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Von Sklaverei bis Polizeigewalt: Wie Abolitionismus im 21. Jahrhundert unsere Idee von Sicherheit sprengt

Das Titelbild zeigt den Blick aus einer Gefängniszelle: Im Vordergrund umklammern zwei große Hände graue Gitterstäbe. Durch das Fenster sieht man eine lebendige, grüne Hof- oder Parksituation, in der Menschen unterschiedlicher Herkunft im Kreis sitzen, reden und sich an den Händen halten; im Hintergrund sind Häuser und weitere Gruppen bei gemeinschaftlichen Aktivitäten zu sehen, ein Schild trägt die Aufschrift „Care not Cages“. Über der Szene steht in großen weißen Buchstaben der Text: „Von Sklaverei bis Polizeigewalt – Eine Welt ohne Gefängnisse? Abolitionismus im 21. Jahrhundert.“

Eine Welt ohne Gefängnisse? Abolitionismus im 21. Jahrhundert


Stell dir vor, jemand sagt bei einem Dinner-Gespräch: „Ich bin für Abolitionismus im 21. Jahrhundert.“


Viele nicken, denken an die Abschaffung der Sklaverei – und dann kommt der Nachsatz: „…und deshalb sollten wir auch Gefängnisse und Polizei überwinden.“ Spätestens hier wird es still am Tisch. Eine Welt ohne Gefängnisse – ist das naiv, gefährlich oder vielleicht doch eine radikale Form von Realismus?


Genau diese Fragen stellt der moderne Abolitionismus. Er knüpft an die historischen Kämpfe gegen Sklaverei an, richtet den Blick aber auf heutige Formen von Einsperren, Überwachen und Ausbeuten – vom Gefängnis über Grenzregime bis zu moderner Zwangsarbeit. Und er bleibt nicht bei Kritik stehen, sondern entwickelt konkrete Alternativen wie Transformative Gerechtigkeit und arbeitergeführte Modelle gegen Ausbeutung.


Wenn dich solche tiefen Einordnungen reizen, trag dich gern in meinen monatlichen Newsletter ein – dort vertiefen wir diese Themen, stellen neue Studien vor und schauen, wie sich große Begriffe wie „Gerechtigkeit“ im Alltag anfühlen.


Was bedeutet Abolitionismus im 21. Jahrhundert?


Der Begriff Abolitionismus stammt vom lateinischen abolitio – Abschaffung, Aufhebung, Tilgung. Historisch bezeichnete er die Bewegung zur Beendigung der transatlantischen Sklaverei im 18. und 19. Jahrhundert. Heute ist er polysem, also vieldeutig: Er steht gleichzeitig für die Abschaffung von Sklaverei und für die Abschaffung von Gefängnissen und Polizei – und diese Bedeutungen sind nicht deckungsgleich.


Moderne Gefängnis-Abolitionist*innen verstehen sich explizit nicht als Leute, die einfach nur etwas „wegmachen“ wollen. Die US-Theoretikerin Ruth Wilson Gilmore bringt es auf die Formel: Es gehe um Anwesenheit, nicht Abwesenheit. Also darum, Institutionen aufzubauen, die so viel Sicherheit, Gesundheit und materielle Basis bieten, dass wir Strafe nicht mehr brauchen. Abolitionismus im 21. Jahrhundert ist damit eher ein Gesellschaftsentwurf als eine einzelne Forderung.


Gleichzeitig gibt es einen zweiten, global stark präsenten Strang: Kampagnen gegen „moderne Sklaverei“ und Menschenhandel. Auch sie nennen sich abolitionistisch, setzen aber oft auf genau die Institutionen, die Gefängnis-Abolitionistinnen kritisieren – Polizei, Gerichte, härtere Strafen. Besonders heftig knallt das im Streit um Sexarbeit: Während „neo-abolitionistische“ Feministinnen Prostitution grundsätzlich als Gewalt sehen und auf Kriminalisierung setzen, betonen Sexarbeiterinnen-Organisationen Arbeits- und Migrationsrechte und lehnen diesen „Carceral Feminism“ ab.


Schon hier wird klar: Abolitionismus im 21. Jahrhundert ist kein einheitliches Programm, sondern ein umkämpftes Terrain. Um zu verstehen, worum es geht, lohnt ein Blick zurück.


