Die Psychologie sexueller Fantasien: Was unser geheimes Kopfkino über uns verrät
- Benjamin Metzig
- vor 2 Minuten
- 11 Min. Lesezeit

Wir alle haben sie, doch kaum jemand spricht darüber: sexuelle Fantasien. Sie laufen im Hintergrund unseres Bewusstseins wie ein privates Streamingprogramm – jederzeit abrufbar, jederzeit kündbar, und streng personalisiert. Lange wurden sie als Zeichen von Frust, Perversion oder „zu viel Porno“ abgetan. Heute zeigt die Forschung etwas völlig anderes: Fantasien sind kein Defekt, sondern eine Grundfunktion der menschlichen Psyche.
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Sexuelle Fantasien sind, nüchtern definiert, alle Gedanken und inneren Bilder, die wir im Wachzustand bewusst erzeugen und die uns sexuell erregen. Anders als im Traum sind wir hier Regisseurin, Drehbuchautorin und Hauptdarsteller*in in einer Person. Und: Fast alle machen davon Gebrauch. Studien aus den USA, Großbritannien und Kanada zeigen, dass über 97 % der Menschen sexuelle Fantasien haben – quer durch Geschlechter, Altersgruppen und sexuelle Orientierungen. Fantasieren ist also nicht die Ausnahme, sondern die Regel.
Doch wozu das Ganze? Warum investiert unser energiehungriges Gehirn so viele Ressourcen in „ausgedachte“ Szenen, die nie real stattfinden? Und warum fantasieren manche von Dreiern, andere von Fesseln, wieder andere von romantischen Kuschelabenden bei Kerzenschein – und sehr viele von Dingen, die sie im echten Leben niemals tun würden?
Genau darum geht es in diesem Beitrag: um die Psychologie sexueller Fantasien, ihre evolutionären Wurzeln, ihre neurobiologischen Effekte und die große Lücke zwischen Vorstellung und Realität.
Was sind sexuelle Fantasien – und was nicht?
Um das Terrain zu kartieren, lohnt sich zuerst eine klare Begriffsarbeit. Sexuelle Fantasien sind bewusste mentale Szenarien. Sie tauchen oft spontan auf, können aber auch gezielt heraufbeschworen werden – zum Beispiel bei der Masturbation oder in Tagträumen.
Träume dagegen entstehen vor allem in der REM-Schlafphase. Sie sind fragmentiert, surreal, manchmal komplett unlogisch. Im Traum sind wir Passagier; in der Fantasie sitzen wir im Cockpit. Diese Unterscheidung ist wichtig, denn nur in der Fantasie können wir aktiv gestalten, wiederholen, verstärken, abbrechen.
Spannend: In Befragungen berichten rund 93 % der Männer und 86 % der Frauen von nächtlichen Sexualträumen – doch die Quote bewusster Fantasien liegt noch höher. Die Erotik im Kopf scheint also ein nahezu universelles Feature unserer Spezies zu sein.
Kurze Definition
Sexuelle Fantasie = bewusste, erregende Vorstellung im Wachzustand
Sexueller Traum = unbewusster, oft bizarrer Inhalt im Schlaf
Fantasierende Person = aktiv gestaltend
Träumende Person = eher passiv erlebend
Fantasien sind daher weniger ein „Störfaktor“, sondern vielmehr ein internes Simulationsprogramm: Wir können Risiken testen, Grenzen verschieben, Rollen wechseln – ohne reale Konsequenzen.
Die Psychologie sexueller Fantasien: Funktionen im Alltag
Die moderne Forschung sieht Fantasien nicht als Luxusproblem, sondern als psychologisches Multitool. Wer die Psychologie sexueller Fantasien versteht, erkennt schnell, warum sie so hartnäckig und so nützlich sind.
Erregungsbooster und Coolidge-Effekt
Die offensichtlichste Funktion: Fantasien steigern die sexuelle Erregung. Über 90 % der Befragten nutzen Fantasien bewusst bei der Masturbation, viele auch beim Sex mit Partner*innen.
Unser Gehirn gewöhnt sich mit der Zeit an wiederkehrende Reize – selbst der heißeste Körper wird irgendwann vertraut. In der Biologie heißt dieses Phänomen Habituation. Beim Sex zeigt es sich im sogenannten Coolidge-Effekt: Neues ist aufregend, Bekanntes beruhigt.
