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Die unsichtbaren Mauern des Wissens: Wo die Grenzen der Forschungsfreiheit verlaufen

Ein roter Hintergrund mit rissiger Textur. Darauf steht in großen, weißen und gelben Buchstaben der Text: ‚DIE THESEN DER „WISSENSCHAFTLICHEN KETZER“‘. Unter dem Text befindet sich die schwarze Silhouette eines Kopfes im Profil, durchgestrichen mit einem roten Verbotsschild.

Stellt euch die Wissenschaft wie einen riesigen, unendlich hell erleuchteten Raum vor. In der Mitte wird geforscht, diskutiert, publiziert – alles strahlt im Licht des Konsenses und der etablierten Methoden. Aber was ist mit den dunklen Ecken dieses Raumes? Was ist mit den Türen, auf denen „Nicht öffnen!“ steht, nicht weil eine Regierung es verbietet, sondern weil wir uns alle stillschweigend darauf geeinigt haben, es nicht zu tun? In diesen dunklen Ecken lauern die wissenschaftlichen Tabus, die „ketzerischen“ Fragen, deren bloße Formulierung schon Unbehagen auslöst.


Willkommen auf einer Entdeckungsreise an die Ränder des Sagbaren, dorthin, wo die fundamentalsten Werte der Wissenschaft aufeinanderprallen: das unbedingte Streben nach Wahrheit gegen die ethische Verantwortung für die Konsequenzen dieser Wahrheit. Wir werden heute gemeinsam untersuchen, was eine Forschungsfrage zu einem Tabu macht, wie dieses Tabu in der Wissenschaftsgemeinschaft durchgesetzt wird und welche historischen Parallelen es dafür gibt. Das ist keine einfache Reise, sie führt uns in komplexe und oft unbequeme Territorien. Aber genau das macht sie so verdammt spannend.


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Die Anatomie des Schweigens: Warum Forscher Angst vor ihren eigenen Kollegen haben


Wenn wir an Zensur in der Wissenschaft denken, haben wir oft das Bild von autoritären Regimen im Kopf, die unliebsame Forscher einsperren. Doch die Realität im 21. Jahrhundert ist subtiler, aber nicht weniger wirkungsvoll. Die mächtigste Form der Zensur ist heute die Selbstzensur, angetrieben von einer unsichtbaren Kraft: dem sozialen Druck innerhalb der akademischen Welt.


Stellt euch vor, ihr seid Professor oder Professorin und habt eine These, die dem Mainstream widerspricht. Es geht nicht darum, dass ihr euch irrt, sondern darum, dass eure These als moralisch oder politisch „falsch“ gilt. Was passiert? Eine bahnbrechende Studie der Psychologieprofessoren Cory J. Clark und Lee Jussim aus dem Jahr 2024 hat genau das untersucht und die Ergebnisse sind, ehrlich gesagt, erschreckend. Sie legten ihren Kollegen zehn potenziell tabuisierte Schlussfolgerungen vor und fanden eine extreme Polarisierung. Für jede einzelne These gab es Wissenschaftler, die zu 100 % von ihrer Wahrheit überzeugt waren, und andere, die mit der gleichen Sicherheit vom Gegenteil ausgingen. Das ist kein normaler wissenschaftlicher Dissens mehr, das ist ein ideologischer Grabenkrieg.


Das wirklich Alarmierende war aber: Diejenigen Professoren, die an die Wahrheit der Tabu-Thesen glaubten, gaben viel häufiger an, sich selbst zu zensieren. Sie schweigen. Und warum? Aus Angst. Angst vor sozialer Ausgrenzung, vor öffentlicher Anprangerung, vor dem Ende ihrer Karriere. Und jetzt haltet euch fest: Selbst verbeamtete Professoren auf Lebenszeit, die eigentlich unkündbar sein sollten, hatten genauso viel Angst und zensierten sich genauso stark wie ihre Kollegen ohne diesen Schutz. Das formale Schutzschild der akademischen Freiheit zerbricht am informellen Druck durch das, was die Studie „feindselige Kollegen“ nennt. Die größte Bedrohung ist nicht die Entlassung durch den Dekan, sondern der soziale Tod durch den Shitstorm der eigenen Peer-Group.