Von der Plantage zum Gefängnis: eine kurze Genealogie


Die historische Abolitionsbewegung war eine der ersten globalen Menschenrechtsbewegungen. Religiöse Gruppen wie die Quäker in Großbritannien und Nordamerika verurteilten die Sklaverei früh als „notorische Sünde“. Aufklärerische Ideen von natürlichen Rechten und Gleichheit gaben dem Ganzen einen säkularen Unterbau. Doch die Bewegung war keineswegs homogen.


Einige Parlamentarier sahen Sklaverei als moralischen Schandfleck der Nation und wollten sie schrittweise abschaffen – gern mit Entschädigung der Sklavenhalter. Radikale Abolitionistinnen in den USA forderten hingegen sofortige Emanzipation ohne Entschädigung, betrieben Zeitungen, hielten Reden und setzten auf moralische Überzeugung. Schwarze Abolitionistinnen wie Frederick Douglass, Sojourner Truth oder Harriet Tubman kämpften nicht nur gegen Sklaverei, sondern für umfassende Bürgerrechte – und riskierten ihr Leben bei Selbstbefreiung und Fluchthilfe über die Underground Railroad.


Andere wiederum, wie Toussaint Louverture oder John Brown, sahen bewaffneten Widerstand als legitimes Mittel gegen ein gewalttätiges System.


Meilensteine der historischen Abolition


  • Haitianische Revolution (1791–1804): erste erfolgreiche Sklavenrevolution, Gründung der Republik Haiti

  • Britain’s Slave Trade Act (1807) & Slavery Abolition Act (1833): Verbot des Handels, später der Sklaverei im britischen Empire

  • Verfassungszusatz in den USA (1865): formale Abschaffung der Sklaverei – mit folgenschwerer Ausnahme


Gerade die Haitianische Revolution wird im europäischen Gedächtnis oft verdrängt, obwohl sie die geopolitische Ordnung erschütterte. Sie bewies, dass versklavte Menschen sich selbst befreien konnten – gegen die beharrliche Behauptung, sie seien „unmündig“. Die Angst vor weiteren Aufständen zwang die Kolonialmächte, ihre Haltung zur Sklaverei zu überdenken.


In den USA markierte der Bürgerkrieg und der 13. Verfassungszusatz zwar formal das Ende der Sklaverei. Gleichzeitig enthält der Zusatz die berühmte Ausnahme: Sklaverei ist verboten, außer als Strafe für ein Verbrechen. Genau diese Hintertür nutzten die Südstaaten, um das System in veränderter Form zu retten. Mit den „Black Codes“ wurden triviale Vergehen wie Landstreicherei kriminalisiert, um Schwarze Menschen massenhaft zu inhaftieren. Über das System des „Convict Leasing“ vermietete man Gefangene an Plantagen und Minen – faktisch eine Fortsetzung der Zwangsarbeit.


Abolitionistinnen wie Angela Davis argumentieren deshalb, dass Gefängnisse in den USA nicht neutrale Räume „der Gerechtigkeit“ sind, sondern genealogische Erben der Plantagenökonomie: Orte, an denen rassifizierte Gruppen verwaltet, entmündigt und ausgebeutet werden.


Auch im deutschsprachigen Raum gab es Debatten über Sklaverei – etwa in Theaterstücken wie August von Kotzebues „Die Negersklaven“. Doch diese Texte reproduzierten häufig den „weißen Blick“: Schwarze Figuren erscheinen als passive Opfer, während weiße „Retter“ die Handlung vorantreiben. Damit wurde zwar Mitgefühl erzeugt, aber zugleich das Bild der paternalistischen Befreiung verfestigt – eine Perspektive, mit der sich heutiger Abolitionismus kritisch auseinandersetzt.


Der gefängnisindustrielle Komplex und die Grenzen der Reform


Springen wir in die 1970er Jahre. In den USA beginnen die Inhaftierungsraten zu explodieren – Stichwort „Mass Incarceration“. Gleichzeitig entstehen neue abolitionistische Organisationen wie Critical Resistance. Sie analysieren das Strafsystem nicht mehr nur moralisch, sondern strukturell.