Da aber ständige Partnerwechsel sozial, emotional und logistisch schwierig sind, bietet die Fantasie eine clevere Lösung:
Sie simuliert Neuheit (neue Personen, Orte, Rollen).
Sie aktiviert die gleichen dopaminergen Belohnungssysteme wie reale Erfahrungen.
Sie frischt Langzeitbeziehungen auf, ohne reale Untreue zu erfordern.
Unser Gehirn reagiert erstaunlich ähnlich, egal ob wir etwas tatsächlich erleben oder nur sehr intensiv vorstellen. Das Kopfkino ist also ein günstiger, risikoarmer Weg, die Biologie auszutricksen.
Angstreduktion und Kontrolle durch Kontrollabgabe
Paradox, aber gut belegt: Viele Fantasien, vor allem submissive oder „passive“ Szenarien, dienen der Stressreduktion. In Studien gaben rund 44 % der Menschen an, Fantasien zu nutzen, um sich zu entspannen oder Angst zu verringern.
Besonders Menschen mit hoher Verantwortung – Manager*innen, Eltern, Führungskräfte – berichten über Fantasien, in denen sie die Kontrolle abgeben oder sogar „gezwungen“ werden. Psychologisch geht es weniger um Gewalt, sondern um Erleichterung:
Keine Entscheidungen treffen müssen
Nicht performen oder funktionieren müssen
Einfach „geschehen lassen“ und fühlen dürfen
Die Fantasie bietet eine temporäre Flucht aus der ständigen Selbstverantwortung. Im Alltag tragen wir die Last des „Ich muss“, in der Fantasie dürfen wir in ein „Es passiert mit mir“ gleiten.
Probehandeln und Zukunftssimulation
Unser Gehirn ist eine Vorhersage-Maschine. Etwa 56 % der Menschen nutzen Fantasien, um kommende Begegnungen mental zu proben:
Wie wäre es, wenn ich diesen Kink ausprobiere?
Wie fühlt es sich an, mit jemand anderem zu schlafen?
Würde mich diese Rolle (dominant, submissiv, experimentell) wirklich anmachen?
Fantasien fungieren dabei wie ein Simulator im Flugschein-Training: Wir können Abstürze riskieren, ohne dass jemand zu Schaden kommt. Gleichzeitig stärkt das mentale Durchspielen häufig das Selbstvertrauen – rund ein Drittel der Befragten berichtet genau diesen Effekt.
Hauptfunktionen sexueller Fantasien
Erregung steigern
Langzeitbeziehungen beleben
Stress und Angst regulieren
Neue Szenarien gefahrlos testen
Selbstbild und Wünsche besser verstehen
Die „großen Sieben“: Was Menschen wirklich fantasieren
Trotz individueller Unterschiede zeigen große Datensätze immer wieder ähnliche Muster. Die meisten sexuellen Fantasien lassen sich in sieben Hauptkategorien clustern, die bei Männern und Frauen erstaunlich stabil auftreten.
1. Multipartner-Sex – die Sehnsucht nach Überfluss
Die häufigste Kategorie sind Szenarien mit mehr als einer Person: Dreier, Gruppensex, Orgien. Nur etwa 5 % der Männer und 13 % der Frauen geben an, nie daran gedacht zu haben.
Heterosexuelle Männer stellen sich meist zwei Frauen vor – aus evolutionärer Sicht maximiert das theoretisch die Reproduktionschancen.
Viele heterosexuelle Frauen fantasieren eher über zwei Männer – jedoch weniger wegen Biologie, sondern wegen der Vorstellung, im Zentrum intensiver Aufmerksamkeit zu stehen.
2. Macht, Kontrolle und BDSM
Was früher als Randphänomen galt, entpuppt sich als Mainstream: Dominanz, Unterwerfung, Fesseln, Spanking – all das taucht bei über 90 % der Menschen zumindest gelegentlich im Kopfkino auf.
Besonders verbreitet (und tabuisiert) sind Fantasien, in denen jemand „zum Sex gezwungen“ wird. Wichtig: In der Fantasie behält die Person eine Art Meta-Kontrolle. Sie steuert Beginn, Intensität und Ende – selbst wenn sie sich innerlich „wehren“ muss. Der Reiz liegt oft in:
Schuldentlastung („Ich konnte ja nichts dafür“)
Bestätigung („Jemand begehrt mich so sehr, dass er alle Kontrolle verliert“)
Damit ist nicht gemeint, dass reale sexuelle Gewalt erotisch wäre – im Gegenteil. Die Fantasie funktioniert nur, weil reale Gefahr nicht besteht.