Das Ganze funktioniert wie eine "Spirale des Schweigens":


  1. Einige Forscher haben eine kontroverse, aber empirisch vielleicht plausible Idee.

  2. Sie äußern sie nicht, aus Angst vor negativen Konsequenzen.

  3. Dadurch wird die öffentliche und akademische Debatte von den Gegenstimmen dominiert.

  4. Dieser einseitige Diskurs wird fälschlicherweise als überwältigender wissenschaftlicher Konsens wahrgenommen.

  5. Dieser vermeintliche Konsens erhöht den Druck auf die schweigenden Abweichler, die nun erst recht schweigen.


So kann sich ein wissenschaftliches Paradigma verfestigen, das weniger auf überlegener Faktenlage als auf sozialem Konformitätsdruck und Einschüchterung beruht. Forscher sind eben auch nur Menschen, anfällig für moralisch motivierte Urteile und das Streben nach Status. Es ist karrieretechnisch oft klüger, eine populäre, aber wackelige These zu vertreten, als eine unpopuläre, aber vielleicht zutreffende These zu verteidigen.


Fallstudien aus der Gefahrenzone: Drei Reisen an die Grenzen der Forschungsfreiheit


Genug der Theorie! Schauen wir uns drei konkrete Beispiele an, bei denen die Wissenschaft an die Grenzen des gesellschaftlich und akademisch Akzeptierten stößt. Hier wird der abstrakte Konflikt plötzlich sehr real und sehr emotional.


Fall 1: Das Biest in uns? Die evolutionären Wurzeln der Gewalt


Ist der Mensch von Natur aus gut und wird erst durch die Gesellschaft verdorben? Oder schlummert in uns ein evolutionäres Erbe der Gewalt, das nur durch Kultur und Zivilisation im Zaum gehalten wird? Diese Frage ist der Zündstoff für einen der fundamentalsten Konflikte in den Humanwissenschaften.


Die „ketzerische“ These der Evolutionspsychologie:

Forscher wie David Buss argumentieren, dass Gewalt und Aggression keine bloßen Fehlfunktionen oder Pathologien sind. Sie sind, so unangenehm das klingen mag, natürliche und entwickelte Aspekte der menschlichen Natur. Psychologische Mechanismen für Aggression, so die These, waren in der Welt unserer Vorfahren überlebenswichtige Werkzeuge: um Ressourcen zu erlangen, sich gegen Feinde zu verteidigen, den eigenen Status zu sichern oder die Untreue des Partners zu verhindern. Als Beweise dienen archäologische Funde, die zeigen, dass unsere Vorfahren alles andere als friedlich waren, oder die extrem hohen Mordraten in heute noch existierenden Jäger-und-Sammler-Gesellschaften. In Völkern wie den Yanomamö sterben bis zu 25 % der Männer eines gewaltsamen Todes.


Der massive Widerstand:

Diese Sichtweise provoziert heftigsten Widerspruch. Der Kognitionswissenschaftler Steven Pinker hält mit seinem monumentalen Werk „The Better Angels of Our Nature“ dagegen. Seine These, untermauert mit einer schier erdrückenden Datenmenge: Die Gewalt in der Menschheitsgeschichte ist dramatisch zurückgegangen. Und zwar nicht, weil sich unsere Biologie geändert hat, sondern weil unsere Kultur sich entwickelt hat. Die Erfindung des Staates mit seinem Gewaltmonopol, der Aufstieg des Handels (ein lebender Handelspartner ist mehr wert als ein toter Feind) und die Verbreitung von Vernunft und Bildung haben uns friedlicher gemacht. Pinker zeigt, dass Gräueltaten wie der An-Lushan-Aufstand im China des 8. Jahrhunderts prozentual zur damaligen Weltbevölkerung weitaus tödlicher waren als beide Weltkriege zusammen.


Die tiefere Kritik kommt aber aus der Soziologie und Philosophie. Der Vorwurf lautet: genetischer Determinismus. Die evolutionäre Psychologie, so die Kritiker, reduziere den Menschen auf fest verdrahtete Instinkte und ignoriere die unglaubliche Formbarkeit durch Kultur und Lernen. Die Soziologin Hilary Rose warnt, dass die Idee einer angeborenen „männlichen Natur“ der Gewalt historisch immer wieder missbraucht wurde, um Diskriminierung und Patriarchat zu rechtfertigen.


