Kriegsverbrechen verstehen: Das Unterscheidungsprinzip im Kriegsrecht als rote Linie der Menschlichkeit
- Benjamin Metzig
- vor 2 Tagen
- 6 Min. Lesezeit

Warum der Krieg Regeln hat – und was daraus folgt
Krieg ist der Moment, in dem Staaten ihre äußersten Mittel einsetzen. Und doch: Selbst im Ausnahmezustand gilt Recht. Das Humanitäre Völkerrecht (HVR) ist kein pazifistisches Wunschkonzert, sondern die nüchterne Einsicht, dass selbst auf dem Schlachtfeld Grenzen nötig sind. Sein Ziel ist nicht, Kriege zu verhindern (das wäre Sache des jus ad bellum), sondern sie zu „humanisieren“ – ein unbequemer, aber essenzieller Begriff. Die Leitfrage lautet: Wie balancieren wir militärische Notwendigkeit gegen Menschlichkeit, ohne in Barbarei abzugleiten?
Wenn aus Regelbruch Kriminalität wird, sprechen wir von Kriegsverbrechen – „schweren Verstößen gegen das HVR“. Nicht jede Verletzung ist automatisch ein Kriegsverbrechen, wohl aber solche, die eine besondere Schwere erreichen. Wichtig ist außerdem der Nexus: Die Tat muss mit einem bewaffneten Konflikt – international oder nicht-international – zusammenhängen. Genau dieser Kontext trennt Kriegsverbrechen von gewöhnlichen Straftaten.
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Das Unterscheidungsprinzip im Kriegsrecht: Richtschnur in der Grauzone
Das Herzstück des HVR ist das Unterscheidungsprinzip im Kriegsrecht. Es verlangt, jederzeit zwischen Kombattanten und Zivilpersonen sowie zwischen militärischen Zielen und zivilen Objekten zu unterscheiden. Nur erstere dürfen angegriffen werden. Klingt banal – ist es nicht. Denn moderne Gefechte sind unübersichtlich: Städte als Schlachtfelder, Kämpfer ohne Uniform, zivile Infrastruktur mit doppelter Nutzung. Gerade hier wird das Prinzip zur roten Linie.
Eng verbunden sind das Verhältnismäßigkeitsprinzip (militärischer Vorteil darf nicht in groteskem Missverhältnis zu zivilem Schaden stehen) und das Vorsorgeprinzip (alle machbaren Schutzmaßnahmen sind zu ergreifen). Zusammen bilden sie die normative „Airbag-Technologie“ des Krieges: Man kann den Unfall nicht immer verhindern, aber die Wucht der Folgen mindern. Wer diese Linie bewusst überschreitet, riskiert die Einstufung als Kriegsverbrecher.
Von Den Haag bis Rom: Die rechtliche Architektur der Kriegsverbrechen
Dass wir heute so präzise über Kriegsverbrechen sprechen können, ist das Ergebnis einer bemerkenswerten Rechtsentwicklung – zwei Ströme, die sich schließlich vereinen.
Die Haager Konventionen (1899/1907) versuchten zuerst, das „Wie“ der Kriegsführung zu zähmen. Sie kodifizierten Gepflogenheiten des Landkriegs, verboten Giftwaffen, Heimtücke und Angriffe auf unverteidigte Städte und formulierten einen Grundsatz, der bis heute trägt: Kriegsparteien haben kein unbeschränktes Recht, Mittel zur Schädigung des Feindes zu wählen. Schwäche dieser Ära: Es fehlten effektive Durchsetzungsmechanismen; Verantwortung blieb bei den Staaten.
Nach dem Zivilisationsbruch des Zweiten Weltkriegs verlagerten die Genfer Abkommen von 1949 den Fokus: weg von den Methoden, hin zu den Opfern. Verwundete an Land und zur See, Kriegsgefangene, Zivilpersonen – alle erhielten detaillierte Schutzansprüche. Das große Novum war das Konzept der „schweren Verletzungen“ (grave breaches). Damit ging eine universelle Pflicht einher, mutmaßliche Täter zu verfolgen oder auszuliefern – ein erster starker Hebel gegen Straflosigkeit.
