Die stille Epidemie: Warum wir über Suizid sprechen müssen, um Leben zu retten.
- Benjamin Metzig
- 19. Juli
- 5 Min. Lesezeit

Manche Themen wiegen schwer. Sie sind wie ein Rucksack voller Steine, den wir als Gesellschaft lieber nicht öffnen, weil wir fürchten, was wir darin finden. Suizidalität ist einer dieser Steine. Aber ich bin davon überzeugt, dass wir gerade die schwersten Themen ans Licht zerren müssen, um sie leichter machen zu können. Denn was passiert, wenn wir schweigen, ist unerträglich. Im Jahr 2023 haben sich in Deutschland 10.304 Menschen das Leben genommen. Das ist keine abstrakte Statistik. Das sind 10.304 Väter, Mütter, Söhne, Töchter, Freunde und Kollegen. Das ist, als würde jedes Jahr eine deutsche Kleinstadt von der Landkarte verschwinden. Diese Zahl ist mehr als dreimal so hoch wie die der Verkehrstoten und übersteigt sogar die Summe aller Todesfälle durch Verkehrsunfälle, Mord, illegale Drogen und AIDS zusammen. Ein Fakt, der mich jedes Mal wieder fassungslos macht und eine drängende Frage aufwirft: Warum ist diese stille Epidemie nicht ganz oben auf unserer gesellschaftlichen Agenda?
Es ist eine Geschichte voller Paradoxe. Wenn wir auf die letzten Jahrzehnte zurückblicken, sehen wir zunächst einen riesigen Erfolg für die öffentliche Gesundheit. Seit dem traurigen Höhepunkt in den frühen 80er Jahren mit über 18.000 Suiziden pro Jahr sind die Zahlen lange Zeit massiv gesunken. Bessere Therapien für Depressionen, eine modernere Psychiatrie – die Fortschritte waren real und haben unzählige Leben gerettet. Doch seit einigen Jahren stagnieren wir nicht nur, die Zahlen steigen wieder an. Es ist, als hätten wir ein Plateau erreicht und wüssten nicht, wie der weitere Aufstieg gelingen soll. Wenn dich solche tiefgründigen Einblicke fesseln und du keine unserer Entdeckungsreisen verpassen möchtest, ist unser monatlicher Newsletter (du findest das Formular oben auf der Seite) genau das Richtige für dich. Er ist deine Dosis Faszination direkt ins Postfach.
Wer sind die Menschen hinter diesen Zahlen? Wenn wir genauer hinsehen, werden Muster sichtbar, die uns zutiefst beunruhigen sollten. Das vielleicht schockierendste ist das "Geschlechter-Paradox":
Drei von vier Menschen, die durch Suizid sterben, sind Männer. Dieses Verhältnis von 3:1 ist seit Jahrzehnten zementiert.
Schlimmer noch: Während die Gesamtzahlen sanken, ist der Anteil der Männer sogar noch gestiegen. Das bedeutet, dass die bisherigen Präventionsstrategien Frauen offenbar viel besser erreicht haben.
Warum? Männer suchen seltener Hilfe. Das Bild des "starken Mannes", der keine Schwäche zeigt und Probleme mit sich selbst ausmacht, ist buchstäblich tödlich. Sie greifen zudem zu letaleren Methoden, was die Chance auf Rettung nach einem Versuch drastisch senkt. Das ist kein Vorwurf, sondern ein tragischer Hilferuf, den wir als Gesellschaft endlich hören müssen. Es braucht dringend Ansätze, die Männer dort abholen, wo sie sind – am Arbeitsplatz, im Verein, in ihrer Lebenswelt – und das Stigma brechen, das auf psychischer Belastung liegt.
Gleichzeitig offenbart ein Blick auf das Alter eine weitere Tragödie an den beiden Polen des Lebens. Suizid ist die häufigste Todesursache bei jungen Menschen unter 25 Jahren. Häufiger als Unfälle, häufiger als Krebs. Jeder fünfte Todesfall in dieser Altersgruppe ist ein Suizid. Es ist ein unfassbares Versäumnis, dass wir es nicht schaffen, diese jungen Menschen, die ihr ganzes Leben noch vor sich haben, besser zu schützen. Am anderen Ende der Lebensspanne sehen wir die höchsten Suizidraten bei Männern über 80. Vereinsamung, der Verlust von Autonomie, chronische Schmerzen und das Gefühl, zur Last zu fallen, bilden hier einen toxischen Cocktail der Verzweiflung.
Doch inmitten dieser Dunkelheit gibt es Licht. Und dieses Licht wird heller, je mehr wir darüber sprechen. Die Forschung kennt nicht nur den "Werther-Effekt", bei dem eine reißerische Berichterstattung Nachahmer provozieren kann, sondern auch den "Papageno-Effekt". Benannt nach der Figur aus Mozarts "Zauberflöte", die ihre Suizidgedanken überwindet, weil ihr andere den Weg zurück ins Leben zeigen. Berichte über bewältigte Krisen, über die Wirksamkeit von Therapien und über die vielen Hilfsangebote können nachweislich Leben retten.
Und diese Hilfsangebote sind vielfältiger und zugänglicher als je zuvor. Neben der unschätzbar wichtigen Telefonseelsorge sind in den letzten Jahren fantastische, innovative Projekte entstanden, die genau dort ansetzen, wo die Not am größten ist:
[U25] Deutschland: Eine absolut geniale Idee! Hier beraten ehrenamtliche, geschulte junge Menschen zwischen 16 und 25 Jahren Gleichaltrige in Krisen. Anonym, kostenlos und per E-Mail. Sie sprechen die Sprache der jungen Generation und überwinden die Hürde, zum Telefonhörer greifen zu müssen.