3. Tabu und Verbotenes
Sex mit Autoritätspersonen, große Altersunterschiede, religiöse oder moralische Brüche: All das fällt in diese Kategorie.
Psychologisch greift hier die Reaktanztheorie: Was verboten oder massiv sanktioniert ist, wird attraktiver, weil unser Bedürfnis nach Autonomie getriggert wird. Spannend: Menschen mit eher konservativen Werten berichten oft von besonders „devianten“ Fantasien – vermutlich, weil strenge Selbstkontrolle im Alltag innerlich einen Gegenzug erzeugt.
4. Nicht-Monogamie und Cuckolding
Dazu zählen Swinger-Szenarien, Partnertausch, Polyamorie – und das spezielle Motiv, dem eigenen Partner beim Sex mit jemand anderem zuzuschauen (Cuckolding).
Biologisch wirkt das paradox. Warum sollte ein Mann erregt sein, wenn seine Partnerin mit einem Rivalen schläft? Die Theorie der Spermienkonkurrenz bietet eine Erklärung: Die Anwesenheit eines Rivalen könnte unbewusst uralte Programme aktivieren, die dafür sorgen sollen, dass „die eigenen“ Spermien sich stärker durchsetzen. Subjektiv wird das als aggressive, intensive Erregung erlebt.
5. Romantik und Leidenschaft
Oft vergessen, weil weniger „skandalös“, aber extrem häufig: Fantasien voller emotionaler Nähe, perfekten Settings, Kerzenschein, langer Blickkontakte. Besonders Menschen mit unsicherem Bindungsstil nutzen solche Fantasien, um das Bedürfnis nach Bestätigung und Geborgenheit zu regulieren. Und ja: Das betrifft ausdrücklich auch viele Männer.
6. Neuheit und Abenteuer
Sex an ungewöhnlichen Orten, die Gefahr, erwischt zu werden, spontane Begegnungen – hier spielt die Excitation Transfer Theory hinein: Körperliche Aufregung (z.B. durch Nervenkitzel) kann sich mit sexueller Erregung vermischen oder diese verstärken.
7. Erotische Flexibilität und Geschlechterrollen
Ein beträchtlicher Teil der Menschen, die sich im Alltag strikt heterosexuell verorten, hat homoerotische Fantasien. Bei Männern geht es dabei oft weniger um Identität, sondern um Vergleich und Wettbewerb („Wer ist potenter?“). Frauen zeigen generell größere sexuelle Fluidität, sowohl in Fantasien als auch im Verhalten.
Die „großen Sieben“ im Überblick
Multipartner-Sex
Macht & Kontrolle (BDSM)
Tabu & Verbotenes
Nicht-Monogamie & Cuckolding
Romantik & Passion
Neuheit & Abenteuer
Geschlechtsflexibilität & Rollentausch
Wenn du dich in der einen oder anderen Kategorie wiederfindest: Willkommen im Club der ganz normalen Menschheit.
Evolutionsbiologie im Kopfkino: Warum Fantasien „Sinn“ machen
Viele Inhalte unserer Fantasien wirken moralisch irritierend, biologisch aber durchaus nachvollziehbar.
Spermienkonkurrenz – wenn Rivalen scharf machen
Studien zeigen, dass Männer nach dem Anblick von Szenen mit „Konkurrenzsituation“ – etwa zwei Männer, eine Frau – Ejakulate mit höherer Spermienkonzentration produzieren als bei exklusiven Szenarien. Die Fantasie von Gangbangs oder Cuckolding könnte ein psychologischer Nebeneffekt dieses Mechanismus sein: Das Gehirn interpretiert Rivalen als Signal, „alle Ressourcen zu mobilisieren“.
Parental Investment – verschiedene Risiken, verschiedene Fantasien
Die Parental Investment Theory erklärt, warum männliche Fantasien häufig stärker auf visuelle Vielfalt und schnelle Verfügbarkeit fokussieren, während weibliche Fantasien oft mehr Kontext und Qualität des Partners betonen.