Hier lauert die Angst vor dem naturalistischen Fehlschluss: der unzulässige Sprung vom Sein („So hat es sich entwickelt“) zum Sollen („Deshalb ist es okay oder unveränderlich“). Obwohl die meisten Evolutionspsychologen diesen Fehlschluss explizit ablehnen, hat die schreckliche Geschichte von pseudowissenschaftlichen Theorien wie der „Rassenhygiene“ der Nazis ein tiefes und historisch begründetes Misstrauen gegenüber allen biologischen Erklärungen für soziales Verhalten hinterlassen.


Der Kern des Tabus liegt also hier: Die These von den evolutionären Wurzeln der Gewalt wird als politisch gefährlich empfunden, weil sie die Hoffnung auf sozialen Fortschritt und menschliche Gestaltungsfähigkeit zu untergraben scheint.


Fall 2: Eine ansteckende Identität? Die Kontroverse um „Rapid-Onset Gender Dysphoria“


Kaum eine wissenschaftliche Debatte der letzten Jahre wurde mit solcher Härte und Emotionalität geführt wie die um die sogenannte „Rapid-Onset Gender Dysphoria“ (ROGD). Sie ist das perfekte Beispiel für eine Kollision von Wissenschaft, Identitätspolitik, elterlichen Ängsten und den Grundfesten medizinischer Ethik.


Die These, die den Sturm auslöste:

Im Jahr 2018 prägte die Forscherin Lisa Littman diesen Begriff. Sie beschrieb damit ein vermeintlich neues Phänomen: Jugendliche, meist biologische Mädchen, entwickeln in der Pubertät plötzlich und ohne Vorgeschichte eine Geschlechtsdysphorie (das Leiden am eigenen biologischen Geschlecht). Dies geschehe auffällig oft in Freundeskreisen, in denen sich bereits andere als transgender geoutet hatten. Littmans Hypothese: Könnte es sich hier um eine Form von sozialer Ansteckung handeln, die durch Peer-Gruppen und soziale Medien wie TikTok oder YouTube befeuert wird? Die Sorge dahinter war, dass verletzliche Jugendliche mit zugrunde liegenden psychischen Problemen durch diesen sozialen Trend zu schnell in eine medizinische Transition gedrängt werden könnten, die irreversible Folgen hat.


Die überwältigende wissenschaftliche Kritik:

Die Reaktion aus der Wissenschafts- und LGBTQ+-Community war vernichtend. Die ROGD-Hypothese wird heute von allen großen medizinischen Fachgesellschaften weltweit abgelehnt. Die Gründe sind vielfältig:


  • Gravierende methodische Fehler: Littmans Studie basierte ausschließlich auf den Berichten von Eltern, die sie auf Webseiten rekrutiert hatte, die der Transition von Jugendlichen bereits extrem kritisch gegenüberstanden. Die betroffenen Jugendlichen selbst wurden nie befragt. Das ist, als würde man eine Studie über die Qualität von veganem Essen nur mit Befragungen von Metzgern durchführen. Die Stichprobe war massiv verzerrt.

  • Pathologisierende Sprache: Der Begriff „soziale Ansteckung“ rahmt Trans-Identität als eine Art Krankheit, die man sich einfangen kann. Das widerspricht dem modernen medizinischen Verständnis, das Geschlechtsinkongruenz bewusst entpathologisiert hat. Kritiker wie die Bioethikerin Florence Ashley nannten ROGD eine „politisierte pseudo-diagnostische Kategorie“, die geschaffen wurde, um trans Jugendlichen die Legitimität abzusprechen.

  • Plausiblere alternative Erklärungen: Der Anstieg der Zahlen von Jugendlichen, die sich als trans identifizieren, hat wahrscheinlich eine viel einfachere Erklärung: gestiegene gesellschaftliche Akzeptanz. Es ist heute für Jugendliche schlicht und ergreifend sicherer, sich zu outen, als es noch vor 20 Jahren der Fall war. Was für Eltern wie ein „plötzliches“ Auftreten wirkt, ist für den Jugendlichen oft das Ende eines langen, schmerzvollen inneren Prozesses, über den er oder sie aus Angst nie gesprochen hat.


