Mehr als nur Moral: Wie Alasdair MacIntyre uns hilft, das gute Leben neu zu denken
- Benjamin Metzig
- 23. Juni
- 7 Min. Lesezeit

Stellt euch vor, ihr steht an einer Weggabelung. Die Schilder sind verwittert, die Pfade kaum noch erkennbar. Das eine Schild verspricht den gewohnten Weg, den alle gehen, gespickt mit lauten Meinungen und hitzigen Debatten, die oft im Nichts enden. Das andere Schild, fast schon überwuchert, flüstert von einer alten Weisheit, von Tugend und einem tieferen Sinn. Genau an solch einer metaphorischen Kreuzung scheint unsere moderne Gesellschaft oft zu stehen, und ein Denker, der uns unglaublich scharfsinnige Wegweiser hinterlassen hat, ist Alasdair MacIntyre. Sein Name ist vielleicht nicht jedem sofort ein Begriff, aber seine Gedanken über den Zustand unserer Moral und die Suche nach einem guten Leben sind heute – vielleicht mehr denn je – von brennender Aktualität. Auch wenn MacIntyre uns im Mai 2025 verlassen hat, hallt sein Ruf nach einer Rückbesinnung auf die Tugend kraftvoll nach und lädt uns ein, die Landkarte unserer Werte neu zu zeichnen. Lasst uns gemeinsam auf eine Entdeckungsreise gehen und herausfinden, was sein Erbe für uns bedeuten kann!
Wer war dieser Mann, der unsere Moral so aufrütteln wollte?
Alasdair Chalmers MacIntyre, geboren 1929 im schottischen Glasgow, war ein wahrhaftiger intellektueller Nomade. Seine philosophische Reise war gespickt mit bemerkenswerten Kehrtwenden – vom Marxismus über verschiedene Spielarten der analytischen Philosophie bis hin zu einer tiefen Verankerung im Aristotelismus und Thomismus nach seiner Konversion zum Katholizismus. Man spürt diesen "rastlosen Geist", der unermüdlich nach einem kohärenten und rational vertretbaren moralischen Kompass suchte. Über sieben Jahrzehnte prägte er die Debatten in Ethik und politischer Philosophie, lehrte an renommierten Universitäten und hinterließ ein Werk, das auch seine Kritiker als einzigartig anerkennen. Sein Meisterwerk, "After Virtue" (deutscher Titel: "Der Verlust der Tugend") von 1981, schlug ein wie eine Bombe! Es war nicht weniger als eine schonungslose Diagnose unserer modernen moralischen Verwirrung und ein leidenschaftliches Plädoyer für die Wiederbelebung der Tugendethik. Dieses Buch allein hat ganze Generationen von Philosophen, Theologen und Sozialwissenschaftlern inspiriert und herausgefordert.
Die Diagnose: Warum unsere moralischen Kompasse verrücktspielen
MacIntyre hatte eine ziemlich radikale These: Unsere moderne Art, über Moral zu diskutieren, ist grundlegend kaputt. Er sprach von einem Zustand "schwerer Unordnung", in dem ethische Urteile oft nicht mehr sind als Ausdruck persönlicher Gefühle oder Vorlieben. Kennt ihr das? Debatten, in denen die Fronten verhärtet sind, jeder auf seinem Standpunkt beharrt und ein echter, rationaler Austausch kaum noch möglich scheint? MacIntyre nannte dieses Phänomen "Emotivismus" – die Idee, dass moralische Aussagen im Grunde nur emotionale Zustimmungs- oder Ablehnungsbekundungen sind ("Abtreibung? Finde ich doof!" oder "Gerechter Krieg? Bin ich dafür!").