Zentral ist der Begriff des Prison Industrial Complex (PIC): ein Geflecht aus Staat, Wirtschaft und politischen Interessen, das Überwachung und Inhaftierung ausweitet – unabhängig von realen Kriminalitätsraten. Gefängnisse werden Standortpolitik: Sie bringen Jobs in strukturschwache Regionen, bieten privaten Sicherheitsfirmen und Gefängniskonzernen Profite und liefern billige Arbeitskräfte. Politisch dienen sie dazu, „unerwünschte“ Bevölkerungsgruppen – Schwarze, indigene, arme, migrantische Menschen – zu kontrollieren und durch Entzug des Wahlrechts zu entmachten.


Hier setzt die zentrale abolitionistische Unterscheidung an: reformistische vs. abolitionistische Reformen.


Typische reformistische Reformen


  • Neubau „moderner“, „humaner“ Gefängnisse

  • Bodycams für Polizei

  • längere Strafen für bestimmte Delikte („Law and Order“)

  • mehr Mittel für Resozialisierungsprogramme innerhalb des bestehenden Systems


Solche Schritte können im Einzelfall Erleichterung bringen – aber sie stabilisieren das System insgesamt. Wenn wir ein Netz enger knüpfen, wird keiner mehr durchfallen, könnte man sagen. Abolitionist*innen argumentieren: Wir sollten eher fragen, warum so viele Menschen überhaupt in dieses Netz geraten.


Abolitionistische (nicht-reformistische) Reformen zielen deshalb darauf, den Radius dieses Netzes zu verkleinern:


  • Moratorien für Gefängnisneubauten

  • Entkriminalisierung von Drogenkonsum, Sexarbeit oder Obdachlosigkeit

  • massive Entlassungen (Decarceration), z.B. für sogenannte Bagatelldelikte

  • Umverteilung von Polizeibudgets in Wohnungsbau, Bildung, Gesundheitsversorgung – die berühmte Forderung „Defund the Police“


Im Hintergrund steht die Diagnose des Racial Capitalism: Kapitalismus funktioniert nicht „farbblind“, sondern baut systematisch auf rassistische Hierarchien. Polizei und Gefängnisse sind in dieser Lesart keine neutralen Schutzorgane, sondern Apparate, die diese Hierarchien absichern und „überflüssige“ Bevölkerungsgruppen verwalten.


An diesem Punkt frage ich mich – und dich: Wenn unser Gefühl von Sicherheit auf Institutionen basiert, die andere systematisch unsicher machen, wie stabil ist dieses Sicherheitsgefühl dann wirklich?


Wenn dich dieser Gedanke beschäftigt, lass dem Text gern ein Like da und schreib in die Kommentare, welche Reformen du für sinnvoll hältst – und wo für dich persönlich die Grenze zur Abschaffung verläuft.


Moderne Sklaverei: wenn unterschiedliche Abolitionismen aufeinandertreffen


Parallel zum pönalen Abolitionismus hat sich ein zweiter großer Diskurs etabliert: der Kampf gegen „moderne Sklaverei“. Nach Schätzungen von Organisationen wie der ILO leben weltweit dutzende Millionen Menschen in Situationen von Zwangsarbeit, Schuldknechtschaft, Zwangsheirat oder Menschenhandel. Oft gibt es kein formales Eigentum wie im 18. Jahrhundert, sondern Kontrolle durch Schulden, Passentzug, Gewaltandrohungen oder das Ausnutzen illegalisierter Migration.


Typische Sektoren sind:


  • Landwirtschaft und Fischerei

  • Textil- und Bauindustrie

  • Hausarbeit und Care-Arbeit

  • bestimmte Formen der Sexarbeit


Viele Kampagnen gegen moderne Sklaverei setzen auf härtere Strafen und engere Kooperation mit Polizei und Grenzbehörden. Hier prallen die beiden Bedeutungen von Abolitionismus direkt aufeinander.


Ein spannendes Gegenbeispiel ist die Coalition of Immokalee Workers (CIW) in Florida. Statt in erster Linie auf Razzien und Strafprozesse zu setzen, hat sie das Fair Food Program entwickelt – ein Modell „worker-driven social responsibility“. Große Abnehmer wie Fast-Food-Ketten verpflichten sich vertraglich, nur noch von Farmen zu kaufen, die bestimmte Arbeitsstandards einhalten: Nulltoleranz bei Zwangsarbeit und sexueller Gewalt, Beschwerdemechanismen, Schulungen für Arbeiter*innen. Verstöße haben direkte Marktfolgen: Die Farmen verlieren ihre Kundschaft.