Das Tabu in diesem Fall entsteht, weil die ROGD-Hypothese das Fundament des modernen, affirmativen Versorgungsmodells angreift. Dieses Modell basiert auf dem Respekt vor der Selbstidentifikation einer Person. ROGD sät gezielt Zweifel an der Authentizität dieser Identität und wird daher nicht nur als wissenschaftliche Hypothese, sondern als politischer Angriff auf die Existenzberechtigung von Trans-Personen wahrgenommen.


Fall 3: Der vermessene Geist? Das Zombie-Argument von „Rasse“ und Intelligenz


Wir betreten nun das wohl am tiefsten verminte und tabuisierte Feld der Wissenschaft: die Frage nach genetisch bedingten Intelligenzunterschieden zwischen menschlichen Populationen. Diese Debatte ist ein Paradebeispiel für ein „Zombie-Argument“ – eine These, die wissenschaftlich längst tot ist, aber politisch immer wieder zum Leben erweckt wird.


Die These, die immer wiederkehrt:

Prominent vertreten im Buch „The Bell Curve“ von Herrnstein und Murray, lautet die Behauptung im Kern: Intelligenz, messbar durch IQ-Tests, ist stark erblich. Daher seien die beobachteten Unterschiede in den durchschnittlichen IQ-Werten zwischen ethnischen Gruppen (z. B. zwischen weißen und schwarzen Amerikanern) zumindest teilweise genetisch bedingt.


Die umfassende wissenschaftliche Widerlegung:

Diese These wird vom wissenschaftlichen Mainstream aus mehreren, fundamentalen Gründen zurückgewiesen:


  1. „Rasse“ ist ein soziales Konstrukt, keine biologische Realität: Das ist der entscheidende Punkt. Die moderne Genetik hat zweifelsfrei gezeigt, dass es keine klar abgrenzbaren menschlichen „Rassen“ gibt. Die genetische Vielfalt innerhalb jeder sogenannten Rassengruppe ist um ein Vielfaches größer als die durchschnittliche genetische Differenz zwischen diesen Gruppen. Führende Organisationen wie die American Psychological Association (APA) haben offiziell erklärt, dass „Rasse“ ein soziales Konstrukt ohne biologische Basis ist. Der Versuch, ein soziales Etikett mit einem biologischen Merkmal zu verknüpfen, ist von vornherein ein logischer Fehler.

  2. Intelligenz ist extrem komplex: Es gibt nicht „das Intelligenz-Gen“. Intelligenz ist ein hochgradig polygenes Merkmal, das von Tausenden von Genen beeinflusst wird, die jeweils nur einen winzigen Beitrag leisten. Die Idee, dass sich einige wenige „IQ-Gene“ zufällig in einer Population angehäuft haben könnten, um IQ-Unterschiede zu erklären, ist eine krasse und wissenschaftlich widerlegte Vereinfachung.

  3. Die überwältigende Macht der Umwelt: Selbst wenn Intelligenz eine hohe Erblichkeit hat, sagt das nichts über Gruppenunterschiede aus. Erblichkeit beschreibt nur den Anteil der Varianz in einer bestimmten Population zu einer bestimmten Zeit. Ein Kind, das in Armut, mit schlechter Ernährung und in einem von Gewalt geprägten Umfeld aufwächst, kann sein genetisches Potenzial niemals entfalten. Ein genialer Fakt, der aus den Daten von „The Bell Curve“ selbst extrahiert wurde, widerlegt die These am besten: Afroamerikaner mit dem gleichen IQ verdienten im Durchschnitt mehr als weiße Amerikaner mit demselben IQ. Das zeigt, dass nicht eine angebliche genetische Benachteiligung für Einkommensunterschiede verantwortlich war, sondern die Tatsache, dass Afroamerikaner durch massive umweltbedingte Nachteile seltener die Chance hatten, hohe IQ-Werte zu erreichen.


