auslösen. Analogien gibt es historisch zuhauf – vom „Granatenschock“ bis zu Technikängsten.
Doch es bleiben Lücken: Wie erklärt man gerichtetes Richtungshören, abrupte Onset-Episoden, objektive vestibuläre/okulomotorische Auffälligkeiten – und das in global getrennten Kohorten? Umweltthesen (etwa Pestizidexposition) adressieren einzelne Orte oder Zeitfenster, scheitern aber an Selektivität, Plötzlichkeit und weltweiter Verteilung.
Am konsistentesten wirkt daher ein hybrides Modell: Eine Kerngruppe (mit klarer akuter Sinnesepisode und objektiven Befunden) beruht auf externer Einwirkung; eine breitere Peripherie erklärt sich aus Stressreaktionen, funktionellen Störungen und Fehlattribution bestehender Leiden im Schatten eines realen Risikos. So werden die scheinbaren Gegensätze zwischen „gerichteter Energie“ und „Psychogenese“ in eine zeitliche und logische Abfolge überführt – anstatt in ein Entweder-Oder.
Methodische Stolperfallen: Eine Havanna-Syndrom Analyse der Studienlage
Warum liefern Studien so widersprüchliche Ergebnisse? Frühere, kleinere Kohorten – u. a. aus Havanna – zeigten in fortgeschrittener Bildgebung (Diffusions-MRT) Unterschiede in weißer Substanz, Kleinhirn-Integrität und funktionellen Netzwerken. Spätere, größere NIH-Untersuchungen (2024) fanden trotz deutlicher Symptome keine replizierbaren MRT-Marker einer Hirnverletzung.
Dafür gibt es methodische Gründe: Zeitpunkt (wie weit nach dem Ereignis wurde gemessen?), Heterogenität der Kohorten, unterschiedliche Protokolle und statistische Schwellen. Vor allem: Wenn der vermutete Schaden eher funktionell (vestibulär/okulomotorisch) als strukturell ist – oder sich strukturelle Mikroveränderungen wieder normalisieren –, sind Standard-MRTs blind.
Tatsächlich gehören vestibulär-okulomotorische Anomalien zu den robustesten objektiven Befunden über Studien hinweg. Die Lehre: Weniger Jagd auf „Löcher im Gehirn“, mehr hochauflösende Funktionsdiagnostik – longitudinal und standardisiert.
Das geopolitische Schachbrett
Indizien weisen auf staatliche Akteure – am deutlichsten auf Russland (GRU-Einheit 29155). Investigative Recherchen verorten Personal der Einheit an Tatorten; hinzu kommen Auszeichnungen im Kontext „nicht-tödlicher akustischer Waffen“ und ein klares Motiv: die Störung diplomatischer Annäherung und das Signalisieren von Kosten für US-Aktivitäten. Das alte „Moskau-Signal“ liefert zudem eine Blaupause: verdeckte, graduelle, bestreitbare Einwirkung unterhalb der Eskalationsschwelle.
Andere Staaten bleiben im Bild (z. B. China, nicht zuletzt wegen des Guangzhou-Clusters), jedoch mit schwächerer Evidenzkette. Gemeinsam ist all diesen Szenarien die Logik des hybriden Kriegs: Ambiguität als Waffe. Unsichtbare Emissionen, schwer attribuierbare Symptome, psychologische Verunsicherung – das schafft glaubhafte Abstreitbarkeit und zwingt das Ziel in eine teure, langwierige Aufklärungsspirale.
Eine gespaltene Reaktion: Aufklärung, Politik, Versorgung
Die US-Nachrichtendienste veröffentlichten 2023/2024 Bewertungen, die mehrheitlich einen gegnerischen Ursprung für die meisten Fälle als „sehr unwahrscheinlich“ einstuften – bei gleichzeitigem Dissens einzelner Dienste, die für eine kleine Untergruppe einen gegnerischen Mechanismus für „möglich“ hielten. Kongressgremien kritisierten Methodik und Kommunikation; deklassifizierte Berichte dokumentieren Koordinationsmängel, überzogene Geheimhaltung und eine Versorgungspraxis, die Betroffene oft zusätzlich belastete.
Der HAVANA Act (2021) sollte Abhilfe schaffen: finanzielle/medizinische Unterstützung für Betroffene mit TBI-ähnlichen Diagnosen. Doch die Umsetzung hakt: Intransparente Pfade, fehlende Register, inkonsistente Versorgung. So entsteht eine „zweite Verletzung“ – nicht biologisch, sondern institutionell-moralisch –, die Genesung und Vertrauen untergräbt.
Vom Befund zur Strategie: Was jetzt zu tun ist
Die Gesamtschau spricht für ein hybrides Bild: Einige AHIs passen am besten zu externer, gerichteter Einwirkung; viele weitere lassen sich mit funktionellen Störungen, Stress und Fehlattribution erklären. Daraus folgt ein Arbeitsprogramm:
Forschung bündeln: Ein einheitliches, longitudinales Protokoll unter einer föderführenden Instanz; Priorität für empfindliche vestibulär-okulomotorische Tests und Grundlagenforschung zu nicht-kinetischen Bioeffekten (inkl. Mikrowellen-Kavitation).
Nachrichtendienstliche Analytik reformieren: Ambiguitätstoleranz erhöhen, probabilistisch entscheiden, ohne absolute Attribution abzuwarten. Klare Schwellen und Signale für Reaktionen auf nicht-kinetische Angriffe definieren.