Die Logik dahinter: Wenn Ausbeutung ökonomisch unattraktiv wird, braucht es weniger spekatuläre Strafprozesse. Macht wird vom Arbeitgeber zum Kollektiv der Arbeiter*innen verschoben – ein abolitionistischer Move ohne neue Strafen.

Ganz anders verläuft die Debatte im Feld der Sexarbeit. Hier stehen sich grob zwei Lager gegenüber:


Konfliktlinien in der Sexarbeits-Debatte


  • Neo-Abolitionismus / Carceral Feminism:

    • Setzt Sexarbeit mit Gewalt gleich

    • Befürwortet das „Nordische Modell“: Kriminalisierung der Kundschaft

    • Kooperiert eng mit Polizei und Migrationsbehörden

  • Sex Worker Rights & pönaler Abolitionismus:

    • Unterscheidet streng zwischen freiwilliger Sexarbeit und Menschenhandel

    • Fordert Entkriminalisierung und Arbeitsrechte

    • Warnt, dass Repression Menschen in gefährlichere Situationen drängt


Hier wird besonders deutlich, wie unterschiedlich „Schutz“ verstanden werden kann. Für das eine Lager bedeutet Schutz: mehr Polizei, mehr Kontrollen, mehr Verbote. Für das andere Lager: weniger Kriminalisierung, dafür mehr Rechte, sichere Arbeitsorte, Aufenthalts- und Sozialrechte.


Transformative Gerechtigkeit: Sicherheit ohne Polizei?


Kritik allein schafft noch keine Sicherheit. Abolitionistische Bewegungen betonen deshalb: Wenn wir Gefängnisse und Polizei zurückdrängen wollen, brauchen wir praktische Alternativen, vor allem bei Gewalt in engen Beziehungen. Genau hier setzt das Konzept der Transformativen Gerechtigkeit (Transformative Justice, TJ) an.


Oft wird TJ mit Restorative Justice (RJ) verwechselt. RJ kennt man etwa als Täter-Opfer-Ausgleich innerhalb strafrechtlicher Verfahren: Die Tat soll „wiedergutgemacht“, der alte Zustand wiederhergestellt werden. Abolitionist*innen kritisieren, dass der „alte Zustand“ häufig bereits von Ungleichheit, Rassismus oder Abhängigkeiten geprägt war. Warum sollten wir dahin zurückwollen?


Transformative Gerechtigkeit setzt deshalb an einem anderen Punkt an:


Grundideen Transformativer Gerechtigkeit


  • Gewalt ist nicht nur individuelles Fehlverhalten, sondern eingebettet in Machtverhältnisse.

  • Ziel ist nicht Bestrafung, sondern Veränderung von Beziehungen und Strukturen.

  • Prozesse finden möglichst außerhalb staatlicher Institutionen statt.

  • Betroffene behalten Kontrolle über Tempo, Beteiligte und Ziele des Prozesses.


Ein zentrales Werkzeug ist Community Accountability – gemeinschaftliche Verantwortungsübernahme. Statt sofort die Polizei zu rufen, organisiert das Umfeld Schutz und Intervention. Das „Creative Interventions Toolkit“, ein umfangreicher Praxisleitfaden, beschreibt typische Phasen:


  1. Getting Clear: Gemeinsam klären, was überhaupt passiert ist. Welche Gefahren bestehen, welche Ressourcen gibt es?

  2. Staying Safe: Sicherheitspläne für die betroffene Person – etwa sichere Schlafplätze, Begleitung auf Wegen, finanzielle Unterstützung.

  3. Mapping Allies and Barriers: Wer kann unterstützen, wer blockiert? Gibt es Personen, die auf die gewaltausübende Person einwirken können?

  4. Taking Accountability: Die schwierigste Phase: Die gewaltausübende Person soll Verantwortung übernehmen – ohne Ausreden, mit konkreten Schritten zur Veränderung (Therapie, Anti-Gewalt-Trainings, Auszug aus der gemeinsamen Wohnung usw.).