Aber wie sind wir da hineingeraten? MacIntyre sah die Wurzeln dieses Dilemmas im Scheitern des Aufklärungsprojekts. Die Aufklärer wollten die Moral auf eine rein rationale, von Gott und Tradition unabhängige Basis stellen. Ein hehres Ziel! Doch indem sie die Vorstellung eines übergeordneten Zwecks des menschlichen Lebens (eines Telos, wie die alten Griechen sagten) und die in Traditionen verankerten Verständnisse von Tugend über Bord warfen, zogen sie der Moral, so MacIntyre, den Boden unter den Füßen weg. Übrig blieben Fragmente – einzelne moralische Begriffe wie "Recht", "Pflicht" oder "Gerechtigkeit", losgelöst von dem ursprünglichen Kontext, der ihnen Sinn und Richtung gab. Er verglich das mal mit einer Katastrophe, nach der von der Wissenschaft nur noch Bruchstücke von Formeln und Theorien übrig sind, aber niemand mehr weiß, wie sie zusammenhängen oder angewendet werden. Ein ziemlich düsteres Bild, oder? Aber wenn man sich die oft unversöhnlichen Debatten unserer Zeit anschaut, gewinnt es eine beunruhigende Klarheit.
Wenn euch diese tiefgründigen Überlegungen genauso packen wie mich und ihr Lust auf mehr solcher intellektuellen Abenteuer habt, dann tragt euch unbedingt für meinen monatlichen Newsletter ein – das Formular findet ihr ganz oben auf der Seite! Dort teile ich regelmäßig Entdeckungen aus Wissenschaft, Geschichte und Philosophie, die zum Nachdenken anregen.
Die Therapie: Eine Rückkehr zur Tugend – aber wie?
MacIntyres Antwort auf diese moralische Misere ist kein simpler Ruf nach "mehr Moral", sondern ein komplexes philosophisches Programm: die Rückbesinnung auf eine Tugendethik, wie sie vor allem Aristoteles und später Thomas von Aquin entwickelt haben. Aber was bedeutet das konkret? Hier sind einige Kernideen, die einfach faszinierend sind:
Das Telos – Das Ziel des menschlichen Lebens: Im Zentrum steht die Idee, dass menschliches Leben auf ein Ziel ausgerichtet ist – das menschliche Gedeihen, ein erfülltes, gutes Leben. Tugenden sind dann jene Charaktereigenschaften, die uns helfen, dieses Ziel zu erreichen. Nicht einfach Regeln befolgen, sondern ein guter Mensch werden!
Praktiken und ihre inneren Güter: MacIntyre betont die Bedeutung von "Praktiken". Das sind komplexe, kooperative menschliche Tätigkeiten mit eigenen Standards und Zielen – von der Landwirtschaft über die Kunst bis hin zur Wissenschaft oder dem Schachspiel. Innerhalb dieser Praktiken gibt es "interne Güter" zu entdecken – Dinge, die nur durch die engagierte Teilnahme an der Praxis selbst erreicht werden können (z.B. die Freude am perfekten Schachzug, die Heilung eines Patienten, das tiefe Verständnis eines philosophischen Arguments). Diese stehen im Gegensatz zu "externen Gütern" wie Geld, Macht oder Ansehen, die zwar oft Begleiterscheinungen sind, aber die Praxis korrumpieren können, wenn sie zum Hauptziel werden. Denkt mal darüber nach, wie oft in unserer Welt externe Güter die internen verdrängen!
Die narrative Einheit des Lebens: Unser Leben ist für MacIntyre nicht nur eine Aneinanderreihung von Momenten, sondern eine Art Geschichte, eine "Suche" nach dem Guten. Unsere Identität entfaltet sich in dieser Erzählung. Die Frage "Was soll ich tun?" lässt sich erst beantworten, wenn wir fragen: "Zu welcher Geschichte gehöre ich?" Das gibt unserem Handeln einen Rahmen und eine Richtung.
Tradition als lebendiges Gespräch: Moral ist für MacIntyre nichts, was jeder für sich allein erfinden kann. Sie ist eingebettet in "Traditionen" – langanhaltende, historisch gewachsene Debatten darüber, was das gute Leben ausmacht und wie es erreicht werden kann. Tradition ist hier nicht als starres Festhalten am Alten missverstanden, sondern als ein lebendiger Strom von Argumenten und Einsichten, der uns trägt und den wir weiterentwickeln.