Männer haben biologisch ein geringeres Mindestinvestment (Spermien sind „billig“), daher lohnt sich aus evolutionärer Perspektive quantitatives Streuen.
Frauen tragen Schwangerschaft und oft frühe Versorgung – Fantasien spiegeln daher eher Sicherheit, Ressourcen, emotionale Zuverlässigkeit oder besondere Genqualität wider, selbst wenn der Inhalt „rough“ oder wild ist.
Damit sind wir weit weg von simplen Klischees wie „Männer sind triebgesteuert, Frauen romantisch“. Vielmehr zeigt sich: Beide Geschlechter fantasieren bunt – aber unter dem Radar bleiben evolutionäre Kosten-Nutzen-Abwägungen aktiv.
Gehirn im Ausnahmezustand: BDSM, Flow und veränderte Bewusstseinszustände
Warum empfinden manche Menschen Schmerz, Fesseln oder Erniedrigung als lustvoll – und finden dabei sogar Ruhe? Neurowissenschaftliche Studien zu BDSM liefern faszinierende Einblicke.
Bei intensiven Szenen, insbesondere auf submissiver Seite, kommt es häufig zu transienter Hypofrontalität: Die Aktivität im präfrontalen Kortex – dem Sitz von Planung, Selbstkontrolle und Zeitwahrnehmung – fährt herunter. Viele berichten, dass sie dabei:
das Zeitgefühl verlieren,
sich „eins mit dem Moment“ fühlen,
innere Selbstkritik und Grübeln für eine Weile verstummt erleben.
Das erinnert stark an den Flow-Zustand, wie man ihn von Extremsport oder Meditation kennt. Das Gehirn schaltet vom Management-Modus in einen reinen Erlebnis-Modus.
Parallel dazu schüttet der Körper Endorphine, Enkephaline und Endocannabinoide aus – körpereigene Opiate und „Cannabis-ähnliche“ Stoffe, die Schmerz dämpfen, Euphoria erzeugen und Angst senken. BDSM ist so gesehen nicht nur ein sexueller Kink, sondern auch eine Art bewusste Bewusstseinsmodulation.
BDSM & Gehirn
Weniger Aktivität im präfrontalen Kortex (= weniger Grübeln)
Mehr Endorphine & Endocannabinoide (= mehr Euphorie & Entspannung)
Subjektiv erlebt als „Subspace“ oder Flow
Für viele eher Bewusstseins- als „Schmerz“-Suche
Wichtig: Das gilt für konsensual praktiziertes BDSM mit klaren Grenzen und Safe Words. Nicht-einvernehmliche Gewalt hat damit nichts zu tun.
Der Fantasy-Behavior-Gap: Warum wir das meiste nie umsetzen
Eines der spannendsten Ergebnisse der Forschung ist die große Kluft zwischen dem, was Menschen sich vorstellen, und dem, was sie tatsächlich tun – der Fantasy-Behavior-Gap.
Rund 79 % der Befragten hätten grundsätzlich Lust, ihre Lieblingsfantasie umzusetzen.
Aber nur etwa 23 % haben das jemals getan.
Beispiele:
Dreier gehören zu den meistgenannten Fantasien, aber nur ca. ein Fünftel der Menschen hat sie tatsächlich erlebt.
BDSM-Fantasien sind fast universell, reale Praktiken dagegen deutlich seltener – und oft „zahmer“ als im Kopf.
Fantasien über erzwungenen Sex sind relativ häufig, reale nicht-konsensuale Szenarien sind bei mental gesunden Menschen ein klares No-Go.
Warum ist das so?
Perfektion vs. Realität
In der Fantasie gibt es keine Körper, die im Weg sind, keine Eifersucht, keine Missverständnisse, kein peinliches Schweigen. Die Realität ist voller Reibung, Grenzen und Chaos. Viele Menschen spüren intuitiv: Die Fantasie ist besser als eine womöglich frustrierende Umsetzung.
Sicherheitsfunktion
Besonders bei gefährlich wirkenden Themen – Gewalt, extreme Tabus – ist der Reiz eng an das sichere „Nur im Kopf“ gebunden. Würde die Situation real, würden Angst und Ekel die Erregung überfahren.