  5. Keeping on Track: Langfristige Begleitung, damit Einsicht nicht nach zwei Wochen verpufft.


Solche Prozesse sind emotional belastend, fehleranfällig und nicht „billig“ – sie kosten Zeit und Care-Arbeit. Aber sie zeigen, wie Sicherheit jenseits von Polizei aussehen kann, vor allem für Communities, die mit Polizei eher Gewalt als Schutz verbinden (BIPoC, queere Menschen, Menschen ohne sicheren Aufenthaltsstatus).


Abolitionismus in Deutschland: Kämpfe vor der eigenen Haustür


Oft heißt es: „Das mag für die USA gelten, aber bei uns ist doch alles ganz anders.“ Und ja, das deutsche Strafrecht betont offiziell Resozialisierung, nicht Vergeltung. Gleichzeitig sehen abolitionistische Gruppen auch hier Muster der „Verwaltung von Armut“ und des Rassismus.


Ein Beispiel ist die Ersatzfreiheitsstrafe: Wer Geldstrafen nicht zahlen kann – etwa wegen Schwarzfahrens –, landet im Gefängnis. Das trifft fast ausschließlich arme Menschen und verschärft ihre Lage: Jobverlust, Wohnungsverlust, Schulden. Hier wird Armut kriminalisiert statt bekämpft.


Zugleich dokumentieren Initiativen wie KOP – Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt oder lokale Copwatch-Gruppen Fälle von Racial Profiling, rassistischen Kontrollen und Polizeigewalt – oft in sogenannten Gefahrengebieten. Die „Initiative in Gedenken an Oury Jalloh“ kämpft seit Jahren für Aufklärung des Feuertodes von Oury Jalloh 2005 in einer Dessauer Polizeizelle und macht deutlich, wie schwer es ist, staatliche Gewalt überhaupt vor Gericht zu bringen.


Weitere Akteure sind etwa:


  • Initiative gegen die Todesstrafe e.V.: vernetzt mit internationalen Kampagnen, unterstützt Todeskandidat*innen, macht Bildungsarbeit.

  • Abolish Frontex: richtet den abolitionistischen Blick auf europäische Grenzregime – von Pushbacks im Mittelmeer bis zur hochgerüsteten EU-Grenzagentur.

  • Hydra e.V. und Doña Carmen: Selbst- und Beratungsorganisationen von Sexarbeitenden, die sich gegen Kriminalisierung und stigmatisierende „Schutzgesetze“ wenden.


Im akademischen Feld haben Daniel Loick und Vanessa E. Thompson mit dem Reader „Abolitionismus“ die Debatte nach Deutschland geholt. Sie übertragen die Analyse carceraler Logiken auf europäische Verhältnisse: Lager für Geflüchtete, ausländerrechtliche Inhaftierungen, Zwangsunterbringungen in Psychiatrien, Sanktionen im Sozialstaat. Ihr Argument: Auch ein wohlfahrtsstaatlich geprägter Nationalstaat übt Gewalt aus, wenn es darum geht, Grenzen zu ziehen – zwischen Bürger*innen und „den Anderen“.


Wenn du tiefer in solche Perspektiven einsteigen willst und auch im Alltag mitdiskutieren möchtest, folg gern der Community:



Dort sammeln wir Artikel, Studien, Podcast-Tipps und diskutieren aktuelle Fälle.


Wohin führt uns Abolitionismus im 21. Jahrhundert?


Was bleibt also von diesem vielschichtigen Projekt Abolitionismus im 21. Jahrhundert?


Erstens: Abolitionismus verschiebt den Fokus weg von einzelnen „bösen Tätern“ hin zu Strukturen. Gewalt erscheint nicht mehr als persönlicher Ausrutscher, sondern als Ausdruck von Ungleichheit, Rassismus, Sexismus und Kapitalismus. Das ist unbequem, weil es unser eigenes Eingebundensein sichtbar macht – aber auch befreiend, weil es Handlungsspielräume jenseits von „mehr Strafen“ eröffnet.