Das ist harter Tobak, oder? Aber auch unglaublich erhellend, finde ich! Wie seht ihr das? Lasst mir unbedingt einen Like da, wenn euch dieser Ausflug in MacIntyres Gedankenwelt gefallen hat, und teilt eure Überlegungen in den Kommentaren! Mich würde brennend interessieren, welche "Praktiken" in eurem Leben eine Rolle spielen oder wie ihr die Idee der "narrativen Einheit" eures Lebens interpretiert.
MacIntyres Erbe für das 21. Jahrhundert: Mehr als nur Philosophie?
Was fangen wir nun mit diesen Ideen an? Ich glaube, MacIntyres Denken ist ein unglaublich wertvolles Werkzeug, um unsere heutige Welt besser zu verstehen und vielleicht sogar ein Stückchen besser zu machen:
Politik und Gemeinschaft: Seine Kritik am modernen Nationalstaat, der oft mehr einer Arena für Interessenskonflikte gleicht als einem Ort echter gemeinsamer Beratung, ist provokant. Er plädierte für kleinere, lokale Gemeinschaften, in denen Bürger wirklich teilhaben und gemeinsam nach dem Guten suchen können. In Zeiten von politischer Polarisierung und gefühlter Ohnmacht ein wichtiger Denkanstoß!
Wirtschaftsethik: Seine Unterscheidung von internen und externen Gütern ist ein Skalpell, mit dem man die moderne Wirtschaft analysieren kann. Wenn Profitmaximierung (externes Gut) zum alleinigen Ziel wird, leiden dann nicht oft die Qualität der Arbeit, die Zufriedenheit der Mitarbeiter und der eigentliche Zweck eines Unternehmens (interne Güter)?
Bildung und Gesundheitswesen: Auch hier liefert MacIntyre Zündstoff. Sind Schulen nur Ausbildungsstätten für den Arbeitsmarkt oder Orte, an denen Tugenden und kritisches Denken gefördert werden? Ist Medizin nur eine technische Dienstleistung oder eine Praxis der Fürsorge, die auf Vertrauen und bestimmten ärztlichen Tugenden beruht?
MacIntyres Ruf nach Tugend ist kein nostalgischer Rückfall in vergangene Zeiten. Es ist ein Aufruf, uns wieder auf das zu besinnen, was menschliches Leben und Zusammenleben wirklich wertvoll macht: das Streben nach Exzellenz in dem, was wir tun, die Kultivierung eines guten Charakters, die Suche nach einem Sinn, der über den Moment hinausgeht, und das Engagement in Gemeinschaften, die von gemeinsamen Werten getragen werden.
Sein Werk ist keine leichte Lektüre, aber die Auseinandersetzung damit ist ungemein bereichernd. Es fordert uns heraus, über den Tellerrand unserer alltäglichen Annahmen zu blicken und die tiefen Strömungen zu erkennen, die unsere moralischen Landschaften formen. Und wer weiß, vielleicht finden wir in seinen Gedanken ja doch den einen oder anderen Wegweiser, der uns hilft, die verwitterten Schilder an unserer eigenen Lebenskreuzung besser zu deuten. Was meint ihr, ist die "Rückkehr zur Tugend" eine Utopie oder eine Notwendigkeit für unsere Zeit?
Für noch mehr Denkanstöße, Updates und den Austausch mit einer neugierigen Community, folgt mir doch auch auf meinen Social-Media-Kanälen:
Ich freue mich darauf, mit euch weiterzudiskutieren!