Soziale Kosten
Reputationsverlust, Beziehungsrisiken, berufliche Folgen – all das wirkt hemmend. Es kann unglaublich erotisch sein, sich eine Affäre vorzustellen, ohne das echte Risiko, Familie und Freundeskreis zu zerstören.
Fantasie ≠ Einverständnis
Eine Fantasie von Gewalt heißt nicht, dass man reale Gewalt will.
Eine Fantasie von Untreue heißt nicht, dass man die Beziehung zerstören möchte.
Gesundheit zeigt sich gerade darin, nicht alles auszuleben, was man sich vorstellt.
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Trauma, Variation und Persönlichkeit: Woher kommen „dunkle“ Fantasien?
Die Wissenschaft ist sich nicht völlig einig, wie stark frühe Erfahrungen unsere Fantasien prägen.
Das Trauma-Narrativ
Der britische Psychotherapeut Brett Kahr sieht viele Fantasien – vor allem gewalttätige oder erniedrigende – als potenzielle Folgen früher Verletzungen. Er spricht von „inneren Affären“, in denen die Psyche versucht, alte Konflikte durch kontrollierte Wiederholung zu bearbeiten.
Nach diesem Modell wären Fantasien eine Art Selbsttherapie: Man inszeniert Situationen, in denen man einst ohnmächtig war, nun aber im inneren Theater das Drehbuch bestimmt.
Das Variations-Narrativ
Andere Forscher wie Justin Lehmiller oder Christian Joyal kommen zu einem deutlich entspannteren Bild: In ihren Studien zeigen Menschen mit vielfältigen, zum Teil sehr „kinky“ Fantasien oft keine erhöhte Rate an Traumata, sondern im Schnitt sogar:
weniger Neurotizismus
mehr Offenheit für Erfahrungen
stabilere Bindungsstile
Außerdem scheinen „paraphile“ Interessen so häufig (je nach Definition 50–60 % der Bevölkerung), dass man schwerlich alle pathologisieren kann. Wenn die Mehrheit „abweicht“, ist vielleicht eher die Norm falsch definiert.
Persönlichkeit und Politik
Fantasien spiegeln auch unsere Persönlichkeitsstruktur:
Menschen mit hoher Offenheit haben meist buntere, experimentellere Fantasien.
Hohe Gewissenhaftigkeit korreliert mit gut durchdachten, eher risikoarmen Szenarien.
Erhöhte Werte in den „Dark Triad“-Traits (Narzissmus, Machiavellismus, Psychopathie) können ein Risiko sein, dass jemand tatsächlich nicht-konsensuale Fantasien auslebt – ein wichtiger Punkt in forensischer Psychologie.
Interessant: Politisch konservative Menschen berichten eher von Fantasien mit Hierarchien und Tabubrüchen (Ehebruch, Rassen-Tabus, strenge Dominanz), während liberale Menschen häufiger über Gender-Bending, Rollenwechsel und Gleichberechtigung fantasieren. Unser Kopfkino scheint also eine Art Schattenkommentar zu unseren Werten zu sein.
Von der Couch ins Schlafzimmer: Was bedeutet das für Beziehungen und Therapie?
Die Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte haben auch die psychiatrischen Diagnosemanuale verändert. Im DSM-5 wird klar zwischen paraphilen Interessen und paraphilen Störungen unterschieden:
Ein ungewöhnliches Interesse (z.B. Fetisch, BDSM) ist nicht automatisch krankhaft.
Problematisch wird es erst, wenn es zu eigenem Leidensdruck führt oder andere ohne Einwilligung gefährdet.
Das entstigmatisiert große Teile der BDSM- und Fetisch-Community und schafft Raum für einen entspannteren Umgang mit Fantasien.
Für Beziehungen heißt das:
Kommunikation ist Gold wert. Paare, die offen – und wohlwollend – über ihre Fantasien sprechen, berichten häufiger von höherer sexueller und emotionaler Zufriedenheit.
Man muss Fantasien nicht zwangsläufig umsetzen. Schon das Teilen („Ich stelle mir manchmal X vor“) kann Nähe und Vertrauen stärken.
Fantasien können Hinweise auf emotionale Bedürfnisse sein:
Machtfantasien → Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit
Unterwerfungsfantasien → Wunsch nach Entlastung
Tabufantasien → Drang nach Autonomie
In der Therapie werden Fantasien zunehmend als Ressourcen verstanden, nicht als peinliche Geheimnisse. Sie zeigen, wo Begehren, Angst, Scham und Kreativität liegen – und damit auch, wo Wachstumschancen stecken.