Warum also kehrt diese Debatte immer wieder? Weil sie politisch nützlich ist. Die Schlussfolgerung von „The Bell Curve“ war nicht primär wissenschaftlich, sondern politisch: Wenn Intelligenzunterschiede genetisch und unveränderbar sind, dann sind teure sozialpolitische Programme zur Förderung von Chancengleichheit sinnlos. Das Tabu, das diese Forschung umgibt, ist daher ein gesunder gesellschaftlicher Abwehrmechanismus gegen eine Ideologie, die soziale Ungleichheit als naturgegeben verkauft und damit den Status quo zementieren will.


Puh, das waren drei schwere Brocken. Jeder für sich zeigt, wie schnell Forschung zu einem Minenfeld werden kann. Was sind eure Gedanken dazu? Muss die Wissenschaft den Mut haben, auch solche potenziell gefährlichen Fragen zu stellen, oder gibt es Themen, die besser unberührt bleiben sollten? Lasst uns darüber in den Kommentaren diskutieren und vergesst nicht, den Beitrag zu liken, wenn er euch zum Nachdenken angeregt hat!


Die formalen Grenzen der Forschungsfreiheit: Recht und Verantwortung


Neben dem informellen sozialen Druck gibt es natürlich auch einen formalen Rahmen, der die Wissenschaft reguliert: Gesetze und Ethikkodizes.


Im deutschen Grundgesetz ist die Wissenschaftsfreiheit in Artikel 5, Absatz 3, als hohes Gut verankert: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ Das ist primär ein Abwehrrecht gegen den Staat. Der Staat soll der Wissenschaft nicht vorschreiben, was sie zu erforschen hat. Doch die Realität sieht oft anders aus. Die sogenannte „Fördergeld-Affäre“ um Bundesforschungsministerin Stark-Watzinger, bei der geprüft wurde, ob man kritischen Forschern Gelder entziehen könnte, zeigt, wie fragil diese Freiheit sein kann. Politischer Einfluss und die Abhängigkeit von Fördergeldern, die oft nur für risikoarme Mainstream-Themen vergeben werden, schaffen subtile, aber wirksame Grenzen der Forschungsfreiheit. Die Freiheit existiert auf dem Papier, wird aber in der Praxis durch finanzielle und politische Zwänge eingeschränkt.


Noch wichtiger ist die ethische Dimension. Die Forschungsfreiheit ist nicht absolut. Sie endet dort, wo sie andere Grundrechte wie die Menschenwürde oder das Recht auf Leben berührt. Ein zentrales Dilemma ist die „Dual-Use-Problematik“: Forschung, die mit guter Absicht betrieben wird, aber für schreckliche Zwecke missbraucht werden kann. Wenn ein Virologe einen Grippevirus im Labor ansteckender macht, um Impfstoffe zu testen, könnten diese Informationen auch von Terroristen genutzt werden, um eine Biowaffe zu bauen. Hier trägt der einzelne Forscher eine immense Verantwortung. Institutionen wie der Deutsche Ethikrat oder die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fordern daher eine starke Selbstregulierung der Wissenschaft durch Ethikkommissionen, denn kein Gesetz kann jeden Einzelfall vorhersehen.


Vom Scheiterhaufen zum Shitstorm: Was wir von historischen Ketzern lernen können


Die heutigen wissenschaftlichen Kontroversen sind kein neues Phänomen. Sie folgen einem zeitlosen Muster. Schauen wir uns zwei historische „Ketzer“ an:


  • Ignaz Semmelweis: Im 19. Jahrhundert entdeckte er, dass Ärzte, die sich die Hände mit Chlorkalk wuschen, die Übertragung von Kindbettfieber drastisch reduzierten. Seine Kollegen verspotteten und ignorierten ihn. Warum? Seine Beobachtung widersprach der gängigen Lehre von schlechten Körpersäften, und die Aufforderung zum Händewaschen war eine Beleidigung – als wären sie unsauber! Er konnte den Mechanismus (Bakterien) noch nicht erklären und starb isoliert und verbittert. Heute ist Händewaschen medizinischer Standard.