Mit dem Römischen Statut von 1998 trat schließlich eine moderne Synthese in Kraft. Es gründete den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) und bündelte die Logik von Haager und Genfer Recht. In Artikel 8 listet es die wohl umfassendste Taxonomie von Kriegsverbrechen auf – und, entscheidend, nicht nur für zwischenstaatliche Kriege. Gerade weil heute viele Konflikte intern sind, kriminalisiert das Statut zahlreiche Gräueltaten auch in Bürgerkriegen. Eine Lücke schloss sich.
Was genau ein Kriegsverbrechen ist – eine Taxonomie, die aus Erfahrung lernt
Ein Blick in Artikel 8 zeigt: Das Gesetz hat gelernt. Aus Ruanda, aus dem ehemaligen Jugoslawien, aus zahllosen Schauplätzen, an denen Vergewaltigung systematisch als Waffe genutzt, Kinder zwangsrekrutiert oder Zivilisten als Schutzschilde missbraucht wurden. Drei große Gruppen helfen bei der Orientierung.
Erstens: Schwere Verletzungen der Genfer Abkommen in internationalen Konflikten. Dazu gehören vorsätzliche Tötung geschützter Personen, Folter, medizinische Experimente, großflächige rechtswidrige Zerstörung von Eigentum, Geiselnahme, der Entzug eines fairen Verfahrens oder die Zwangsverpflichtung von Gefangenen in feindliche Armeen. Diese Delikte sind das „rote Alarmlicht“ des Völkerrechts: Wer hier handelt, greift nicht nur einen Menschen an, sondern die Grundarchitektur des Schutzsystems.
Zweitens: Weitere schwere Verstöße gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges. Hier finden wir die meisten Verbote, die unmittelbar an das Unterscheidungsprinzip im Kriegsrecht anknüpfen: vorsätzliche Angriffe auf Zivilpersonen und zivile Objekte, auf kulturelle und religiöse Stätten, auf humanitäres Personal. Verboten sind ebenso Methoden wie Heimtücke, das Aushungern von Zivilisten oder die Nutzung menschlicher Schutzschilde, und Mittel wie Gift, erstickende Gase oder Munition mit überflüssigen Leiden.
Drittens: Kriegsverbrechen in nicht-internationalen Konflikten. Viele der oben genannten Taten sind heute ausdrücklich auch in Bürgerkriegen strafbar: vorsätzliche Angriffe auf Zivilisten, Folter, Geiselnahme, Vergewaltigung, Zwangsrekrutierung von Kindern. Die Botschaft ist klar: Menschlichkeit darf nicht an der Staatsgrenze enden.
Individuelle Verantwortung: Von Nürnberg nach Den Haag
Die vielleicht radikalste Einsicht des modernen Völkerstrafrechts lautet: Nicht Staaten, sondern Menschen stehen vor Gericht. Die Nürnberger Prozesse setzten den Präzedenzfall. Sie etablierten Prinzipien, die heute selbstverständlich wirken und doch revolutionär waren: Amt schützt nicht vor Strafe; „Befehl ist Befehl“ ist keine Allzweck-Ausrede; moralische Wahlmöglichkeiten zählen.
Diese Linie wurde in den 1990er-Jahren durch die Ad-hoc-Tribunale für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda fortgesetzt und schließlich im IStGH verstetigt. Besonders wirkmächtig ist die Befehlsverantwortlichkeit: Vorgesetzte können strafbar sein, wenn sie wussten oder hätten wissen müssen, dass Untergebene Verbrechen begehen, und nicht alles Zumutbare unternommen haben, das zu verhindern oder zu bestrafen. Juristisch ist das ein Unterlassungsdelikt – politisch eine klare Ansage: Führung ist Pflicht, nicht Dekoration.
Warum ist das so wichtig? Weil Massenverbrechen selten spontane Ausreißer sind. Sie entstehen oft in permissiven Organisationskulturen, in denen die Entmenschlichung von Zivilisten toleriert wird. Befehlsverantwortlichkeit setzt genau dort an – bei der Pflicht, Disziplin, Kontrolle und Rechenschaft zu organisieren. Sie zielt auf Systeme, nicht nur auf Täter.