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Fazit: Fantasien als sicherer Experimentierraum
Was bleibt also von der wissenschaftlichen Reise durch unser geheimes Kopfkino?
Fast alle Menschen haben sexuelle Fantasien. Sie sind kein Defekt, sondern eine normale, wertvolle Funktion der Psyche.
Die Psychologie sexueller Fantasien zeigt, dass sie Erregung steigern, Stress regulieren, Neuheit simulieren und uns erlauben, Identität und Grenzen gefahrlos zu testen.
Viele Inhalte – von Dreiern über Cuckolding bis BDSM – haben nachvollziehbare evolutionäre und neurobiologische Grundlagen, auch wenn sie moralisch herausfordernd wirken.
Der Fantasy-Behavior-Gap ist kein Zeichen von Feigheit, sondern von psychischer Gesundheit: Wir können zwischen reizvoller Vorstellung und verantwortlichem Handeln unterscheiden.
Traumata können Fantasien beeinflussen, müssen es aber nicht. Mindestens ebenso wichtig sind Persönlichkeitsmerkmale, Werte und gesellschaftliche Normen.
Moderne Diagnostik und Therapie rücken weg von Stigmatisierung hin zu Akzeptanz und sinnvoller Risikoabwägung.
Kurz gesagt: Unser inneres Erotikarchiv ist viel weniger „krank“ und viel mehr menschlich, als wir lange dachten. Vielleicht ist der wichtigste Schritt, den wir tun können, dieser: weniger Angst vor den Bildern im Kopf zu haben – und mehr Neugier darauf, was sie uns über unsere Bedürfnisse, Verletzlichkeiten und Möglichkeiten erzählen.
Quellen:
Dissenter Podcast mit Justin Lehmiller – https://www.thedissenter.net/podcast/1176-justin-lehmiller-the-science-of-desire-and-the-most-common-sexual-fantasies/
Sexual Health Alliance: Science of Fantasy (Justin Lehmiller) – https://sexualhealthalliance.com/justin-lehmiller-science-of-fantasy
EQG Law: Psychology of Rape Fantasies – https://eqglaw.ca/understanding-the-psychology-of-rape-fantasies/
Maude: The Most Common Sexual Fantasies – https://getmaude.com/blogs/themaudern/the-most-common-sexual-fantasies
Podcast „Intimacy With Ease“ #89 – https://intimacywithease.com/dr-justin-lehmiller-sexual-fantasies/
The Guardian: Psychology of the Threesome – https://www.theguardian.com/lifeandstyle/2020/feb/11/threesomes-men-women-sex-psychology
PubMed: Prevalence of BDSM-Related Fantasies and Activities – https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/28781214/
Psychology Today: 7 Surprising Facts About Our Sexual Fantasies – https://www.psychologytoday.com/us/blog/the-myths-sex/201810/7-surprising-facts-about-our-sexual-fantasies
Queer Majority: Forbidden Fruit – https://www.queermajority.com/essays-all/forbidden-fruit-why-we-want-what-were-told-we-cant-have
Psychology Today: Fantasy Island – https://www.psychologytoday.com/us/blog/standard-deviations/201807/fantasy-island-research-probes-the-science-sexual-desire
COSRT: The Science of Sexual Fantasies – https://www.cosrtlearn.org.uk/wp-content/uploads/2022/04/Sexual-Fantasy-presentation-1.pdf
NIH: Do Men Produce Higher Quality Ejaculates When Primed With Thoughts of Partner Infidelity? – https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC10367497/
Youth Medical Journal: Transient Hypofrontality – https://youthmedicaljournal.com/2022/01/03/transient-hypofrontality/
PubMed: Defining “Normophilic” and “Paraphilic” Sexual Fantasies – https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC4721032/
Brett Kahr: Sex and the Psyche – https://books.google.com/books/about/Sex_and_the_Psyche.html?id=tq4_GgAACAAJ








































































































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