  • Alfred Wegener: Anfang des 20. Jahrhunderts schlug er die Theorie der Kontinentalverschiebung vor. Die Geologen-Zunft lehnte ihn vehement ab. Er war ein Außenseiter (Meteorologe!), seine Idee widersprach dem Dogma der statischen Kontinente, und er konnte keinen Mechanismus für die Bewegung nennen. Jahrzehnte später wurde die Plattentektonik zur Grundlage der modernen Geologie.


Seht ihr das Muster? Der Angriff auf die Person, die Forderung nach einem perfekten Mechanismus, die Verteidigung des alten Paradigmas, die soziale Ausgrenzung. Der entscheidende Unterschied ist die Form der Strafe. Giordano Bruno und Galileo Galilei wurden von der Inquisition verfolgt, die mit Scheiterhaufen und Hausarrest drohte. Der moderne Ketzer wird nicht mehr verbrannt, sondern durchlebt einen digitalen „Shitstorm“, der seine Karriere und seinen Ruf vernichten kann. Die Unterdrückung kommt nicht mehr von einer zentralen Instanz, sondern von einem dezentralen Mob. Der Kampf um die Freiheit des Denkens hat sich verlagert.


Mut zur Kontroverse für eine lebendige Wissenschaft


Wissenschaftliche Tabus wird es immer geben, weil Wissenschaft von Menschen gemacht wird. Eine gesunde Wissenschaftskultur ist daher nicht eine, die keine Tabus hat, sondern eine, die den Mut besitzt, ihre eigenen Tabus zu hinterfragen. Sie muss unterscheiden können zwischen legitimen ethischen Bedenken und dogmatischem Festhalten an alten Gewissheiten.


Dafür braucht es „institutionellen Mut“ von Universitäten, die ihre Forscher schützen. Es braucht Förderprogramme, die gezielt riskante und unkonventionelle Ideen finanzieren. Und es braucht uns alle – eine Öffentlichkeit, die bereit ist, komplexe Debatten auszuhalten, ohne sofort in Schützengräben zu verschwinden.


Die „Ketzer“ von heute können im Unrecht sein. Oder sie sind die Pioniere, deren Ideen die Paradigmen von morgen prägen werden. Eine Wissenschaft, die es nicht mehr wagt, das im offenen, harten, aber fairen Diskurs herauszufinden, verrät ihr eigenes Erbe und riskiert das Wertvollste, was sie hat: ihre Fähigkeit zur Selbstkorrektur und ihre unermüdliche Suche nach Wahrheit.


Wenn du bis hierhin gelesen hast, bist du offensichtlich jemand, der sich nicht mit einfachen Antworten zufriedengibt. Genau solche Leute wie dich brauchen wir in unserer Community! Folge uns für mehr solcher Deep Dives und tägliche Wissenschafts-Häppchen auf unseren Kanälen. Lass uns gemeinsam neugierig bleiben!




Verwendete Quellen:


  1. (PDF) Taboos and Self-Censorship Among U.S. Psychology ... - https://www.researchgate.net/publication/380636163_Taboos_and_Self-Censorship_Among_US_Psychology_Professors

  2. (PDF) Replicability and the Psychology of Science - ResearchGate - https://www.researchgate.net/publication/347993627_Replicability_and_the_Psychology_of_Science

  3. Replicability and the psychology of science. - Sites@Rutgers - https://sites.rutgers.edu/lee-jussim/wp-content/uploads/sites/135/2021/02/Replicability-and-the-Psychology-of-Science_1.21.20.docx

  4. (PDF) The Evolutionary Psychology of Violence - ResearchGate - https://www.researchgate.net/publication/41138736_The_Evolutionary_Psychology_of_Violence

  5. The evolutionary psychology of violence - Psicothema - https://www.psicothema.com/pdf/3690.pdf

  6. The Better Angels of Our Nature - Wikipedia - https://en.wikipedia.org/wiki/The_Better_Angels_of_Our_Nature

  7. Ranking Historic Atrocities: Pinker's “Better Angels.” | Andrew Holt, Ph.D. - https://apholt.com/2016/10/19/ranking-historic-atrocities-pinkers-better-angels/

  8. Evolutionspsychologische Ansätze - TU Dresden - https://tu-dresden.de/mn/psychologie/allgpsy/ressourcen/dateien/lehre/lehreveranstaltungen/goschke_lehre/ws_2013/vl_motivation/VL2-Evolutionspsychologie.pdf