#AlasdairMacIntyre #Tugendethik #Philosophie #ModerneKritik #Moral #Ethik #AfterVirtue #GutesLeben #Gemeinschaft #Sinnsuche
Verwendete Quellen:
Alasdair MacIntyre, professor emeritus, philosophy - NDWorks - University of Notre Dame - https://ndworks.nd.edu/news/alasdair-macintyre-professor-emeritus-philosophy/
Obituary for Alasdair Chalmers MacIntyre | Kaniewski Funeral Homes, Inc. - https://www.kaniewski.com/obituary/AlasdairChalmers-MacIntyre
Alasdair MacIntyre Leaves a Legacy to Wrestle With - Jacobin - https://jacobin.com/2025/05/alasdair-macintyre-modernity-morality-obituary
In memoriam: Alasdair MacIntyre - Love of All Wisdom - https://loveofallwisdom.com/blog/2025/05/in-memoriam-alasdair-macintyre/
Alasdair MacIntyre | Philosophy, Ethics, Marxism, & Religion ... - Britannica - https://www.britannica.com/biography/Alasdair-MacIntyre
The Winding Road that Alasdair MacIntyre Has Traveled | The Russell Kirk Center - https://kirkcenter.org/reviews/the-winding-road-that-alasdair-macintyre-has-traveled/
Alasdair Macintyre: Philosopher of the Ages | The Russell Kirk Center - https://kirkcenter.org/reviews/macintyre-philosopher-of-the-ages/
Remembering Alasdair MacIntyre (1929-2025) - Word on Fire - https://www.wordonfire.org/articles/remembering-alasdair-macintyre-1929-2025/
MacIntyre Against Modernity (Fall '24) — The Morningside Institute - https://morningsideinstitute.org/macintyre-against-modernity/
Reading Alasdair MacIntyre's “After Virtue” in Modern New York - Merion West - https://www.merionwest.com/reading-alasdair-macintyres-after-virtue-in-modern-new-york/
MacIntyre | Internet Encyclopedia of Philosophy - https://iep.utm.edu/mac-over/
Alasdair MacIntyre | EBSCO Research Starters - https://www.ebsco.com/research-starters/biography/alasdair-macintyre
After Virtue - Wikipedia - https://en.wikipedia.org/wiki/After_Virtue
Alasdair Macintyre's Aristotelian Business Ethics: A Critique - Digital Commons - https://digitalcommons.calpoly.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1002&context=fin_fac
After Virtue by Alasdair MacIntyre | EBSCO Research Starters - https://www.ebsco.com/research-starters/literature-and-writing/after-virtue-alasdair-macintyre
Alasdair MacIntyre - Wikipedia - https://en.wikipedia.org/wiki/Alasdair_MacIntyre
Review: Alasdair MacIntyre's “After Virtue” - words and dirt - https://www.words-and-dirt.com/words/review-alasdair-macintyres-after-virtue/
“Practical Reason and Teleology: MacIntyre's Critique of Modern ... - https://gcallah.github.io/Rationalism/AntiRats/drafts/MacIntyre.pdf
MacIntyre on Personal Identity - Public Reason - https://www.publicreason.ro/pdfa/47
Reflections on Alasdair MacIntyre - Front Porch Republic - https://www.frontporchrepublic.com/2025/06/reflections-on-alasdair-macintyre/
Alasdair MacIntyre and the Cultural Relativity of Virtues - Philosophy Institute - https://philosophy.institute/ethics/alasdair-macintyre-cultural-relativity-virtues/
The Teacher as the Forlorn Hope of Modernity: MacIntyre on ... - Cairn - https://shs.cairn.info/revue-internationale-de-philosophie-2013-2-page-183?lang=en
Human Flourishing in the Philosophical Work of Alasdair MacIntyre - Journal of Philosophy and Theology - https://ijpt.thebrpi.org/journals/ijpt/Vol_2_No_2_June_2014/12.pdf
Alasdair MacIntyre on the division of goods and “the ... - Frontiers - https://www.frontiersin.org/journals/sociology/articles/10.3389/fsoc.2022.986184/full
Tradition-based Rationality - eCommons - University of Dayton - https://ecommons.udayton.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1069&context=rel_fac_pub
Alasdair MacIntyre's writings on medicine and ... - Revista Bioética - https://revistabioetica.cfm.org.br/revista_bioetica/article/download/1872/2255/15463
www.publicreason.ro - https://www.publicreason.ro/pdfa/47#:~:text=Whatallows%20MacIntyre%20to%20maintain%20that,is%20demanded%20by%20the%20narration.
The Return of Virtue to Ethical Medical Decision Making - PMC - https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC6027080/
Alasdair MacIntyre | Issue 13 - Philosophy Now - https://philosophynow.org/issues/13/Alasdair_MacIntyre
Philosophy of Education - Stanford Encyclopedia of Philosophy - https://plato.stanford.edu/entries/education-philosophy/
Comments