Youth-Life-Line: Verfolgt einen ähnlichen Peer-to-Peer-Ansatz und zeigt, wie groß der Bedarf an solchen niedrigschwelligen Angeboten ist.
Lokale Krisendienste: In vielen Städten gibt es sozialpsychiatrische Dienste oder Kriseninterventionszentren, die rund um die Uhr erreichbar sind und im Notfall auch vor Ort helfen.
Diese Initiativen zeigen: Hilfe ist möglich, und sie wirkt. Sie beweisen, dass Verbindung das stärkste Mittel gegen die Isolation ist, die der Verzweiflung den Boden bereitet. Und genau hier möchte ich dich einladen: Was denkst du darüber? Vielleicht hast du eigene Erfahrungen oder Gedanken, die du teilen möchtest. Lass uns die Kommentarspalte nutzen, um diesen wichtigen Dialog zu führen. Und wenn dieser Beitrag dich berührt oder zum Nachdenken angeregt hat, zeig es mit einem Like.
Wir stehen an einem Scheideweg. Die Debatte um den assistierten Suizid hat eine neue, komplexe Dimension eröffnet und unterstreicht die Dringlichkeit, die Prävention massiv zu stärken. Denn eine freie Entscheidung kann nur treffen, wer auch eine echte, lebenswerte Alternative hat. Es braucht ein nationales Suizidpräventionsgesetz, das die Hilfsstrukturen finanziell absichert und koordiniert. Es braucht uns alle – als Freunde, Familienmitglieder, Kollegen und als Gesellschaft. Wir müssen lernen, die feinen Risse im scheinbar Starken zu sehen, das Zögern in einem "Mir geht's gut" zu hören und den Mut zu haben, nachzufragen. Nicht nur einmal, sondern immer wieder. Denn die Antwort auf die stille Epidemie ist nicht Schweigen. Sie ist das genaue Gegenteil: ein lautes, mutiges, mitfühlendes Gespräch.
Für mehr tägliche Denkanstöße, Blicke hinter die Kulissen und eine Community, die neugierig bleibt, folge uns doch auf unseren Kanälen.
#Suizidprävention #MentaleGesundheit #PsychischeGesundheit #RedeDarüber #Hilfe #Gesellschaft #Psychologie #PublicHealth #Männergesundheit #Wissenschaftskommunikation
Verwendete Quellen:
Suizide in Deutschland 2023 - Nationales Suizidpräventionsprogramm - https://www.naspro.de/dl/Suizidzahlen2023.pdf
Suizide in Deutschland - Statistisches Bundesamt - https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Todesursachen/Tabellen/suizide.html
Präventionstag gegen Suizid: Jeder 100. Todesfall in Deutschland ist ein Suizid - Statistisches Bundesamt - https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/09/PD24_N046_23211.html
Suizide in Deutschland: Ergebnisse der amtlichen Todesursachenstatistik - PMC - https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC8732928/
Suizide in Deutschland 2022 - Nationales Suizidpräventionsprogramm - https://www.naspro.de/dl/Suizidzahlen2022.pdf
Liste der deutschen Bundesländer nach Suizidrate – Wikipedia - https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_deutschen_Bundesl%C3%A4nder_nach_Suizidrate
Geschlechterunterschiede bei Suizid und Suizidalität/Fachartikel - GenderMed-Wiki - https://gendermedwiki.uni-muenster.de/mediawiki/index.php/Geschlechterunterschiede_bei_Suizid_und_Suizidalit%C3%A4t/Fachartikel
Journal of Health Monitoring | 3/2017 | Depressive symptoms among adults - RKI - https://www.rki.de/EN/News/Publications/Journal-of-Health-Monitoring/GBEDownloadsJ/FactSheets_en/JoHM_03_2017_Prevalence_depressive_symptoms.pdf?__blob=publicationFile&v=1
Die Psychodynamik der Suizidalität - springermedizin.at - https://www.springermedizin.at/die-psychodynamik-der-suizidalitaet/17407552
[U25] Mailberatung und Hilfe für Jugendliche mit Suizidgedanken - u25-deutschland.de - https://www.u25-deutschland.de/
"Hilfe bei Suizidgedanken und Krisen - Anonyme Onlineberatung von Jugendlichen für Jugendliche | Youth-Life-Line" - https://www.youth-life-line.de/
TelefonSeelsorge® Deutschland - https://www.telefonseelsorge.de/
Hinweis für medialen Umgang mit Suiziden - telefonseelsorge-ostwestfalen.de - https://www.telefonseelsorge-ostwestfalen.de/presse/hinweis-fuer-medialen-umgang-mit-suiziden/
Entscheidung finden - Urteil vom 26. Februar 2020 - Bundesverfassungsgericht - https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/02/rs20200226_2bvr234715.html
Vorschläge der Diakonie für ein Suizidpräventionsgesetz - Diakonie Deutschland - https://www.diakonie.de/informieren/infothek/2024/august/vorschlaege-der-diakonie-fuer-ein-suizidpraeventionsgesetz
Nationales Suizidpräventionsprogramm für Deutschland: NaSPro - https://www.suizidpraevention.de/








































































































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