  9. Hilary Rose - Die Evolutionäre Psychologie, der Sozialdarwinismus ... - https://www.kritische-psychologie.de/files/FKP_45_Hilary_Rose.pdf

  10. Dossi_er Geschlechtsdysphorie im Jugendalter – EGGö, Jänner 2024 - https://www.eggoe.at/wp-content/uploads/2024/01/ROGD-Dossier-V1.pdf

  11. Rapid-onset gender dysphoria controversy - Wikipedia - https://en.wikipedia.org/wiki/Rapid-onset_gender_dysphoria_controversy

  12. Sturm und Drang im Würgegriff der Medien – Die Leiden der jungen ... - https://econtent.hogrefe.com/doi/10.1024/1422-4917/a000944

  13. Formal comment on: Parent reports of adolescents and young adults perceived to show signs of a rapid onset of gender dysphoria | PLOS One - https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0212578

  14. Rapid onset gender dysphoria: What to know - Medical News Today - https://www.medicalnewstoday.com/articles/what-is-rapid-onset-gender-dysphoria

  15. A critical commentary on 'rapid-onset gender dysphoria' - Florence Ashley - https://www.florenceashley.com/uploads/1/2/4/4/124439164/ashley_a_critical_commentary_on_rapid-onset_gender_dysphoria.pdf

  16. IQ-Gene: Welche Erbanlagen prägen unsere Intelligenz? - Spektrum der Wissenschaft - https://www.spektrum.de/magazin/iq-gene-welche-erbanlagen-praegen-unsere-intelligenz/1321865

  17. Warum Haut- und Haarfarbe nichts mit genetisch bedingten ... - https://ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/ifv/professur-lehr-und-lernforschung/publikationen-stern/ab-2005/Buchkapitel/Warum_Haut-_und_Haarfarbe_nichts_mit_genetisch_bedingten_Intelligenzunterschieden_zu_tun_haben.pdf

  18. The Bell Curve - Wikipedia - https://de.wikipedia.org/wiki/The_Bell_Curve

  19. Hintergrund - Das deutsche Grundgeset schützt die Freiheit von ... - https://www.laborjournal.de/rubric/hintergrund/hg/hg_24_09_02.php

  20. Wissenschaftsfreiheit in Deutschland: Gibt es Einschränkungen? - Deutschlandfunk - https://www.deutschlandfunk.de/wissenschaftsfreiheit-deutschland-forscher-einschraenkungen-100.html

  21. Wissenschaftsfreiheit und Wissenschaftsverantwortung Empfehlungen zum Umgang mit sicherheitsrelevanter Forschung Scientific Fr - DFG - https://www.dfg.de/resource/blob/171426/75c485cb9b50d8d40d3c8588a7addb24/dfg-leopoldina-forschungsrisiken-de-en-data.pdf

  22. Schranken der Forschungsfreiheit und staatliche Schutzpflichten - https://www.ethikrat.org/fileadmin/PDF-Dateien/Veranstaltungen/anhoerung-25-04-2013-wuertenberger.pdf

  23. Deutscher Ethikrat - Biosicherheit – Freiheit und Verantwortung in der Wissenschaft - https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-biosicherheit.pdf

  24. Ignaz Semmelweis - Wikipedia - https://en.wikipedia.org/wiki/Ignaz_Semmelweis

  25. Alfred Wegener | EBSCO Research Starters - https://www.ebsco.com/research-starters/history/alfred-wegener

  26. Giordano Bruno - Wikipedia - https://de.wikipedia.org/wiki/Giordano_Bruno

  27. Terra X über Galileo Galilei: Vom Wissenschaftler zum Ketzer - Prisma - https://www.prisma.de/news/tv/Terra-X-ueber-Galileo-Galilei-Vom-Wissenschaftler-zum-Ketzer,31043763

  28. 75 Jahre Grundgesetz: "Eine Errungenschaft für freie Wissenschaft" - Forschung & Lehre - https://www.forschung-und-lehre.de/zeitfragen/eine-errungenschaft-fuer-freie-wissenschaft-6424

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