Zweitens: Abolitionismus verbindet scheinbar getrennte Schauplätze. Die Ausbeutung auf Tomatenfeldern in Florida, Racial Profiling in Berlin, der Tod eines Geflüchteten in Abschiebehaft, die Kriminalisierung von Sexarbeit in Europa – all das wird durch die Linse einer carceralen Logik sichtbar: einer Logik, die Probleme durch Wegsperren und Überwachen „lösen“ will, statt ihre Ursachen anzupacken.


Drittens: Die Bewegung ringt mit realen Dilemmata. Transformative Gerechtigkeit braucht stabile Beziehungen, Zeit, Ressourcen – alles Dinge, die in neoliberalen Gesellschaften knapp sind. Und der Streit um die richtige Strategie im Feld der Sexarbeit zeigt, dass auch innerhalb emanzipatorischer Bewegungen unterschiedliche Vorstellungen von Freiheit und Schutz existieren.


Trotzdem – oder gerade deshalb – bietet Abolitionismus einen der kohärentesten Versuche, Sicherheit neu zu denken: weg von Strafe, hin zu Fürsorge und materieller Gerechtigkeit. Es geht um die Vision einer „Abolition Democracy“ (Angela Davis): Institutionen abzubauen, die auf Ausschluss und Gewalt beruhen, und gleichzeitig neue zu schaffen, die Bildung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung und würdige Arbeit garantieren.


Vielleicht ist die zentrale Frage deshalb nicht: „Ist eine Welt ohne Gefängnisse realistisch?“, sondern: Wie realistisch ist es, Sicherheit dauerhaft auf Institutionen zu bauen, die selbst so viel Leid produzieren?


Wenn dich dieser Artikel ins Grübeln gebracht hat, freu ich mich, wenn du ihn likest, mit Freund*innen teilst und in den Kommentaren deine Gedanken, Fragen oder Einwände hinterlässt. Abolitionistische Debatten leben davon, dass wir sie gemeinsam führen – kritisch, neugierig und ohne einfache Antworten.


Quellen:


  1. Abolitionismus – Überblick über Geschichte und Gegenwart - https://de.wikipedia.org/wiki/Abolitionismus

  2. American Abolitionism – Überblick zu US-amerikanischen Bewegungen - https://open.upress.virginia.edu

  3. Timeline of abolition of slavery and serfdom – Chronik wichtiger Abschaffungsprozesse - https://en.wikipedia.org/wiki/Timeline_of_abolition_of_slavery_and_serfdom

  4. The African American Odyssey: Abolition, Anti-Slavery Movements, and the Rise of the Sectional Controversy - https://www.loc.gov/exhibits/african-american-odyssey/abolitionist-movement.html

  5. Prison abolition movement in the United States - https://en.wikipedia.org/wiki/Prison_abolition_movement_in_the_United_States

  6. Abolition (Chapter 21), in: Carceral Logics - https://www.cambridge.org

  7. Gefängnis-Abolitionismus als Kritische Kriminalpolitik – Humanistische Union - https://www.humanistische-union.de

  8. Abolitionismus heute. Ein Gespräch über die Kämpfe gegen rassistische Gewalt – Geschichte der Gegenwart - https://geschichtedergegenwart.ch

  9. Was ist Abolitionismus, Herr Loick? – Philosophie Magazin - https://philomag.de

  10. angela-davis-are_prisons_obsolete.pdf – Decolonise Sociology @ Cambridge - https://decolonisesociology.com

  11. What is modern slavery? – Anti-Slavery International - https://www.antislavery.org

  12. Coalition of Immokalee Workers – Überblick und Hintergrund - https://en.wikipedia.org/wiki/Coalition_of_Immokalee_Workers

  13. Lessons from the Coalition of Immokalee Workers for low-wage workers - https://wagingnonviolence.org

  14. Carceral feminism – Begriff und Debatten - https://en.wikipedia.org/wiki/Carceral_feminism

  15. Sex Trafficking: The Abolitionist Fallacy - https://fpif.org

  16. Moving Beyond “Supply and Demand” – GAATW - https://gaatw.org

  17. EU Anti-Trafficking Day: Learn How Sex Workers Help Combat Trafficking! – ESWA - https://eswalliance.org

  18. Transformative Justice: A Brief Description - https://transformharm.org

  19. Creative Interventions Toolkit – Community Accountability - https://creative-interventions.org

  20. abolitionismus.org – Netzwerk abolitionistischer Gruppen - https://abolitionismus.org

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