Abgrenzung: Kriegsverbrechen, Menschlichkeitsverbrechen, Völkermord, Aggression
Oft werden die vier „Kernverbrechen“ durcheinandergebracht. Die Trennlinien sind jedoch scharf – und notwendig, um Zuständigkeiten, Beweise und Prävention sinnvoll zu ordnen.
Kriegsverbrechen brauchen den Konfliktnexus. Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht; sie setzen einen ausgedehnten oder systematischen Angriff gegen eine Zivilbevölkerung voraus – also einen Kontext der Politik, nicht der Schlacht. Völkermord ist durch eine einzigartige Absicht geprägt: die Zerstörung einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe als solche, ganz oder teilweise. Und die Aggression? Sie betrifft den illegalen Beginn eines Krieges – die Planung, Einleitung oder Ausführung einer Angriffshandlung. Vereinfacht: Aggression zündet das Feuer, Kriegsverbrechen geschehen, während es brennt.
Durchsetzung: Ein Ökosystem aus Den Haag und nationalen Gerichten
Der Internationale Strafgerichtshof ist das globale Scharnier – aber nicht die Weltpolizei. Sein Leitprinzip heißt Komplementarität: Er springt ein, wenn Staaten nicht willens oder nicht in der Lage sind, ernsthaft zu ermitteln. Fälle kommen durch Staaten, den UN-Sicherheitsrat oder den Ankläger selbst. Grenzen hat der IStGH reichlich: keine eigene Polizei, politische Gegenwinde, wichtige Nicht-Vertragsstaaten. Trotzdem ist sein bloßes Dasein ein Anker – normativ, symbolisch, praktisch.
Die primäre Verantwortung liegt jedoch bei den Staaten. Hier wird das Völkerstrafrecht konkret. Ein starkes Beispiel ist Deutschland mit seinem Völkerstrafgesetzbuch (VStGB). Es verankert das Weltrechtsprinzip: Schwere internationale Verbrechen können verfolgt werden, egal wo sie begangen wurden und welche Staatsangehörigkeit Täter und Opfer haben. So entstanden in Deutschland richtungsweisende Verfahren etwa zu Syrien – unscheinbar im Alltag der Justiz, bedeutend im großen Bild der Rechenschaft.
Dieses System ist weniger Pyramide als Netzwerk – viel Kooperation, manche Reibung. Nationale Verfahren stärken den IStGH, erfolgreiche IStGH-Verfahren befeuern nationale Ambitionen. Und zwischen Ideal und Realpolitik klaffen Lücken. Doch jeder rechtskräftige Schuldspruch gegen einen Folterer oder Befehlshaber ist ein Signal: Die Welt schaut hin – und sie kann handeln.
Ausblick: Krieg ändert sich – das Recht muss folgen
Cyberoperationen, autonome Waffensysteme, bewaffnete Gruppen ohne klaren Befehlskanal – die Kriegsrealität wandelt sich schneller als Paragrafen. Genau deshalb ist die Kombination aus Prinzipien (wie dem Unterscheidungsprinzip im Kriegsrecht), lebendigem Gewohnheitsrecht und fortschreibbaren Verträgen so wertvoll. Das System lernt. Nach und nach wurden sexuelle Gewalt, Aushungern, Kindersoldaten klar kriminalisiert. Der nächste Lernschritt wird sein, digitale und autonome Angriffsmuster rechtssicher einzuhegen – ohne den Kern aus den Augen zu verlieren: den Schutz der Menschenwürde im Ausnahmezustand.
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Menschlichkeit als Mindeststandard
Das HVR ist die verabredete Erinnerung, dass selbst Feinde Menschen sind. Seine Regeln, allen voran das Unterscheidungsprinzip im Kriegsrecht, definieren die rote Linie. Wer sie überschreitet, greift nicht nur einen Gegner an, sondern das Recht selbst – und damit die Aussicht auf Frieden nach dem Krieg. Der Weg von Den Haag über Genf nach Rom zeigt, dass Recht lernfähig ist. Jetzt kommt es darauf an, dass wir es anwenden – entschlossen, fair, vorausschauend.