Schutz & Sensorik: Feldtaugliche Detektion gerichteter Emissionen in und um Einrichtungen; bauliche RF-Schirmung und persönliche Gegenmaßnahmen evaluieren.
Versorgung entstigmatisieren: Leistungszugang nach Symptomschwere – unabhängig von Kausalzuschreibung; zentrale Lotsenstellen, transparente Register, messbare Service-Level.
Wissenschaft in der Grauzone
AHIs sind ein Lehrstück über Evidenz unter Unsicherheit. Die Natur liefert uns hier kein Schwarz-Weiß, sondern viele Grautöne. Genau deshalb müssen wir zweigleisig fahren: offene Hypothesenprüfung in der Medizin und robuste Resilienzpolitik in der Sicherheit. Oder zugespitzt gefragt: Warten wir auf „endgültige“ Beweise – oder reduzieren wir heute schon die Angriffsfläche für morgen?
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Verwendete Quellen:
National Academies (NASEM): Assessment of illnesses among U.S. personnel – https://www.nationalacademies.org/news/2020/12/new-report-assesses-illnesses-among-us-government-personnel-and-their-families-at-overseas-embassies
NIH: Severe symptoms but no MRI-detectable brain injury – https://www.nih.gov/news-events/news-releases/nih-studies-find-severe-symptoms-havana-syndrome-no-evidence-mri-detectable-brain-injury-or-biological-abnormalities
ODNI: Updated Assessment of Anomalous Health Incidents (Dec 2024) – https://www.dni.gov/files/ODNI/documents/assessments/NIC-Unclassified-ICA-Updated-Assessment-AHI-December2024.pdf
Belfer Center: Havana Syndrome – American Officials Under Attack – https://www.belfercenter.org/publication/report-havana-syndrome-american-officials-under-attack
Guardian: Microwave weapons that could cause Havana Syndrome exist – https://www.theguardian.com/science/2021/jun/02/microwave-weapons-havana-syndrome-experts
Guardian: US Senate report on CIA mishandling – https://www.theguardian.com/us-news/2024/dec/27/cia-havana-syndrome-report
VOA: Renewed concerns that US adversary behind ‘Havana Syndrome’ – https://www.voanews.com/a/renewed-concerns-that-us-adversary-behind-havana-syndrome-/7890152.html
CBS/60 Minutes: 5-year investigation links GRU Unit 29155 – https://www.cbsnews.com/news/5-year-havana-syndrome-investigation-finds-new-evidence-of-who-might-be-responsible-60-minutes/
The Insider: GRU Unit 29155 and attacks on U.S. officials – https://theins.ru/en/politics/270425
DW: US officials in Germany report symptoms – https://www.dw.com/en/us-officials-in-germany-reportedly-suffer-havana-syndrome-symptoms/a-58899683
The Guardian: Germany probes ‘sonic weapon’ attack in Berlin – https://www.theguardian.com/world/2021/oct/08/germany-havana-syndrome-sonic-weapon-us-embassy-staff
GAO Blog: Americans affected may struggle to get care – https://www.gao.gov/blog/havana-syndrome-americans-affected-mysterious-symptoms-may-struggle-get-care
GAO Report: DOD tasks & timely treatment – https://www.gao.gov/products/gao-24-106593
FPRI: Havana Syndrome – The History Behind the Mystery – https://www.fpri.org/article/2024/04/havana-syndrome-the-history-behind-the-mystery/
RealClearDefense: Take Havana Syndrome Seriously – https://www.realcleardefense.com/articles/2024/06/05/take_havana_syndrome_seriously_1036126.html
Engineering @ UW-Madison: Research points to microwave attack – https://engineering.wisc.edu/news/research-points-to-microwave-attack-as-havana-syndrome-cause/
University of Miami News: Distinctive neurological pattern – https://news.med.miami.edu/new-study-finds-distinctive-neurological-pattern-in-injured-havana-embassy-staff/
PMC: Clinical, biomarker, and research tests among U.S. personnel – https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC10949151/
National Defense Magazine: Directed energy remains key suspect – https://www.nationaldefensemagazine.org/articles/2024/4/4/directed-energy-remains-key-suspect-behind-havana-syndrome
VOA: Intelligence mostly rejects links, with caveats – https://www.voanews.com/a/us-intelligence-mostly-rejects-links-between-havana-syndrome-adversaries/7932763.html
PBS: IC finds no link overall, possibility for subset – https://www.pbs.org/newshour/world/u-s-intelligence-finds-no-link-between-havana-syndrome-and-foreign-power-but-two-spy-agencies-say-possibility-of-foreign-weapon-could-be-responsible-for-injuries
News-Medical: What is Havana Syndrome? – https://www.news-medical.net/health/What-is-Havana-Syndrome.aspx
NDU Press: Directed attack or cricket noise? – https://ndupress.ndu.edu/Media/News/News-Article-View/Article/3262785/havana-syndrome-directed-attack-or-cricket-noise/
National Security Archive: Secrets of the ‘Havana Syndrome’ – https://nsarchive.gwu.edu/briefing-book/cuba/2021-02-10/secrets-havana-syndrome-how-trumps-state-department-cia-mishandled-mysterious-maladies-cuba
Sen. Susan Collins: Supporting ‘Havana Syndrome’ Victims – https://www.collins.senate.gov/newsroom/supporting-havana-syndrome%E2%80%99-victims-american-personnel-who-have-been-injured-directed
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