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Quellen:
Humanitäres Völkerrecht – Häufig gestellte Fragen – ICRC – https://www.icrc.org/de/document/humanitaeres-voelkerrecht-haeufige-fragen-genfer-konventionen
Kriegsverbrechen erklärt – Infoportal östliches Europa – https://osteuropa.lpb-bw.de/kriegsverbrechen
Regeln des Krieges – Bundesministerium der Verteidigung – https://www.bmvg.de/de/themen/friedenssicherung/humanitaeres-voelkerrecht
Haager Landkriegsordnung (HLKO) – MTR Legal – https://www.mtrlegal.com/wiki/haager-landkriegsordnung-hlko/
Kriegsverbrechen – BMJV (Übersicht) – https://www.bmjv.de/DE/themen/voelkerstrafrecht/kriegsverbrechen/kriegsverbrechen_artikel.html
Kriegsverbrechen – BMJV (Themenportal) – https://www.bmjv.de/DE/themen/voelkerstrafrecht/kriegsverbrechen/kriegsverbrechen_node.html
Kriegsverbrechen – Wikipedia – https://de.wikipedia.org/wiki/Kriegsverbrechen
Völkerstrafrecht – Kriegsverbrechen – Lecturio – https://www.lecturio.de/mkt/jura-magazin/volkerstrafrecht-kriegsverbrechen/
Genfer Abkommen – DRK – https://www.drk.de/das-drk/…/genfer-abkommen/
GA IV – Fedlex – https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1951/300_302_297/de
Die Vier Genfer Abkommen – BMLV – https://www.bmlv.gv.at/pdf_pool/publikationen/ms_3_4.pdf
Römisches Statut Art. 8 – RIS – https://www.ris.bka.gv.at/…/Gesetzesnummer=20002156&Artikel=8
Internationaler Strafgerichtshof – Auswärtiges Amt – https://www.auswaertiges-amt.de/de/…/voelkerstrafrecht
Römisches Statut & VStGB – Deutscher Bundestag – https://www.bundestag.de/resource/blob/414974/…/wd-2-161-06-pdf-data.pdf
Internationales Strafrecht – amnesty.ch – https://www.amnesty.ch/de/themen/menschenrechte/internationales-strafrecht
Römer Statut (1998) – Deutsches Institut für Menschenrechte – https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/…/roemisches-statut-1998
Nürnberger Prozesse – bpb – https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/318965/…
Memorium Nürnberger Prozesse – https://www.memorialmuseums.org/memorialmuseum/memorium-nuernberger-prozesse
Oxford Public International Law – Command Responsibility – https://opil.ouplaw.com/…/law-9780199231690-e273
Command responsibility – LII / Cornell – https://www.law.cornell.edu/wex/command_responsibility
ICRC Paper – Command responsibility and failure to act – https://www.icrc.org/sites/default/files/document/file_list/command-responsibility-icrc-eng.pdf
Völkerstrafgesetzbuch (engl. Fassung) – https://www.gesetze-im-internet.de/englisch_vstgb/englisch_vstgb.html
VStGB – Gesetze im Internet – https://www.gesetze-im-internet.de/vstgb/BJNR225410002.html
Genocide Alert – Verbrechen gegen die Menschlichkeit – https://www.genocide-alert.de/verbrechen-gegen-die-menschlichkeit/
Deutschlandfunk – Warum der IStGH unter Druck steht – https://www.deutschlandfunk.de/volkerrecht-internationaler-strafgerichtshof-icc-haftbefehl-sanktionen-100.html
LTO – Nürnbergs Vermächtnis – https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/bmjv-podium-debatte-voelkerstrafrecht-weltrechtsprinzip-nuernberger-prozesse
Bundestag – Sachstand Weltrechtsprinzip – https://www.bundestag.de/resource/blob/823410/…/WD-7-132-20-pdf-data.pdf
BKA – Völkerstrafrecht – https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Deliktsbereiche/Voelkerstrafrecht/voelkerstrafrecht_node.html








































































































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